Zweites Kapitel.

Der Helvetier-Feldzug.

[495] Wir dürfen die Erzählung Cäsars von seinem Feldzug gegen die Helvetier als bekannt voraussetzen und unterwerfen sie zunächst einer Prüfung auf die Unwahrscheinlichkeiten, Lücken, Widersprüche, Unmöglichkeiten, die sie enthält.

Die Helvetier faßten nach Cäsar den Beschluß, mit Weib und Kind und allem Besitztum auszuwandern, um sich der Herrschaft von ganz Gallien zu bemächtigen (I, 30, 3); ihr eigenes Land war ihnen zu klein.

Wir sehen ab von den verfehlten Angaben, die Cäsar hierbei über die Größe des helvetischen Gebietes macht, aber wir fragen, wie sich das Motiv, das Cäsar den Auswandernden unterlegt, mit dem Modus der Ausführung vereinigt. Wenn die Helvetier sich die übrigen Gallier unterwerfen wollten, so war dazu nicht nötig, daß sie mit Weib, Kind, Herden und Hausgerät auszogen; im Gegenteil, daß mußte ihre kriegerische Aktion sehr beeinträchtigen.

Das Land, welches die Helvetier statt des ihren ins Auge gefaßt hatten, war das der Santonen zwischen La Rochelle und der Girondemündung am Atlantischen Ozean. Weder ist diese Landschaft besonders geeignet, von da aus Gallien zu beherrschen, noch, wenn die Helvetier wegen Übervölkerung neue Sitze suchten, war es nötig, daß das ganze Volk auswanderte und das prächtige, bisher bewohnte Land leer ließ. Angenommen, die Helvetier haben, statt in der Nachbarschaft irgendwo ihr Gebiet zu erweitern, wirklich den Plan gehabt, an den Ozean zu ziehen, die dort wohnenden Völker zu vertreiben oder auszurotten und sich von neuem anzusiedeln, so kann diese Absicht, schwer durchzuführen an sich, doch unmöglich kombiniert gewesen sein mit einem Plan, gleichzeitig die Hegemonie[495] über alle anderen gallischen Völker zu erwerben. Die Kombination ist um so unmöglicher, als Gallien, wie wir zwar noch nicht in diesem Zusammenhang, aber bald darauf von Cäsar selbst erfahren, bereits einen Herrn hatte, nämlich den Germanenfürsten Ariovist, der die Gallier besiegt und sie gezwungen hatte, ihm Geiseln zu stellen und Tribut zu zahlen. Man sieht zwar nicht recht, wie weit sich die Herrschaft des Ariovist eigentlich erstreckte, bald sind es nur die Häduer und Sequaner mit ihrer Klientel, die unterdrückt erscheinen, dann sind es wieder die Gesandten von fast ganz Gallien (cap. 30), die Cäsar um Hilfe gegen ihn bitten – aber wie auch immer: jeder Plan der Helvetier, in Gallien eine Herrschaft zu erwerben, mußte in erster Linie mit Ariovist rechnen und auf ihn stoßen. Mit keinem Wort ist das von Cäsar berührt. So lange er von dem helvetischen Krieg erzählt, ist es, als ob Ariovist nicht existierte.

Zu den Vorbereitungen, die die Helvetier für ihren großen Eroberungskrieg machen, gehörten auch Friedens- und Freundschaftsbündnisse mit den Nachbarstaaten. Wir fragen: mit welchen? Die im Westen hätten zu den zu Unterwerfenden gehört, im Norden war Ariovist, der Osten kommt nicht in Betracht, der Süden gehörte den Römern.

Nur auf zwei Wegen, fährt Cäsar fort, konnten die Helvetier ihr Land verlassen, entweder auf dem nördlichen Ufer der Rhone, durch das Gebiet der Sequaner oder auf dem südlichen, bei Gend übergehend, durch die römische Provinz. Zu ergänzen ist dabei, »wenn sie in der Richtung auf das Gebiet der Santonen marschieren wollten«, da den Helvetiern sonst noch mancherlei Wege über den Jura oder nördlich des Jura zur Verfügung gestanden hätten, wenn sie Gallien erobern wollten.

