Am Karsamstage

[616] Tiefes, ödes Schweigen,

Die ganze Erd' wie tot!

Die Lerchen ohne Lieder steigen,

Die Sonne ohne Morgenrot.

Auf die Welt sich legt

Der Himmel matt und schwer,

Starr und unbewegt,

Wie ein gefrornes Meer.

O Herr, erhalt' uns!


Meereswogen brechen,

Sie toben sonder Schall;

Nur die Menschenkinder sprechen,

Doch schaurig schweigt der Widerhall.

Wie versteinet steht

Der Äther um uns her;

Dringt wohl kein Gebet

Durch ihn zum Himmel mehr.

O Herr, erhalt'uns!


Sünden sind geschehen,

Für jedes Wort zu groß,

Daß die Erde müßt' vergehen,

Trüg' sie nicht Jesu Leib im Schoß.

Noch im Tod voll Huld

Erhält sein Leib die Welt,

Daß in ihrer Schuld

Sie nicht zu Staub zerfällt.

O Herr, verschon' uns!


Jesus liegt im Grabe,

Im Grabe liegt mein Gott!

Was ich von Gedanken habe,

Ist doch dagegen nur ein Spott.[616]

Kennt in Ewigkeit

Kein Jesus mehr die Welt?

Keiner der verzeiht,

Und keiner der erhält?

O Herr, errett' uns!


Ach, auf jene Frommen,

Die seines Heils geharrt,

Ist die Glorie gekommen

Mit seiner süßen Gegenwart.

Harrten seiner Huld:

Vergangenheit die Zeit,

Gegenwart Geduld,

Zukunft die Ewigkeit.

O Herr, erlös' uns!


Lange, lange Zeiten

In Glauben und Vertraun,

Durch die unbekannten Weiten

Nach unbekanntem Heil sie schaun.

Dachten sich so viel,

Viel Seligkeit und Pracht.

Ach, es war wie Spiel,

Von Kindern ausgedacht.

O Herr, befrei' uns!


Herr, ich kann nicht sprechen

Vor deinem Angesicht!

Laß die ganze Schöpfung brechen,

Diesen Tag erträgt sie nicht.

Ach, was naht so schwer,

Ist es die ew'ge Nacht,

Ist's ein Sonnenmeer,

In tausend Strahlen Pracht?

O Herr, erhalt' uns!
[617]

Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 616-618.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aischylos

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.

114 Seiten, 4.30 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon