Zweites Kapitel.

Strategie. Perikles.

[123] Die taktischen Verhältnisse haben sich, wie wir gesehen haben, in der Zeit von den Perserkriegen bis zum Peloponnesischen wenig verändert. Dennoch bietet dieser Krieg einen ganz anderen Anblick als jener. Der Perserkrieg wird wesentlich beherrscht durch die Ungleichheit der beiden Streitenden in Bewaffnung und Taktik. Im Peloponnesischen Krieg kämpfen Griechen gegen Griechen; ihre Bewaffnung und Taktik ist dieselbe, aber das Eigentümliche ist, daß die eine Partei zu Wasser ein ebenso großes Übergewicht hat, wie die andere zu Lande. Dadurch wird eine ganz neue Aufgabe strategischer Natur gestellt. Der Perserkrieg ist angelegt auf große Entscheidungen: er kann nicht anders enden, als daß der Großkönig binnen kurzem entweder die Griechen besiegt und unterjocht oder eine ungeheure Niederlage erleidet. Der Peloponnesische Krieg zieht sich siebenundzwanzig Jahre lang hin, bringt zu Lande wohl einige Schlachten, aber keine wirkliche Entscheidung und kommt erst zum Schluß, als besondere Verhältnisse auch der spartanischen Partei gestattet haben, sich zu einer der athenischen ebenbürtigen Seemacht zu entwickeln.

Als der Krieg ausbrach, konnte man sich auf keiner von beiden Seiten von dieser Entwicklung eine Vorstellung machen. Man lebte ausschließlich in dem Gedanken, daß das Übergewicht zu Lande hier, zur See dort so groß sei, daß der Schwächere es auf eine große taktische Entscheidung, auf eine Schlacht wie Salamis oder Platää, nicht ankommen lassen könne. Die Strategie war daher vor die neue eigenartige Aufgabe gestellt: den Krieg ohne Entscheidung, durch bloße Ermattung.[123]

Es ist eine der kompliziertesten, aber der häufigsten Erscheinungen der Weltgeschichte, die uns hiermit entgegentritt. In der Natur, im Begriff des Krieges liegt es, daß ein Gegner den andern zu packen und niederzuwerfen sucht, damit er ihn unter seinen Willen beuge. Alle Kräfte werden zu einem großen Schlage, einer Schlacht zusammengefaßt, die die Entscheidung bringen soll oder der weitere folgen, bis die Entscheidung erlangt ist. Die Aufgabe der Strategie ist, diese Entscheidung vorzubereiten und unter möglichst günstigen Verhältnissen herbeizuführen. Jetzt haben wir einen Krieg, und immer wieder werden wir solchen begegnen, die aus den verschiedensten Ursachen derartige Entscheidungen ausschließen. Dennoch sollen Mittel gefunden werden, den Willen des Gegners zu beugen und den politischen Zweck des Krieges zu erreichen.

Ganz ebenso wie bei Marathon, Thermopylä, Salamis Platää finden wir, daß das Hellenenvolk einen Mann hervorgebracht hat, der die neue Aufgabe in ihrer Tiefe begriff und mit klassischer Sicherheit löste.

