Die Letten

[393] Die Letten, ein Völkerstamm, der ehedem ganz Liefland und Esthland, Curland, Semgallen und zum Theil Litthauen und Ingermanland eigenthümlich besaß, seine eigne Sprache, Sitten und Gewohnheiten hatte, und unter einzelnen kleinen Fürsten zerstreut in Dörfern lebte. Sie waren tapfer und arbeitsam, und zeigten ungeachtet der äußerst niedrigen Stufe der Cultur, auf der sie standen, doch die herrlichsten Anlagen zu einem großen und mächtigen Volke. Sie waren Heiden; – dieß war einigen Bremischen Kaufleuten, die im 12. Jahrhundert bei ihnen an der Mündung der Düng ankamen, so wie dem bald darauf in Liefland und Curland gestifteten Orden der Schwertbrüder und den Pohlen in Litthauen Rechtsgrund genug, sie mit Gewalt zur allein seligmachenden Lehre zu bekehren, durch Feuer und Schwert ihrer Länder zu berauben und in die drückendste Sclaverei zu stürzen. – Wir wollen, mit Verlassung der Geschichte der von Letten bewohnten Länder, welche unter andre Artikel gehört, die jetzige höchst traurige Lage dieses Völkerstammes betrachten, welcher jetzt ganz unter Russischem Zepter steht, aber nicht sowohl unter dem Druck der Krone, als unter der unumschränkten Gewalt des Adels seufzt, gegen den bis jetzt alle Russische Verordnungen, selbst die neuesten von Catharina II. in den Jahren 1765 und 1795 an den Liefländischen Adel, wenig oder gar nichts ausrichten konnten. Zwar treffen unsre Bemerkungen besonders Liefland und Ehstland, als die wichtigsten und bekanntesten Länder der Letten; aber ihr Verhältniß ist in den übrigen von ihnen bewohnten Ländern beinahe ganz das nehmliche. Die meisten Letten lebten auf dem Lande; und nur die in den Städten wohnenden blieben von den Bedrückungen des Adels frei, [393] welcher sich meist aus Deutschland nach Liefland wendete. Die unglücklichen Dorfbewohner wurden Leibeigne, behielten nichts als elende Hütten, und leben in der größten Armuth, da der Adel ihnen alles Vermögen raubte und sie zu den härtesten Frohnen anhielt, die sich noch jetzt auf gar kein Gesetz gründen, und eine ganze Woche um die andre sogar auf viele Meilen von einander liegenden Gütern geleistet werden müssen. Dazu kommen noch die außerordentlichen Frohnen, die beinahe alle Tage im Jahre einnehmen, so daß dem Bauer (der seine Hütte nicht einmahl eigenthümlich besitzt, sondern sie zu jeder Zeit, wenn es dem Herrn beliebt, hergeben muß) fast kein Augenblick zur Bebauung seiner Felder übrig bleibt. Selbst dann, wenn die Ernten am ergiebigsten sind, ist ihr ganzer Vorrath mitten im Winter schon aufgezehrt; und der Großherr (so nennt man hier den Ritterguts-Besitzer) schießt ihnen, da sie sonst verhungern würden, mit anscheinender Milde Getreide vor, um es nach der Ernte mit Wucher zurückfordern zu können. Uberdieß müssen die schwersten Naturallieferungen entrichtet werden; und, was das empörendste ist, kein Tag im Jahre, den Abend des Johannisfestes ausgenommen, wird den Unglücklichen zu einem Freudenfeste vergönnt. Auch die Pfarrer, die selbst Leibeigne haben, verbinden sich mit den Gutsbesitzern zum Druck ihrer Unterthanen; und wenn ja einer dieser Elenden aus Verzweiflung eine Klage bei der Obrigkeit einzureichen wagt, so wird sie fast jedes Mahl veworfen, und der Kläger auf dem Hofe mit Geißelhieben bestraft, unter welchen schon viele den Geist aufgegeben haben. Ueberhaupt ahndet ihr Despot jedes kleine Verbrechen, ja selbst jede Widersetzlichkeit gegen seine eignen Schandthaten mit Ruthen und Peitschenhieben oder mit Verjagung vom geliehenen Gute; er verkauft seine Leibeignen öffentlich, oder läßt sie für Geld zu Rekruten anwerben; ja die Ermordung eines dieser Sclaven bleibt nicht selten ungeahndet. Für gute Prediger, Schul-Anstalten, Industrie und Aerzte ist nicht im geringsten gesorgt, einzelne Beispiele lobenswürdiger Adlicher ausgenommen, die jedoch immer noch sehr selten sind. Dieser Despotismus hat den Charakter der Letten unendlich verschlimmert. Sie sind kleinmüthig, einfältig, ohne allen Unternehmungsgeist, abergläubisch, gegen [394] ihre Großherren kriechend und schmeichlerisch, dabei außerordentlich träge, bei jeder Gelegenheit widerspenstig und trotzig, dem Trunk ausschweifend ergeben, arglistig und Meister in Diebereien – lauter Früchte des Zwangs, der Geist und Herz verdarb. Alle diese Laster finden sich bei ihnen in geringerm Grade unter der Herrschaft milder Gutsbesitzer und unter den Kronbauern, deren Lage weit erträglicher ist. Schon oft haben sich, z. B. bei der Einführung der Kopfsteuer (1783), Unruhen gezeigt; doch der Muth der Elenden war zu sehr gelähmt, als daß sie viel ausgeführt hätten. Allein in den neuesten Zeiten, da die freiwilligen Aufopferungen einiger vortrefflichen Adlichen, besonders des Barons Schoulz von Ascheraden, und die von Catharina II. gegen den Liefländischen Adel erhobenen Untersuchungen den Leibeignen über seine bisher nicht gekannten Rechte belehrt haben, dürfte vielleicht kein Weg zur Dämpfung einer in der Asche glimmenden Empörung übrig sein, als freiwillige Verzichtleistung der Großen auf ihre bisherigen Forderungen. – Dank sei es dem patriotischen Eifer des Herrn Merkel, daß er in seinem lesenswürdigen Buche: Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts, Leipz. b. Gräff, 1797, 8. die Abscheulichkeiten des Liefländischen Adels freimüthig zur Schau aufgestellt, und die Mittel zur Verbesserung der Letten, seiner Landsleute, gezeigt hat. Möchten doch seine uneigennützigen Bemühungen durch die in Rußland über sein Werk ergangene Confiscation nicht vereitelt werden!

Quelle:
Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 2. Amsterdam 1809, S. 393-395.
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