Aus hohen Bergen

Nachgesang

[757] O Lebens Mittag! Feierliche Zeit!

O Sommergarten!

Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten: –

Der Freunde harr ich, Tag und Nacht bereit,

Wo bleibt ihr, Freunde? Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!


Wars nicht für euch, daß sich des Gletschers Grau

Heut schmückt mit Rosen?

Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stoßen

Sich Wind und Wolke höher heut ins Blau,

Nach euch zu spähn aus fernster Vogel-Schau.


Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt –

Wer wohnt den Sternen

So nahe, wer des Abgrunds grausten Fernen?

Mein Reich – welch Reich hat weiter sich gereckt?

Und meinen Honig – wer hat ihn geschmeckt?...


– Da seid ihr, Freunde! – Weh, doch ich bins nicht,

Zu dem ihr wolltet?

Ihr zögert, staunt – ach, daß ihr lieber grolltet!

Ich – bins nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht?

Und was ich bin, euch Freunden – bin ichs nicht?


Ein andrer ward ich? Und mir selber fremd?

Mir selbst entsprungen?

Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen?

Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt,

Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt?


Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht?

Ich lernte wohnen,[757]

Wo niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,

Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet?

Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht?


– Ihr alten Freunde! Seht! Nun blickt ihr bleich,

Voll Lieb und Grausen!

Nein, geht! Zürnt nicht! Hier – könntet ihr nicht hausen:

Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich –

Hier muß man Jäger sein und gemsengleich.


Ein schlimmer Jäger ward ich! – Seht, wie steil

Gespannt mein Bogen!

Der Stärkste wars, der solchen Zug gezogen – –:

Doch wehe nun! Gefährlich ist der Pfeil,

Wie kein Pfeil, – fort von hier! Zu eurem Heil!...


Ihr wendet euch? – O Herz, du trugst genung,

Stark blieb dein Hoffen:

Halt neuen Freunden deine Türen offen!

Die alten laß! Laß die Erinnerung!

Warst einst du jung, jetzt – bist du besser jung!


Was je uns knüpfte, einer Hoffnung Band –

Wer liest die Zeichen,

Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen?

Dem Pergament vergleich ichs, das die Hand

Zu fassen scheut – ihm gleich verbräunt, verbrannt.


Nicht Freunde mehr, das sind – wie nenn ichs doch? –

Nur Freunds-Gespenster!

Das klopft mir wohl noch nachts an Herz und Fenster,

Das sieht mich an und spricht: »wir warens doch?«

– O welkes Wort, das einst wie Rosen roch!


O Jugend-Sehnen, das sich mißverstand!

Die ich ersehnte,[758]

Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte,

Daß alt sie wurden, hat sie weggebannt:

Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.


O Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit!

O Sommergarten!

Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!

Der Freunde harr ich, Tag und Nacht bereit,

Der neuen Freunde! Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!


Dies Lied ist aus – der Sehnsucht süßer Schrei

Erstarb im Munde:

Ein Zaubrer tats, der Freund zur rechten Stunde,

Der Mittags-Freund – nein! fragt nicht, wer es sei –

Um Mittag wars, da wurde Eins zu Zwei...


Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiß,

Das Fest der Feste:

Freund Zarathustra kam, der Gast der Gäste!

Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riß,

Die Hochzeit kam für Licht und Finsternis...[759]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2.
Lizenz:
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