Perikles, der Athener, erkannte, daß seine Stadt dem peloponnesisch-böotischen Bunde zu Lande nicht gewachsen sei, und zog daraus mit unerbittlicher Logik die Konsequenz, daß die ganze Landschaft Attika geräumt und dem feindlichen Heere überlassen werden müsse. »Wenn ich glaubte, euch überreden zu können, würde ich euch auffordern, selber euer Land zu verwüsten«, sagte er den Athenern. Die Landbevölkerung mußte sich in die Stadt und zwischen die langen Mauern, die die Stadt mit ihren Häfen Piräus und Phaleron verband, zurückziehen. Der Schaden aber, den nun die Feinde dem attischen Lande antaten, wurde ihnen vergolten, indem die athenische Flotte die feindlichen Küsten blockierte, den Handel aller gegnerischen Städte vernichtete und selber bald hier, bald dort landend und unvermutet auftretend, den feindlichen Landschaften denselben oder noch größeren Schaden zufügte, als sie selbst in Attika anrichteten. Was konnte bei solcher Kriegführung, die beinahe eine »Nicht-Krieg-Führung« zu nennen wäre, herauskommen? Eine niederschmetternde Entscheidung niemals – es kam darauf an, wer zuerst den Schmerz nicht länger ertragen konnte, wer zuerst ermattete. Man hätte eine Kriegführung[124] ohne Blutvergießen konstruieren können; aber so ganz war es denn doch nicht ausgeschlossen, daß auch scharfe Schläge einmal fielen, die viel dazu beitragen konnten, den Gegner zur Nachgiebigkeit zu stimmen. Wohl bedacht und mit weiser Erkenntnis fügte Perikles, als er den Athenern seinen Kriegsplan auseinandersetzte, dem Vorgesagten hinzu, daß man »die Gelegenheit, die nicht warte«, ergreifen müsse. Die Ermattungs-Strategie, die auf die absolute Entscheidung grundsätzlich verzichtet, bringt die Gefahr mit sich, daß die Feldherren gar zu vorsichtig werden. Jeder Krieg führt Zufälle herauf, die mit kühnem Mute ausgenutzt werden müssen. Aber ob es gelingt, ist immer eine Frage an das Schicksal. Der Feldherr weiß nie so genau, wie stark der Feind eigentlich ist, ob nicht Umstände mitspielen, die er nicht zu durchschauen vermag. Während man zaudert, erwägt, weiter untersucht – ist die Gelegenheit schon wieder entschlüpft und doppelt, zehnfach schwer findet der Feldherr den Entschluß zur Tat, wenn als das Grundprinzip des Krieges ihm verschwebt, daß nicht große Entscheidungen mit ihrem Wagnis, sondern die allmähliche Ermattung den Ausschlag geben soll. Erst der Fortgang unserer Darstellung bis in die neuere Zeit, der immer wieder zeigen wird, wie oft die Feldherren dieser Versuchung der Ermattungs-Strategie, sich gewagten Entscheidungen zu entziehen, erlegen sind, wird uns ganz verstehen lehren, wie bedeutsam jenes Wort des Perikles ist, daß trotz des allgemeinen Grundsatzes einer bloß ermattenden Kriegführung »die Gelegenheit, die nicht wartet«, wahrgenommen werden müsse.

Die Athener rechneten, daß Perikles als Feldherr neun Siege erfochten habe. Wir wissen von diesen Siegen zu wenig, um daraus auf Perikles strategische Begabung etwas schließen zu können, aber die Anlage des Peloponnesischen Krieges, verbunden mit der Nachricht von mehrfachen Schlacht-Siegen, nötigt uns, ihm nicht bloß unter den großen Staatsmännern, sondern auch unter den großen Feldherren der Weltgeschichte einen Platz anzuweisen. Nicht der Kriegsplan als solcher ist es, der ihm dieses Recht verleiht (denn den Ruhm des Feldherrn verleiht nicht der Rat, sondern die Tat), vielmehr die ungeheure Entschlußkraft, die dazu gehörte, nicht bei einer halben Maßregel stehen zu bleiben, sondern von vornherein,[125] was geopfert werden mußte, das ganze attische Land völlig preiszugeben, und dazu die Kraft der persönlichen Autorität, die es vermochte, einen solchen Entschluß einer demokratischen Volksversammlung begreiflich zu machen und bei ihr durchzusetzen. Die Durchführung dieses Entschlusses ist eine strategische Tat, die mit jedem Siege auf eine Stufe gestellt werden kann. 480 und 479 hatten die Athener vor den Persern ja nicht bloß das Land, sondern auch die Stadt geräumt: ein in sich noch großartigerer Entschluß, aber ganz anderer Natur. Es war eine Tat der Verzweiflung, als kein anderer Ausweg mehr übrig blieb, wenn man sich nicht unterwerfen wollte. Die Schlacht, in der man die Heimat wiedergewinnen wollte, sollte unmittelbar folgen. Im Peloponnesischen Kriege handelte es sich ebenfalls um eine unausweichliche Notwendigkeit, aber nicht eine, die der unmittelbare Augenschein, sondern die nur die überlegende strategische Erkenntnis offenbarte, und es handelte sich nicht um eine bloß augenblickliche Räumung, sondern um eine voraussichtlich jahraus jahrein auf lange Zeit zu wiederholende Aktion. Noch heute tauchen immer wieder gelehrte Klüglinge auf, die die Notwendigkeit jener Tat bestreiten und dadurch neues Zeugnis für die Geisteskraft des Perikles ablegen, der ein so schwer zu begreifendes Stratagem dem souveränen athenischen Volke aufzuerlegen vermochte.

