Am Feste Mariä Lichtmeß

[580] Durch die Gassen geht Maria,

In dem Arm den Sohn, den lieben,

Hält ihn fest, und hält ihn linde,

Und ihr Auge schaut auf ihn;

Wie die Englein ihn gesungen,

Ihn die Hirten angebetet,

Huldigten die grauen Weisen,

Läßt sie still vorüberziehn.


Aber Josef ihr zur Seiten

Ist in Sorgfalt ganz befangen,

Prüfend frägt er alle Steine,

Ob ihr Fuß zu kühn sich wagt;

Weiß nicht was er wird erleben,

Aber wunderbare Dinge

Haben aus des Kindleins Augen

Sich ihm heimlich angesagt.


O Maria, Mutter Christi,

Nicht zu dir will ich mich wagen,

Denn du bist mir viel zu helle,

Meine Seel' ergraut vor dir,

Bist mir fast wie zum Entsetzen

In der fleckenlosen Reine,

Die du siegreich hast bewahret,

Da du wandeltest gleich mir.


Will viel lieber vor dein Kindlein

Treten, weinend und zerschlagen.

Ist er wohl mein Herr und Richter,

Und du stehst mir minder weit,

Einer Torheit muß ich zollen,

Soll ich nicht in Furcht zerstäuben,

Hat er doch nicht überwunden,

Ist der Held von Ewigkeit!
[580]

Liebster Herr, du hast geschaffen

Meine arme kranke Seele,

Wie den Reiz, den vielgestalten,

Der auf breite Straßen führt;

Und du weißt, daß wie vor andern

Frischer Hauch in meiner Seele,

So mich auch vor andern glühend

Jede Erdenlust berührt!


Hast du mir zu reichen Kräften

Auch ein reiches Amt verliehen,

Reiche Güter zu verwalten

Und ein hohes, reiches Schloß,

Und nun liegt es in Zerstörung,

Graunvoll in der öden Größe,

Wie ein knöchern Ungeheuer,

Wie ein toter Meerkoloß.


Und da ich nach vielen Tagen,

Sonder Glauben, voll der Liebe,

Angstvoll prüfte seine Mauern,

Siehe da, sie standen fest!

O mein Herr willst du mich hören,

Auftun deine Gnadenschätze,

Sieh ich will getreulich bauen

Meines Lebens trüben Rest.


Muß mein Haus gleich stehen eine

Öde warnende Ruine,

Ach, nur dort mag sich gestalten,

Was so rettungslos zerstört.

Kann ich nur ein Stübchen bauen,

Ausgeschmückt mit stillen Werken,

Wo ich, Herr, dich kann bewirten,

Wenn du bei mir eingekehrt.


Aus den Hallen tritt Maria,

In dem Arm den Sohn, den lieben,[581]

Hält ihn fest und halt ihn linde,

Und auf ihm ihr Auge ruht.

O sie hat das Glück getragen

Durch neun wonnevolle Monde;

Was verkündet jene Frommen,

Trug sie längst im glühnden Mut.


Aber Josef stillen Schrittes,

Tritt nicht mehr an ihre Seite,

Da das liebe, liebe Kindlein

Nun der Herr der ganzen Welt,

Doch wie höher steigt die Sonne,

Schleicht er leis an ihre Schulter,

Und er zupft an ihrem Mantel,

Daß der Schleier niederfällt.


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 580-582.
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