Am ersten Sonntage im Advent

[697] Ev.: Einritt Jesu in Jerusalem.

»Saget der Tochter Sions: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig.« – »Hosanna dem Sohne Davids, gelobt sei der da kömmt im Namen des Herrn!«


Du bist so mild,

So reich an Duldung, liebster Hort,

Und mußt so wilde Streiter haben;

Dein heilig Bild

Ragt überm stolzen Banner fort,

Und deine Zeichen will man graben

In Speer und funkensprühnden Schild.


Mit Spott und Hohn

Gewaffnet hat Parteienwut,

Was deinen sanften Namen träget,

Und klirrend schon[697]

Hat in des frommsten Lammes Blut

Den Fehdehandschuh man geleget,

Den Zepter an die Dornenkron'.


So bleibt es wahr,

Was wandelt durch des Volkes Mund,

Daß wo man deinen Tempel schauet

So mild und klar,

Dicht neben den geweihten Grund

Der Teufel seine Zelle bauet,

Sich wärmt die Schlange am Altar.


Wenn Stirn an Stirn

Sich drängen mit verwirrtem Schrei

Die Kämpfer um geweihte Sache,

Wenn in dem Hirn

Mehr schwindelt von der Welt Gebäu,

Von Siegesjubel, Ehr' und Rache

Mehr zähe Mottenfäden schwirrn


Als stark und rein

Der Treue Nothemd weben sich

Sollt', von des Herzens Schlag gerötet:

Wer denkt der Pein

Durchzuckend wie mit Messern dich,

Als für die Kreuz'ger du gebetet!

O Herr sind dies die Diener dein?


Wie liegt der Fluch

Doch über allen, deren Hand

Noch rührt die Sündenmutter Erde!

Ist's nicht genug,

Daß sich der Flüchtling wärmt am Brand

Der Hütte? muß auf deinem Herde

Die Flamme schürn unsel'ger Trug?


Wer um ein Gut

Der Welt die Sehnsucht sich verdarb,[698]

Den muß der finstre Geist umfahren:

Doch was dein Blut,

Dein heilig Dulden uns erwarb:

Das sollten knieend wir bewahren

Mit starkem aber reinem Mut.


Allmächt'ger du!

In dieser Zeit, wo dringend not

Daß rein dein Heiligtum sich zeige,

O laß nicht zu

Daß Lästerung, die lauernd droht,

Verschütten darf des Hefens Neige

Und, ach, den klaren Trank dazu!


Laß alle Treu'

Und allen standhaft echten Mut

Aufflammen, immer licht und lichter;

Kein Opfer sei

Zu groß für ein unschätzbar Gut

Und deine Scharen mögen dichter

Und dichter treten Reih' an Reih'.


Doch ihr Gewand

Sei weiß, und auf der Stirne wert

Soll keine Falte düster ragen;

In ihrer Hand –

Und faßt die Linke auch das Schwert –

Die Rechte soll den Ölzweig tragen,

Und aufwärts sei der Blick gewandt.


So wirst du früh

Und spät, so wirst du einst und heut

Als deine Streiter sie erkennen;

Voll Schweiß und Müh',

Demütig, standhaft, friedbereit,

So wirst du deine Scharen nennen

Und Segen strömen über sie.
[699]

Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 697-700.
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