Der Kriegsplan des Perikles ist von Athen lange Zeit durchgeführt worden, die ersten anderthalb Jahre, so lange Perikles die Stadt leitete, unter kluger und energischer Disponierung des Einzelnen, so daß die verschiedenen Unternehmungen gut ineinandergriffen; auch nach des Perikles Sturz und Tod mit nicht geringerer Kraft, aber ohne Zusammenhang im einzelnen, stoßweise, unter dem zufälligen Antriebe des Augenblicks, nach den Einfällen dieses oder jenes Redners. Trotzdem behauptete Athen die offenbare Überlegenheit über seine Gegner. Selbst die furchtbaren Verwüstungen der Pest, die ihm ein Viertel seiner Bürgerschaft raubte, brachen seine Kraft nicht, und endlich gab auch der fortgesetzte Kleinkrieg die »Gelegenheit« zu einem großen Schlage. 420 Lacedämonier wurden auf der Insel Sphakteria eingeschlossen, ein Teil getötet und der Rest, 292 Mann, darunter 120 Spartiaten, gefangen genommen.[126]

Mit diesem Erfolg, fünf Jahre nach dem Tode des Perikles, war sein Kriegsplan erfüllt. Man darf natürlich nicht als Zweck des Krieges setzen, daß Athen sich hätte ganz Griechenland unterwerfen sollen, in der Art, wie später Rom Italien. Daran hat weder Perikles noch ein anderer athenischer Staatsmann gedacht; dazu war Athen viel zu schwach; dazu hätte es nicht bloß große Landsiege erfechten, sondern zuletzt auch die feindlichen Städte Theben, Megara, Korinth belagern und einnehmen müssen. Es handelte sich in diesem Kriege für Athen nur, wie in modernen europäischen Kriegen, um Selbstbehauptung, Erhaltung des Gleichgewichts und größere oder geringere Ausdehnung der Machtsphäre.

Der Mangel eines fähigen, leitenden Staatsmannes nach Perikles Tode ließ Athen den Augenblick und die günstige Lage für einen vorteilhaften Friedensschluß versäumen. Aber selbst nachdem nun Athen durch den genialen spartanischen Feldherrn Brasidas bei Amphipolis eine Niederlage erlitten, konnte es noch einen Frieden schließen, in dem es seine Stellung voll behauptete, und mehr war ja im Grunde gar nicht notwendig.

Nach acht Jahren brach der Krieg von neuem aus, und jetzt verloren ihn die Athener, weil sie den Rat des Perikles in einem wesentlichen Punkt in den Wind geschlagen hatten. Perikles hatte gewarnt, »während des Krieges nicht neue Eroberungen zu machen.«