Obgleich nach Cäsar die Helvetier schon seit zwei Jahren ihren Plan vorbereiteten und er allenthalben bekannt gewesen sein muß, so scheinen die Römer doch von einem beabsichtigten Marsch durch ihre Provinz nicht nur nichts gewußt, sondern dergleichen auch gar nicht besorgt zu haben. Denn in diesem gefährdeten Grenzland stand nur eine Legion, als Cäsar ankam, und durch List mußte er Zeit gewinnen, um rasch von Genf bis zum Fort L'Ecluse, wo die Rhone an einigen Stellen durchwatbar ist, eine vier Meilen lange[496] Befestigungslinie anzulegen und sie mit seiner Legion und dem aufgebotenen Landsturm zu besetzen.

Die Helvetier sollen nun vergebliche Versuche gemacht haben, diese Linie zu durchbrechen.

Dieser Behauptung muß der allerstärkste Zweifel entgegengesetzt werden. Die Helvetier waren ein sehr kriegerisches Volk, ihr Heer, wenn auch, wie wir sehen werden, nicht 92000 Mann stark, doch gewiß recht bedeutend. Der Landsturm, den Cäsar aufgeboten hatte, kam militärisch wenig in Betracht. Wie soll es da mit den Kräften einer einzigen Legion möglich gewesen sein, eine vier Meilen lange Linie zu verteidigen? Das ist militärisch schlechterdings ausgeschlossen. Eine flüchtige, vier Meilen lange Feldbefestigung von mehrfacher Überlegenheit an drei Stellen zugleich angegriffen, wurde (ehe die modernste Waffenführung erfunden war) immer und unter allen Umständen durchbrochen, wenn der Angreifer Ernst machte.

Cäsar behauptet, nach seinem Siege über die Helvetier seien in deren Lager Tafeln gefunden worden, auf denen aufgezeichnet stand, wieviel Köpfe jeder Stamm zählte; im ganzen seien es 368000 gewesen. Da man die Größe des von den helvetischen Stämmen bewohnten Landes annähernd berechnen kann (18000 Quadratkilometer251, so müßte es hiernach eine Volksdichtigkeit von 20 auf den Quadratkilometer gehabt haben. Mit Recht hat Beloch das für eine Unmöglichkeit erklärt. Cäsar aber gibt uns noch eine zweite Zahl; er ließ, als er die Helvetier in ihr Land zurückführte, einen Census veranstalten, der 110000 Köpfe ergab. Da nun nach Cäsars eigener Erzählung der Verlust des Volkes auf der Wanderung und in den Gefechten nicht so sehr groß gewesen sein kann, so ist Beloch von dieser Zahl ausgegangen, hat für den Verlust einen Zuschlag von 40000 Seelen gemacht und die Volksdichtigkeit danach auf 7,5 für den Quadratkilometer berechnet.

Gegen diesen Schluß würde nichts Wesentliches einzuwenden sein, wenn wir uns völlig darauf verlassen könnten, daß Cäsar die Zählung wirklich veranstaltet hat und daß die Helvetier wirklich[497] alle das Land verlassen hatten. In diesem Falle, da der Verlust von 40000 noch sehr hoch zu sein scheint, würde man sogar noch auf eine etwas geringere Zahl als Beloch kommen. Bei der Unsicherheit der Grundlage, über die wir noch zu sprechen haben werden, lassen wir jedoch diesen Faden fallen. Nur das Negative, daß die ursprüngliche Masse auch nicht annähernd 368000 Köpfe betragen haben kann, müssen wir noch sicherer feststellen und haben dazu auch die Mittel.

Cäsar behauptet, der Zug der Helvetier habe alles in allem 368000 Menschen gezählt und für drei Monate Lebensmittel mit sich geführt. Napoleon III. hat berechnen lassen, daß bloß für Mehl hierzu 6000 vierspännige Wagen erforderlich seien; für 15 kg Gepäck auf den Kopf rechnet er weitere 2500 Wagen. 8500 Wagen auf einer Straße, 15 Meter auf den Wagen, nehmen 17 deutsche Meilen Raum ein.252 Auf das Zugtier ist hierbei eine Nettolast von 10 Zentnern gerechnet. Ich habe mich jedoch seitdem überzeugt und den Nachweis geliefert, daß das für antike Verhältnisse um das Doppelte bis Dreifache zu hoch ist. Die präsumierte Wagenreihe wäre also nicht 17, sondern etwa 40 deutsche Meilen lang geworden. Nur selten werden, wie wir uns die Straßen in dem damaligen Gallien vorzustellen haben, die Wagen in mehreren Reihen nebeneinander fahren können. Wenn auch nur an einer Stelle auf dem Wege eine Enge war, so mußte, mochte man auch sonst breit über das Feld fahren können, die Reihe eingehalten werden. Die Marschdisziplin ist selbstverständlich gering; Stockungen und Lücken sind häufig, die Wagen vorwiegend mit Ochsen bespannt. 3-4 Stunden wird ein solcher Zug mindestens auf die Meile zubringen. Selbst im Hochsommer, wo man um 3 Uhr aufbrechen kann und die Letzten erst um 9 Uhr abends im Lager einzutreffen brauchen, können also doch, selbst wenn der Tagemarsch zur 1 Meile beträgt, nicht mehr als 2500 Wagen ihn machen. 15 Stunden stehen zur Verfügung (von 3 Uhr morgens bis 6 Uhr abends, wo die Letzten abmarschieren müssen), und alle drei Stunden werden 500 Wagen in Bewegung gesetzt. Selbst wenn man die Geschwindigkeit nur mit 2 Stunden für die Meile ansetzt, so würden[498] doch nur 250 Wagen in der Stunde in Bewegung gesetzt, also bei 16stündiger Marschzeit (von 3 Uhr morgens bis 7 Uhr abends) 4000 Wagen eine Meile weit befördert werden können.253 Nun besteht aber der Zug, wovon Napoleon merkwürdigerweise nicht spricht, nicht bloß aus den Wagen, sondern wir haben noch die ganze Masse der Menschen, Weiber und Kinder, und außer dem Zugvieh die Herden, das Jungvieh und Kleinvieh.

Nach der Erzählung Cäsars bewegte sich, durch Absprengung der Tigoriner an der Saone um einiges254 gemindert, der Zug der Helvetier in etwa 15 Tagen von der Übergangsstelle (etwa 2 bis 4 Meilen nördlich von Lyon, bei Trevoux oder Montmerle) bis in die Nähe von Bibracte (bei Autun). Das sind 14-16 Meilen Luftlinie, also täglich 11/4-11/2 Meilen Marsch. Der Weg ging nur anfangs in dem breiten Saonethal, dann aber durch das Bergland der Monts du Maconnais und Monts du Charolais, wo die Karren sicherlich sehr oft nur zu einem fahren konnten. Waren die Lebensmittelkarren zum Teil schon geleert, so werden die Helvetier sie darum nicht haben stehen lassen; Karren sind Wertstücke, und sie brauchten sie für die Beute, die sie machten, und Neuverproviantierung. Da der Zug durch feindliches Land ging, so konnten nicht etwa die Weiber und Kinder einen Tagemarsch vorausgeschickt und die Kolonne zerlegt werden. Nach Cäsars Schilderung unterliegt es keinem Zweifel, daß die Masse zusammenhielt und miteinander marschierte, daraus aber ergibt sich, daß von einer ursprünglichen Masse von 368000 Seelen gar nicht die Rede sein kann. Selbst auf die Hälfte, auf ein Viertel, auf ein Achtel reduziert ist der Wagenzug mitsamt Menschen und Vieh viel zu lang, um sich auf einer Straße in einer Kolonne zu bewegen. Cäsars Zählung ist also, wie die Herodots über das Xerxesheer, nicht zu reduzieren, sondern schlechthin zu verwerfen.

Während Cäsar fünf weitere Legionen, darunter zwei neuausgehobene,[499] aus Oberitalien heranzieht, marschieren die Helvetier über den Jura an die Saone und überschreiten diesen Fluß oberhalb von Lyon. Nachdem der Nachtrag von Cäsar beim Übersetzen angegriffen und zersprengt ist, ziehen die andern den Fluß aufwärts nach Norden.

Cäsar gibt keinerlei Grund an, weshalb sie diese Richtung einschlugen. Sie wollten ja, wie er uns sagt, zu den Santonen, d.h. nach Westen. Auf verschiedene Weise hat man diese Lücke ergänzt. Mommsen, Göler, Napoleon III. haben gemeint, Cäsar habe die Helvetier von ihrem Wege abgedrängt, und Napoleon III. fügt hinzu, auf dem geraden Weg zu den Santonen, über Roanne, hätten fast unzugängliche Berge gelegen; auch im 19. Jahrhundert noch sei die Post von Lyon nach Rochelle über Autun und Nevers gegangen.