Schon im Jahre 424, geschwellt durch den Erfolg von Sphakteria, hatten sie einmal eine große Operation zu Lande geplant und dabei eine sehr schwere Niederlage (Delion) erlitten; sie verloren nicht weniger als 1000 Hopliten. Nach dem Friedensschluß aber, der doch immer nur ein Waffenstillstand war, unternahmen sie die Unterwerfung Siziliens und verloren dabei etwa 6000 Bürger63 mit einer großen Flotte und Ausrüstung. Das brachte den Umschwung. Jetzt wagten die Jonier, sich von Athen loszulösen, die Peloponnesier erschienen auf dem Meere und traten in Verbindung mit dem Perserkönig. Dieser Kombination war Athen nicht gewachsen, wurde endlich zur See besiegt und mußte sich unterwerfen.
[127]

1. Die Grundfrage bei der Beurteilung des Peloponnesischen Krieges ist natürlich, ob der Plan des Perikles richtig war, und die Antwort hängt nicht zum wenigsten von der Statistik ab. Wenn es wahr wäre, daß Athen damals 60000 Bürger hatte, während es bestehen bleibt, daß Lacedämon nicht mehr als 2-3000 Spartiaten und 9000 Periöken-Bürger zählte, so hätte Athen wohl eine Politik und Kriegführung nach der Weise Roms wagen können. Man sieht die fundamentale Bedeutung der richtigen Feststellung dieser trockenen Daten. An ihnen hängt die Beurteilung des Perikles und hieran wieder die des Thucydides. Die Autorität des größten aller Historiker ist unrettbar zerstört, eine Säule der griechischen Literatur ist umgestürzt – wenn jemand nachweist, daß Athen im Jahre 431 60000 Bürger gehabt hatte. Denn hat Thucydides den Perikles und seine Politik falsch beurteilt, dann dürfen wir seinem Urteil überhaupt nicht mehr trauen.

Glücklicherweise kann nun von alledem gar nicht die Rede sein. Daß die Athener bei Delion πανδημεί auszogen und doch nur 7000 Hopliten stark waren, ist in Verbindung mit allen anderen überlieferten Zahlen ein unwiderleglicher Beweis, daß Athen niemals 60000 Bürger gehabt haben kann.

Man darf annehmen, daß Athen außer den in der Rede des Perikles genannten 15800 Mann aus den Theten und Metöken noch vielleicht 8000 Mann hätte herausziehen und mit Hoplitenrüstung versehen können. Dazu hätte man noch einige Bündner einberufen und eine große Masse Söldner als Hopliten aufstellen können. Rechnet man ab, was an Besatzungen notwendig zurückbleiben und daß doch immer eine gewisse Zahl Trieren im Dienst bleiben mußte, so hätte Athen mit höchster Anstrengung wohl einmal ein Heer von 25000 Hopliten ins Feld führen können. Das Heer, mit dem die Peloponnesier in Attika einfielen, hat Beloch (p. 152) auf 30000, neuerdings64 auf 27000 Hopliten, berechnet. Ein Sieg in offener Feldschlacht scheint also für die Athener nicht ganz ausgeschlossen. Aber was hätte er genützt? »Wenn wir auch siegen,« sagte Perikles den Athenern (Thuc. I, 143), »so hätten wir doch bald wieder gegen einen eben so zahlreichen Feind zu kämpfen.« Das große athenische Heer konnte nur wenige Tage, allerhöchstens Wochen im Felde bleiben, da die Bürger zu ihrer Berufsarbeit zurückkehren mußten. Von einer Verfolgung des Feindes in sein eigenes Land, einer Belagerung von Theben oder Korinth konnte gar keine Rede sein. Auch von den späteren Volksführern auf der Höhe des Erfolges von Sphakteria hat nie jemand solche Gedanken gehabt. Ein Sieg hätte also den Athenern nichts gebracht als eine augenblickliche Erleichterung; eine Niederlage hätte ihnen die halbe Bürgerschaft kosten können, und auf jeden Fall hätte ein derartiger Feldzug die finanziellen Mittel so angegriffen, daß sie für die weiteren Feldzüge ganz leistungsunfähig wurden.[128] Wir werden auf das sich hier geltend machende Gesetz der Ökonomie der Kräfte noch sehr häufig zurückzukommen haben. In dem jetzt (1920) erschienenen vierten Bande dieses Werkes ist dieses Grundprinzip der Strategie ausführlich behandelt.