Diese Erklärung will aber doch nicht recht genügen. Nach der gewöhnlichen Annahme stand Cäsar im Lande der Segusiaver bei Lyon, in dem Winkel zwischen Rhone und Saone, als er die Helvetier beim Übersetzen der Saone, etwa bei Trevoux-Villefranche, mit drei Legionen überfiel. Die drei anderen Legionen hatte er zurückgelassen. Selbst angenommen nun, daß diese auf dem rechten Saoneufer gestanden hätten, so hätten sie damit den Helvetiern keineswegs weder den Weg südwärts in die Provinz, noch westwärts ins Gebirge abgeschnitten. Zwei von den drei Legionen waren die beiden eben erst ausgehobenen Rekrutenlegionen; auf keinen Fall konnten die Römer es mit diesen auf eine Schlacht gegen die Helvetier ankommen lassen. Diese hätten ja nichts besseres wünschen können, als hier über einen Teil des römischen Heeres herzufallen, ganz wie Cäsar am Tage vorher über einen Teil des ihren. Wahrscheinlich hat die Armeeabteilung gar nicht auf dem andern Ufer gestanden, und wenn schon, ganz gewiß hinter einer Befestigung, aus der sie sich nicht heraustrauen durfte.255 Vor den Legionen[500] Cäsars selber hatten die Helvetier mindestens einen Tag, während dieser an der Saonebrücke baute, Vorsprung. Das Gebirge direkt im Westen, mag steil sein, aber es ist nicht, wie Napoleon III. behauptet hat, unzugänglich.

BIAL in seinem Buche »Chemins de la Gaule« p. 289 f. glaubt mehrere Wege nachweisen zu können, welche über die Cevennen gingen, und MAISSIAT in seinem »Jules César en Gaule« I, 349 legt dar, daß durch das Tal der Azergues, die bei Trevoux-Villefranche mündet, man sehr leicht die Cevennen überschreiten kann und zum Abstieg ins Loiretal sogar nicht bloß eins, sondern drei Nebentäler (über Chauffaille, Tarare, Sainte-Foy) zur Auswahl hat. Dieser Weg hätte den doppelten Vorteil gehabt, daß die Helvetier die Loire und den Allier nahe den Quellen überschreiten konnten und daß sie sich sofort jedem römischen Angriff entzogen. Waren sie erst im Gebirge, so konnte eine kleine Nachhut die Römer aufhalten. Statt dessen zogen sie das bequeme Saonetal entlang, wo Cäsar ihren schwerfälligen Zug leicht überholen konnte, kamen erst später in das schützende Gebirge, und hatten nach kurzem aberrmals breite Ströme zu überschreiten.

Selbst wenn man annehmen will, daß die Helvetier sich nicht schnell genug zum Abzug entschlossen und Cäsar Zeit gelassen hätten, indem er etwas abwärts über die Saone ging, ihnen den Eingang in das Azerguetal zu sperren, so bleibt doch immer unerklärt, weshalb sie nicht aus den Monts du Charollais direkt ins Loiretal abstiegen und bei Briennon oder Digoin überzugehen suchten. Ja schließlich können wir feststellen, daß Cäsar selber gar nichts anderes erwartet hat, als daß die Helvetier den Fluß entlang marschieren würden, da er, wie wir nachher hören, seine Verpflegung zu Schiff beförderte und nicht für einen Wagenpark gesorgt hatte.

Daß die Helvetier die ernsthafte Absicht gehabt haben, ins Land der Santonen zu ziehen, dürfen wir danach billig bezweifeln.

Als Cäsar den Helvetiern den Durchmarsch durch die Provinz versagt hatte, vermittelte ihnen der Häduerfürst Dumnorix einen friedlichen Durchzug durch das Gebiet der Sequaner, Von den Sequanern gelangen die Helvetier ins Gebiet der Häduer, nach dem Vorhergehenden müßte man meinen, als Freunde. Aber sie erscheinen als Feinde, verwüsten das Land, und die Häduer rufen die Hilfe[501] der Römer gegen sie an. Hier müssen sich im Hintergrunde Vorgänge abgespielt haben, die Cäsar uns verschweigt.