2. In allen Einzelheiten habe ich das Problem der Perikleischen Strategie untersucht in meinem Buche »Die Strategie des Perikles, erläutert durch die Strategie Friedrichs des Großen« (1890). Ziemlich gleichzeitig mit diesem Buch erschien die Untersuchung von NISSEN »Der Ausbruch des Peloponnesischen Krieges« im 63. Bande der Hist. Zeitschrift. Die Einwände, die von ihm gegen die Darstellung des Thucydides erhoben werden, vermag ich als berechtigt nicht anzuerkennen, in einem wesentlichen Punkt sind wir jedoch zu demselben Ergebnis gekommen, nämlich, daß, wenn Athen auf ein positives Erwerbs-Objekt in diesem Kriege ausgehen wollte, es die Inkorporation von Megaris sein mußte.

3. Seitdem ist noch »ein chronologischer Beitrag zur Vorgeschichte des Peloponnesischen Krieges« erschienen von W. KOLBE (Hermes, Bd. 34, 1899). Kolbe setzt die Schlacht bei Sybota schon in den Herbst 433 (ich habe Mai 432 angenommen); Folgerungen für meine Auffassung der Politik des Perikles ergeben sich daraus nicht.

4. BUSOLT in einer Untersuchung »zum Kriegsplan des Perikles« (Festschrift, Ludwig Friedländer dargebracht von seinen Schülern 1895) hat sich denen angeschlossen, wie diesen Kriegsplan prinzipiell für richtig erklären, »aber es mangelte bei seiner Durchführung an tatkräftigem Vorgehen und Unternehmungsgeist«. Er vermißt namentlich in den ersten Jahren des Krieges die Besetzung feindlicher Küstenplätze wie Pylos und die Insel Kythera. »Ein energisches Einsetzen der Kräfte im Rahmen des Kriegsplanes konnte unzweifelhaft die Dauer des Krieges verkürzen und rascher zur Ermattung des Gegners führen«. Diese Behauptung kann man doch nicht so ganz als »unzweifelhaft« hinstellen. Busolt selbst hat in eben dieser Abhandlung sehr mit Recht mehr, als es früher geschehen ist, betont, wie wichtig die Blockade des Peloponnes war. Konnte sie auch nicht bis zur hermetischen Absperrung durchgeführt werden, so unterband sie doch den Handel und die fast unentbehrliche Getreidezufuhr für die größeren Seestädte in höchst empfindlicher Weise. Je länger je härter mußte dieser Druck wirken. Es ist durchaus nicht gesagt, daß die Athener, wenn sie allen Schaden, den sie ihrem Gegner zufügen konnten, gleich im ersten Jahre anrichteten, damit den Frieden erreicht hätten. Die Länge des Schmerzes, das psychologische Moment der Zeit mußte hinzukommen. Wir stehen hier vor einem Problem, das immer wieder in der Kriegsgeschichte auftaucht. Wenn ein Staatsmann-Feldherr wie Perikles einen Kriegsplan entwirft, der den Gegner nicht niederwerfen, sondern ihn allmählich ermatten soll, so gibt es keinen bestimmten Anhalt dafür, wieviel in jedem Jahr zu unternehmen, wie weit auf Schonung der eigenen Kräfte Rücksicht zu nehmen ist. In der Niederwerfungs-Strategie gibt es einen solchen Maßstab, nämlich die[129] Streitkräfte des Gegners. Man muß entweder alle Kräfte aufbieten, die überhaupt möglich sind, oder wenigstens so viel, daß man mit Sicherheit auf den Sieg rechnen kann. Geschieht das nicht, so ist ein Fehler gemacht worden. Bei der Ermattungs-Strategie ist der Maßstab mehr subjektiv. Alle Kräfte zugleich anzuspannen, wäre falsch und würde dem eigenen Plane widersprechen. Was nun auch geschieht, immer ist es möglich, daß ein Kritiker kommt und sagt, dies oder das hätte außerdem auch noch geschehen sollen. Die Gründe, weshalb in den ersten anderthalb Jahren, so lange Perikles regierte, nicht mehr geschah, habe ich in meinem Buche S. 116 dargelegt. Im zweiten Jahre hat er an Stelle der Okkupation von Kythera, die Busolt verlangt, etwas viel Großartigeres unternommen, nämlich Epidaurus zu erobern, was ihm freilich mißlang. Daß nach diesem Fehlschlag nunmehr nicht der Zug nach Kythera unternommen wurde, fällt jedenfalls nicht dem Perikles zur Last, da er ja abgesetzt wurde. Es ist aber aus den von mir a.a.O. p. 130 angeführten Gründen durchaus verständlich.