Nach ihrer Teilniederlage an der Saone boten die Helvetier, erzählt uns Cäsar weiter, Frieden an und erklärten sich bereit, in dasjenige land zu ziehen, das ihnen Cäsar anweisen wolle. Die Verhandlungen zerschlugen sich daran, daß die Helvetier die Geiseln, die Cäsar verlangte, nicht stellen wollten. Sollte Cäsar ihnen aber auf die Hauptfrage gar nicht geantwortet haben? Er muß ihnen doch wohl gesagt haben: da ihr versprecht, in das Land zu ziehen, das ich Euch anweise, so ersuche ich Euch, in Euer eigenes altes Land zurückzukehren. Daß dieser Satz fehlt, macht die ganze Verhandlung oder aber den Zusammenhang, in den sie gestellt ist, sehr verdächtig.

In welcher Richtung die Helvetier nunmehr abzogen, sagt uns Cäsar nicht direkt; wir können es nur daraus schließen, daß Cäsar sagt, er habe sich nicht auf der Saone verproviantieren können, weil die Helvetier, denen er folgte, von dem Flusse abbogen, und daß die Schlacht endlich in der Nähe von Bibracte (Mont-Beuvray, 20 Kilometer westlich von Autun) geschlagen wurde. Cäsar machte einmal einen Versuch, vermittelst einer Umgehung die Helvetier von zwei Seiten anzugreifen, und als das durch einen Zufall vereitelt wurde, ließ er von ihnen ab um nach Bibracte zu gehen. Er mußte das tun, sagt er, um der Verpflegung willen, die ihm die Häduer, als sie ihn um Hilfe riefen gegen die Helvetier, versprochen hatten aber nicht lieferten. Sein Abschwenken aber führte die die Schlacht herbei: die Helvetier sahen entweder darin Furcht oder wollten die Römer von ihrer Verpflegung abschneiden und gingen ihrerseits zum Angriff vor.

Sollen wir es wirklich glauben, daß die Helvetier sich die Wendung der Römer gegen Bibracte nicht anders als durch Furcht haben erklären können und daß dadurch sie, die kurz vorher erst angeboten hatten, aus Cäsars Hand eine neue Heimat zu empfangen, die 15 Tage lang marschierend sich ihm zu entziehen gesucht hatten, so ermutigt wurden, daß sie plötzlich umkehrten und ihn angriffen? Das andere Motiv wiederum, die Römer von ihrer Verpflegung abzuschneiden – wie soll man es verstehen? Wollten die Helvetier Cäsar von seiner bisherigen Operationslinie und Basis abschneiden,[502] so war dazu kein Angriff und keine Schlacht nötig. Wollten sie ihn von Bibracte abschneiden? Abschneiden von der Verpflegung und Schlacht sind Begriffe, die sich hier ausschließen: siegten die Helvetier, so brauchte kein Römer Verpflegung mehr; wurden sie besiegt, so war den Römern nichts mehr abgeschnitten. Weshalb waren die Helvetier fortwährend marschiert? Wollten sie ins Land der Santonen, so muß man annehmen, daß der Marsch bisher eine nordwestliche Richtung gehabt hatte und daß man der Loire schon ziemlich nahe war, daß sie also jetzt, da die Römer sich nach Osten wandten, unbehelligt weiterziehen konnten. Wollten sie ihre Niederlage an der Saone noch rächen, warum erst jetzt? Warum hatten sie nicht unterwegs eine günstige defensive Stellung gewählt und hatten abgewartet, ob die Römer anlaufen würden?