5. Das Wort des Perikles von den »Gelegenheiten im Kriege, die nicht warten« (Thuc. I, 142) ist zunächst von den Gegnern gesagt, die wegen Mangels an bereiten Mitteln und wegen der lockeren Bundesverfassung die Gelegenheiten nicht benutzen können. Implicite liegt darin aber naturgemäß auch das Entgegengesetzte, daß nämlich die Athener dazu in der Lage sind und die Gelegenheiten ergreifen sollen.

6. In einem Anhange zu meinem oben genannten Buche habe ich die Frage nach der Bedeutung Kleons behandelt. Immer wieder tauchen Gelehrte auf, die es nicht begreifen können, daß jemand einen so glänzenden militärischen Erfolg wie Kleon auf Sphakteria davongetragen hat und doch eine in jeder Beziehung nichtige Persönlichkeit gewesen sein soll. Nirgends als auf militärischem Gebiet ist die Versuchung größer, sich vom Erfolg hinreißen zu lassen und den, der einen Sieg erfochten, auch für einen Feldherrn zu erklären; nirgends ist es aber auch wichtiger, sich von der Erfolgs-Verehrung frei zu machen und unbefangen zu prüfen, ob ein Ruhm verdient ist und wem er zufällt. Der Fall Kleon ist ganz besonders geeignet, die Urteilskraft zu bilden und sich in der Kritik zu üben. Eine sehr interessante und in mancher Beziehung geradezu frappante Analogie zu Kleons Feldherrntum bildet der große Sieg, den der Demagogen-General L'Echelle über die Vendeeer erfocht, was ich an dem ausgezeichneten Buche des Generals von Boguslawski: »Der Krieg der Vendee gegen die französische Republik« (1894) nachzulesen bitte.

7. Nachdem man sich überzeugt hat, daß in den Kardinal-Punkten, der Beurteilung des Perikles und seines Kriegsplanes, sowie des Kleon die Auffassung des Thucydides die allein und vollständig richtige ist, ist man berechtigt und verpflichtet, diesem Autor auch in den Punkten Vertrauen zu schenken, wo eine strikte Nachprüfung bei unserer mangelhaften Kenntnis[130] der Tatsachen nicht möglich ist. Nach diesem Grundsatz ist die Darstellung dieser Epoche aufgebaut.

Die Anklagen, welche man gegen Thucydides als Feldherrn aus seiner eigenen Erzählung hat konstruieren wollen, entbehren jeder Begründung und entspringen allein den unrichtigen taktischen Vorstellungen der Kritiker.

8. Herodot VII, 9 läßt den Mardonius zu Xerxes sagen:

»Ελλμνες, ὡς πυνθάνομαι, ἀβουλότατα πολέμους ἵστασθαι ὑπό τε ἀγνωμοσύνης καὶ σκαιότητος. ἐπεὰν γὰρ ἀλλήλοισι πόλεμον προείπωσι ἐξευρόντες τὸ κάλλιστον ξωρίον καὶ λειότατον, ἐς τοῦτο κατιόντες μάχονται, ὥστε. σὺν κακῷ μεγάλῳ οἱ νικέοντες ἀπαλλάσσονται. περὶ δὲ τῶν ἑσσωμένων οὐδὲ λἐγω ἀρξήν, ἐξώλεες γὰρ δὴ γίνονται.«

Sie sollten lieber »ἔντας ὁμογλώσσους« sich friedlich verständigen und vertragen, »εἰ δὲ πάντως ἔδεε πολεμέειν πρὸς ἀλλήλους, ἐξευρίσκειν χρῆν, τᾕ ἑκάτεροὶ εἰσι δυςχειρωτότατοι, καὶ ταύτῃ πειρᾶν« »wo für beide Teile der Sieg am schwersten ist« sagt die Übersetzung. Vater Herodot hat nicht ausdrücken können, was er meint oder ihm gesagt ist: der Sinn ist offenbar, jeder soll suchen, das Terrain zu seinen Gunsten zu verwenden.

Man erkennt, daß solche Betrachtungen in dem Perikleischen Athen gemacht wurden.


9. Bei den Bevölkerungs-Berechnungen für Attika habe ich angenommen, daß die Athener für den Flottendienst auch Sklaven herangezogen hätten. NIESE hat diese Annahme für »ganz unhaltbar« erklärt und seine entgegengesetzte Ansicht ausführlich in einem Anhang zu seinem Aufsatz in der Hist. Zeitschr. Bd. 98 (s. oben S. 3) begründet. Die Frage hat für unsere statistische Berechnung keine Bedeutung, da auf der einen Seite feststeht, daß das Gros der Flotten-Besetzung aus athenischen Bürgern bestand, auf der anderen, daß die Nicht-Bürger wesentlich Söldner waren, so daß auf jeden Fall für die etwaigen Sklaven kein großer Raum bleibt. Ob man das ohnehin nur so ungefähr abzuschätzende Kontingent von Nicht-Bürgern als »Söldner« oder als »Söldner und Sklaven« bezeichnet, macht für das Ergebnis also keinen Unterschied. Wenn BÖCKH (Staatshaush. I, 329, 3. Aufl.) meint, daß »ein großer Teil der Ruderer Sklaven waren«, so ist er wohl etwas zu weit gegangen; ich habe mich vorsichtiger ausgedrückt, indem ich schrieb: »Wenn in Athen ausgehoben werden sollte für einen Feldzug – so werden wir annehmen dürfen – meldeten sich für den Flottendienst stets genügend Freiwillige, Athener oder Fremde, oder es wurden Sklaven genommen. Der Flottendienst ist also in Athen, abgesehen von den Auszügen πανδημεί, schon bald nach den Perserkriegen ein reiner Söldnerdienst geworden.« Diese Worte scheinen mir deutlich genug zu sagen, daß ich den Zusatz von Sklaven[131] auf der athenischen Flotte nicht als etwas Wesentliches ansehe, sondern als einen Behelf, wenn die Bürger und Söldner nicht ausreichten, also auch wohl bei den außerordentlichen Aufgeboten, die ich meinen statistischen Berechnungen zugrunde lege. Niese formuliert also meine Ansicht zu scharf, wenn er sie wiedergibt mit den Worten: »H. Delbrück hat in seiner Geschichte der Kriegskunst S. 110 gesagt, die Athener hätten zur Bemannung der Kriegsschiffe regelmäßig Sklaven herangezogen.«

Niese führt für seine Auffassung zunächst einige argumenta ex silentio ins Feld, denen wohl ein gewisses Gewicht zuzuerkennen ist, so weit sie gegen Böckhs Meinung, daß »ein großer Teil der Ruderer Sklaven waren«, aufgerührt werden, nicht aber gegen mich, da die Sklaven bei mir eine so beiläufige Rolle spielen, daß sie bei Aufzählungen leicht übergangen werden konnten.