Die kurzen Nachrichten und vereinzelten Notizen, die wir sonst bei römischen Schriftstellern über diese Feldzüge finden, tragen zur Aufklärung nichts bei, und es möchte hoffnungslos erscheinen, wenn man ausschließlich auf eine Erzählung angewiesen ist, in der die Wahrheit offenbar mit Absicht an vielen Stellen verdunkelt wird, doch ein richtiges Bild von den Dingen gewinnen zu wollen. Aber man kann doch auch nicht dabei stehen bleiben, Cäsar einfach zu verwerfen, ohne etwas anderes an die Stelle zu setzen. Daß man ihm nicht einfach nacherzählen darf, ist anerkannt. Napoleon I. hat einmal gesagt256, der helvetische Feldzug sei einfach unverständlich, und auch diejenigen Historiker, die Cäsar das größte Vertrauen entgegenbringen, halten doch für nötig, ihn in sehr wesentlichen Punkten zu ergänzen und zu korrigieren. Mommsen fügt als Auswanderungsmotiv die Furcht vor Ariovist hinzu, was sich doch wohl nicht mit dem Wunsch, die Hegemonie von Gallilen zu erwerben, verträgt; überdies behauptet Cäsar, als ob Ariovist nicht in der Welt gewesen wäre, das gerade Gegenteil: die Helvetier, rings von Bergen und Strömen eingeschlossen, hätten es schmerzlich empfunden, ihre Nachbarn nicht mit Krieg überziehen zu können. Mommsen läßt ferner die Friedensverhandlung an der Saone kurzerhand aus. Napoleon III. wiederum behandelt die Auswanderung und den Wunsch, sich Gallien zu unterwerfen, nicht als nebeneinander hergehende, sondern einander[503] ablösende Pläne und läßt aus den Friedensverhandlungen das Angebot der Helvetier, sich von Cäsar Land anweisen zu lassen, aus. Holmes endlich meint, ähnlich wie Mommsen, daß die Helvetier, gedrängt von den Germanen, beschlossen hätten, sich eine neue Heimat zu suchen, und läßt den Plan der Unterwerfung Galliens als eine bloße Intrige des Fürsten Orgetorix erscheinen. Das ist gerade das Umgekehrte von dem, was uns Cäsar erzählt. Aber alle diese Korrekturen genügen doch immer noch nicht. Es fehlt eine Erklärung, wie sich die Helvetier bei der Unterwerfung Galliens zu Ariovist zu stellen gedachten. Es bleibt die Unmöglichkeit, mit einer einzigen Legion und bloßem Landsturm eine flüchtige Feldbefestigung von vier Meilen Länge gegen ein großes Heer zu verteidigen. Es fehlt ein Motiv für den Abmarsch vom Sonnenübergang nach Norden und für das plötzliche Umkehren zur Schlacht. Man muß suchen, auch diese Fehler und Lücken zu eliminieren und auszufüllen, um ein Bild zu gewinnen, das, wenn auch nicht beweisbar, doch wenigstens den Vorzug hat, denkbar und möglich zu sein.

Versuchen wir es einmal mit folgender Skizze.

Das mittlere Gallien stand unter der Herrschaft des Germanenfürsten Ariovist.257 Schwer ertrugen die Gallier dieses Joch und zahlten ihren jährlichen Tribut. In aller Heimlichkeit hatte sich schon ein Häduerfürst, Divitiacus, an die Römer gewandt und ihre Hilfe erbeten, wie uns Cäsar zwar nicht im ersten, aber gelegentlich in einem späteren Buche (VI, 12) erzählt. In Rom ist man nicht geneigt gewesen, darauf einzugehen, sondern hatte im Gegenteil sich mit Ariovist gut zu stellen gesucht und ihn unter Cäsars eigenem Konsulat als König begrüßt und mit dem Ehrentitel eines Freundes und Bundesgenossen des römischen Volkes geschmückt. Die Häduer wollten trotzdem den Gedanken einer Befreiung nicht aufgeben. Eine andere Partei unter Führung des Dumnorix, eines Bruders des Divitiacus, hatte den Gedanken gefaßt, Gallien durch die Kraft der Gallier zu befreien.258 Noch gab es ein mächtiges und kriegerisches[504] Volk in dieser Gegend, das dem Ariovist nicht gehorchte, die Helvetier. Mit diesen knüpfte man an. Eine einfache Erhebung, in der Hoffnung auf helvetischen Zuzug war nicht möglich, da fast alle vornehmen Familien der Häduer wie der Sequaner und anderer Völker durch Geiseln in Ariovists Händen gebunden waren. Eine List sollte helfen. Der helvetische Führer Orgetorix schlug seinem Volke vor, auszuwandern. Sei es, indem er von Übervölkerung sprach, sei es, indem er vorstellte, daß sie in ihrem Lande binnen kurzem, wie die anderen Gallier, den Germanen erliegen müßten. Unter dem Vorwande der Auswanderung an den Ozean, zu den Santonen259 sollte das helvetische Kriegsaufgebot im Lande der Häduer erscheinen, ehe der Argwohn des Ariovist erregt wäre, und gestützt auf sie, hoffte die gallische Patriotenpartei alle Bedenken niederzuschlagen und die allgemeine Erhebung gegen die Germanen zu bewerkstelligen. Selbstverständlich begleiteten auch Frauen und Kinder den Zug, wie noch später die Landsknechtsheere, und in diesem Falle vielleicht, um die Täuschung zu erhöhen, noch mehr als sonst bei solchen Zügen. Auch der plötzliche Tod des Orgetorix hielt die Ausführung nicht auf.

Von allen diesen Dingen war Cäsar in Rom durch den Divitiacus und die römische Partei unter den Häduern genau unterrichtet. Unter keinen Umständen wollte er ihn zur Ausführung kommen lassen, denn sein Plan war, daß die Gallier nicht aus eignen Kräften, sondern durch die Hilfe der Römer von dem Joche der Germanen befreit werden sollten, um dafür das römische auf die Schultern zu nehmen. Eine Anfrage der Helvetier, ob sie durch die Provinz ziehen könnten, war ihm gerade recht, sein Heer an die Grenze zu führen und zu verstärken. Die Helvetier hatten die Anfrage nur gestellt, um die Fiktion, daß sie zu den Santonen[505] ziehen wollten, möglichst lange aufrecht zu erhalten. In demselben Sinne nahmen sie, als Cäsar sie abgewiesen hatte, doch den Weg möglichst südwärts, um erst, nachdem sie die Saone überschritten, ihren Weg auf ihr eigentliches Ziel, aufs Gebiet der Häduer zu richten. Unter dem Vorwand, daß sie eine Grenzverletzung begangen, griff Cäsar ihren Nachtrab beim Übergang über die Saone an. Mittlerweile hatte die römische Partei unter den Häduern, vermutlich durch römisches Geld unterstützt, die Oberhand erhalten und setzte durch, daß, statt die Helvetier als Befreier zu begrüßen, der häduische Staat die Hilfe Cäsars gegen ihre Invasion anrief. Die Helvetier waren nunmehr in großer Verlegenheit, schickten zu Cäsar und erboten sich, sich von ihm ein Land anweisen zu lassen, d.h. in ihr Land zurückzukehren. Das Abkommen ist, ganz wie Cäsar erzählt, nur an der Frage der Geiselstellung gescheitert. Cäsar bestand aber auf dieser Bedingung, nicht sowohl weil den Helvetiern sonst nicht zu trauen war, als weil ja dieses Unternehmen für ihn der Anfang der Unterwerfung ganz Galliens sein sollte. Die Helvetier wollten die Schmach nicht auf sich nehmen und zogen nach Norden, um im großen Bogen über die obere Saone wieder in ihr Land zurückzukehren. Sie blieben je doch nicht im Flußtal, wo die Römer gar zu leichtes Spiel gehabt hätten, ihren Zug zu überholen und umfassend anzugreifen, sondern zogen sich so bald wie möglich in die Berge, wo eine starke Nachhut die Römer von Defilé zu Defilé aufhalten konnte. Cäsar folgte ihnen, indem er sich durch die Reiterei der Häduer verstärkte. Aber in dem ersten Gefecht, noch in der Ebene, versagte diese Reiterei und nahm vor den Helvetiern die Flucht, und Cäsar hatte den Verdacht, daß nicht bloß ein ungünstiges Terrain, sondern böser Wille dabei im Spiel war, da Dumnorix kommandierte.

Obgleich Cäsar den helvetischen Nachtrab täglich hätte angreifen und in Gefechte verwickeln können, so tat er das doch nicht, sondern folgte nur in einiger Entfernung mit der größten Vorsicht, die Gelegenheit zu einem großen Schlage erspähend.