Daß die Sklaven in andern griechischen Staaten zum Ruderdienst verwandt wurden, ist mehrfach bezeugt. Wenn Niese behauptet (S. 496, S. 501, S. 505), »es gäbe ausreichende Beweise dafür, daß die Sklaven in Athen ... nur als Bedienung ihrer der Flotte dienenden Herren Zutritt hatten,« so hat er leider unterlassen, diese Beweise in seiner sonst von gelehrten Zitaten strotzenden Abhandlung anzuführen, sich selbst aber in den Verdacht gebracht, von den Verhältnissen einer antiken Triere sehr unklare Vorstellungen zu haben: wir haben Not, es zu begreifen, daß auf einem solchen Schiff überhaupt für 200 Mann Raum war – nun auch noch Sklaven als Bedienung? Außer vielleicht für den Kapitän und Steuermann? Und die Herren hätten gerudert, die Sklaven zugesehen?

Die positiven Zeugnisse, daß auch auf der athenischen Flotte Sklaven als Schiffsmannschaft vorkamen, sind folgende: Thucyd. VII, 13, 2 schreibt Nikias aus Sizilien nach Hause, es gäbe Leute, die, die Kapitäne bestechend, an ihre Stelle Hykkarische Sklaven setzten und dadurch die Ordnung des Schiffswesens aufhöben (εἰσὶ δ᾽ οἴ καί, αὐτοὶ ἐμπορευόμενοι, ἀδράποδα ᾽Υκκαρικὰ ἀντεμβιβάσαι ὑπὲρ σφῶν πείσαντες τοὺς τριεράρχους τὴν ἀκρίβειαν τοῦ ναυτικοῦ ἀφῄρηνται). Hykkara ist eine sicilische Stadt, die die Athener gleich nach ihrer Ankunft eingenommen und deren Bewohner sie zu Sklaven gemacht hatten. Nikias findet also den Fehler nicht darin, daß überhaupt Sklaven in die Rudermannschaft eingestellt wurden, sondern darin, daß Sklaven solcher Provenienz, von innerer Feindseligkeit, ohne Übung und Erziehung für den Ruderer-Dienst eingeschmuggelt wurden. Hätte er es als unerhört bezeichnen wollen, daß überhaupt Sklaven unter die Ruderer gemischt wurden, so hätte er nicht den Zusatz »Hykkarische« gemacht.

Thucyd. VIII, 73, 5 ist von der Paralos, dem Staatsschiff, gesagt, sie sei mit lauter Freien besetzt; bei anderen Schiffen war es dies also nicht der Fall. Niese (S. 501 Anm.) will diese bisher allgemein angenommene Auslegung für ein Mißverständnis erklären; er scheint das Wort ἐλεύθεροι als »freiheitlich gesinnt« auffassen zu wollen – wozu ich keinen Grund sehe.[132]

Xenophon, Hellenika I, 6, 24 berichtet, wie im Jahre 406 die Athener, um ihre Flotte zu bemannen, Freie und Sklaven einstellten. Derselbe Vorgang wird auch bei Aristophanes erwähnt und in den Scholien, zitiert bei Böckh I, 329.

Isokrates in seiner Friedensrede (8, 48) erwähnt, daß die Athener ehedem Fremde und Sklaven als Matrosen, die Bürger als Hopliten auf die Schiffe steigen ließen; zit. Niese, S. 501, Anm. 3.

Alle diese Zeugnisse scheinen mir keinen Zweifel zu lassen, daß meine Darstellung richtig ist – die sich ja übrigens von derjenigen Nieses, um es zu wiederholen, nicht so fundamental unterscheidet, wie die Energie seiner Polemik vermuten läßt. Denn auch Niese gibt wenigstens ausnahmsweise (in dem Fall von 406) das Einstellen von Sklaven in die Flottenmannschaft zu, und bei mir spielen sie eine so beiläufige Rolle, daß ich ebenfalls das Wort »ausnahmsweise« hätte gebrauchen können, ohne in den Berechnungen etwas zu ändern.[133]

Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1920, Teil 1, S. 123-134.
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