Endlich schien sie sich zu finden; eine Umgehung der Helvetier mit zwei Legionen unter Labienus gelang, aber ein Zufall, eine falsche Meldung kam in die Quere und rettete den Feind. Darauf ließ Cäsar von den Helvetiern ab und wandte sich direkt auf die[506] häduische Hauptstadt Bibracte, in deren Nähe man bereits angelangt war. Wie er selbst sagt, waren es Verpflegungsschwierigkeiten, die ihn dazu zwangen; man darf vielleicht auch annehmen, daß es Mißtrauen gegen die Häduer war, das ihn dazu nötigte: der römische Feldherr konnte nicht immer tiefer ins Land hineinziehen, ohne sich eines festen Stützpunktes zu versichern. Diese Wendung aber erzwang die Entscheidung.

Die Helvetier hätten freilich nunmehr unbehelligt weiterziehen und durch das Gebiet der ihnen ja befreundeten Sequaner in ihr Land zurückkehren können. Aber wenn sie das getan hätten, so hätten sie mit Bibracte die Häduer und damit das mittlere Gallien den Römern überlassen. Die häduische Patriotenpartei, die sie ihrerzeit gerufen hatte und vermutlich fortwährend in geheimer Beziehung zu ihnen stand, wird das aufs stärkste bei ihnen geltend gemacht, ihre Hilfe erfleht, vielleicht Übergang in der Schlacht in Aussicht gestellt haben. Da Cäsar, so nahe man einander täglich gewesen, doch seinerseits bisher nicht angegriffen hatte, so mögen die helvetischen Führer sich der Hoffnung hingegeben haben, daß er schließlich von ihnen ablassen werde. Bald mußte, wie sie von ihrem häduischen Freunde erfuhren, sein Vorrat an Lebensmitteln erschöpft sein, und die Häduer lieferten ihm nichts. Seine Wendung gegen Bibracte machte alle diese Hoffnungen zuschanden. Ohnehin mag es von Anfang an bei den Helvetiern nicht an einer Partei gefehlt haben, die es für schmachvoll erklärte, daß man, ohne die an der Saone heimtückisch von den Römern überfallenen und abgeschlachteten Brüder gerächt zu haben, nach Hause zurückkehre. Jetzt erhielt diese Partei die Oberhand, man beschloß umzukehren und die Römer im Marsche anzugreifen.

Der Punkt, den Cäsar in dieser Geschichte zu verstecken wünschte, ist der Zweck, den die Helvetier bei ihrem Unternehmen hatten, den Kampf gegen Ariovist. Deshalb ist Ariovists Name in diesem ganzen Feldzug bei ihm gar nicht erwähnt. Es wird den Helvetiern imputiert, daß sie die Herren von Gallien werden wollten, als ob Gallilen nicht in dem furchtbaren germanischen Kriegsfürsten bereits einen Herrn gehabt hätte, und in widerspruchsvoller Verknüpfung mit jener Herrschaftsidee erscheint wieder die harmlose Auswanderung mit Weib und Kind zu den Santonen. Cäsar muß eine Grenzverletzung[507] fingieren, muß den Bündniswechsel der Häduer unterdrücken, muß die Friedensverhandlung im Halbdunkel lassen, muß den Abmarsch der Helvetier nach Norden unmotiviert lassen, sucht vergeblich nach Motiven für ihren plötzlichen Schlachtentschluß – alles um des einen Punktes willen, daß er die wahre Absicht des ganzen helvetischen Kriegsunternehmens nicht angeben will. Hat man diesen aber erst zurechtgerückt, so ordnet sich alles andere von selbst.260

Ich wiederhole noch einmal: ich behaupte nicht, daß die Dinge gerade so verlaufen sind, wie ich sie eben erzählt habe; ich behaupte nur, daß die Erzählung Cäsars vor einem kritischen Blick nicht standhält und in sich unmöglich ist, und habe ihr eine andere, in sich mögliche und denkbare gegenüberstellen wollen, die sich dazu von den tatsächlichen Angaben Cäsars im Grunde weniger entfernt, als die Darstellungen bei Mommsen, Napoleon III. und Holmes. Wir haben uns dabei tiefer in das eigentlich Politische begeben müssen, als es unsere Aufgabe an sich erheischt, aber das war nötig, weil hier das Militärische in untrennbarem Zusammenhang mit dem Politischen steht und weil wir von vornherein zeigen wollten, mit welcher Vorsicht die Historie die Kommentare Cäsars benutzen muß.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1920, Teil 1, S. 495-508.
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