Der Tunginus.

[20] Meine Auffassung vom Wesen des Hunno-Amtes findet ihre Bestätigung in der fränkischen Zeit. Wir müssen darauf zurückkommen, wenn wir die Auflösung der urgermanischen Verfassung nach der Völkerwanderung betrachten, wollen jedoch speziell zu der Frage des Hunno-Amtes in der späteren Zeit schon hier einige Bemerkungen machen, weil in der Feststellung der Kontinuität eine wesentliche Stütze für uns geschaffen wird, während ein bisher noch nicht gehobener Zwiespalt in der Charakteristik und Unterscheidung der fränkischen Ämter eine ungünstige Rückwirkung auf die Zuverlässigkeit unserer Rekonstruktion der Urzeit ausüben müßte.

Wenn eine Auffassung vom Hunno-Amt richtig ist, so ergibt sich daraus ohne weiteres, daß der in den Volksrechten oft genannte centenarius kein anderer als, wie der Name sagt, der Hunno ist und daß, wenn die Formel »tunginus aut centenarius« gebraucht wird, beide Bezeichnungen dasselbe bedeuten, der eine Name nur den andern erläutert. Der Graf ist Beamter des Königs; der Centenar oder Tunginus ist Volksbeamter, hat nicht den Vorzug des dreifachen Wergeldes, wird vom Grafen nicht eingesetzt oder abgesetzt. Erst in der Karolingerzeit wird er zum gräflichen Unterbeamten. Der Graf hat die wesentlichen Funktionen des alten princeps, nur daß er diese Funktionen nicht nach den Rechtsvorstellungen der Urzeit, sondern als Beamter im Namen und Auftrage des neuentstandenen Großkönigs ausübt. Dieser Großkönig hat das alte Prinzipat aufgesogen; von allen alten princeps ist er allein übrig geblieben, und mehr und mehr Völkerschaften haben sich ihm allmählich untergeordnet oder unterworfen und lassen sich durch die von ihm gesetzten Grafen regieren. Die alten Gemeindevorsteher aber, die Hunni, erhalten sich noch viele Generationen unter den Grafen, wie ehedem unter den Fürsten, als Volksbeamte. In den romanischen Gebieten, wo es keine geschlossenen germanischen Geschlechtsgemeinden gab, ist der Centenar von vornherein unter dem Namen vicarius der Unterbeamte des Grafen, was der Centenar auf dem germanischen Boden erst später wurde.

BRUNNER und RICH. SCHRÖDER sind nun der Ansicht, daß es eine Übergangszeit gegeben habe, wo, als der Graf noch ausschließlich Verwaltungsbeamter war, die richterliche Funktion über den Hunni von dem[20] Tunginus ausgeübt wurde. Der Tunginus wäre also als Richter in dieser Zeit der alte princeps gewesen, der, vom Volke gewählt, für einen größeren Bezirk amtierte. Erst später zog der Graf diese tunginusfunktion in sein Amt hinein.

BRUNNER sucht diese Auffassung durch einige Bestimmungen der lex Salica zu erhärten; AMIRA in den Gött. Gel-Anz. 1896, S. 200, hat dieser Auslegung widersprochen; Rich. SCHRÖDER aber in der Hist. Zeitschr., Bd. 78, S. 196-198, ist für Brunner eingetreten.

In die eigentlich rechtshistorische Untersuchung kann ich mich nicht einmischen, doch scheint mir klar, daß Amira durch die Erwägungen Schröders nicht widerlegt worden ist. Schröder selbst kommt nicht weiter, als bis zu einer Wahrscheinlichkeit, »daß der dem Königsgericht gleichgestellte mallus publicus legitimus des Tunginus nicht mit dem. ... mallus, den tunginus aut centenarius zu berufen hatten, zusammenfiel«. Ein wirklicher Gegenbeweis gegen Amira ist also nicht geführt.

Es bleibt noch das Brunnersche Argument, daß, wenn der Tunginus nicht Richter eines größeren Gaues gewesen wäre, es außer dem König nur Hundertschaftsrichter gegeben haben würde. Dies Argument aber schwindet, wenn man die Chronologie näher ansieht.

SCHRÖDER, Hist. Zeitschr., Bd. 78, S. 200, sagt selbst, daß »schon das erste salische Kapitulare, das mit größter Wahrscheinlichkeit noch Chlodowech selbst zugeschrieben wird, als ordentlichen Richter des Gaues nicht mehr den Tungin, sondern den Grafen kennt«. Da nun erst Chlodwig selbst das Großkönigtum, das das persönliche Reiserichtertum nicht mehr ausüben konnte, geschaffen hat, so ist durchaus kein Grund, weshalb es bis dahin zwischen dem König (als Nachfolger des alten Fürstentums) und dem Hunno noch einen Richter gegeben haben soll. Ja, es erscheint sogar ganz aus geschlossen, daß gerade in dieser Zeit das aufkommende Königtum das Volk angehalten oder auch nur ihm erlaubt habe, sich einen Oberbeamten zu wählen, der der natürliche und notwendige Rival des vom König eingesetzten Grafen in der Grafschaft gewesen wäre. Man weiß, in welcher Art Chlodwig die Rivalen seiner Macht verfolgt und beseitigt hat. Mir scheint auf der Hand zu liegen, daß der Augenblick, in dem die Grafen die ordentlichen Richter des Gaues wurden, derselbe ist, in dem Chlodwig das eigentliche fränkische Großkönigtum schuf, das die fernere Ausübung des Amts als Reiseoberrichter durch den König unmöglich machte. Fällt sowohl das Bedürfnis, wie sogar die Existenzmöglichkeit für einen gewählten Gauoberrichter fort, so kann der Tunginus der lex Salica gar kein anderer als der Centenarius, d.h. der alte Hunno, gewesen sein. Der Irrtum der beiden Gelehrten wird damit zusammenhängen, daß sie die Stellung dieses Beamten in der Urzeit nicht genügend gewürdigt und, in der Vorstellung vom Tausendschaftsgau befangen, die Bedeutung und das Wesen der Hundertschaft nicht richtig eingeschätzt haben.[21]

Eine sichere etymologische Erklärung des Wortes Tunginus ist bekanntlich noch nicht gefunden. Vgl. darüber neuerdings VAN HELTEN, »Beitr. z. Gesch. der deutschen Sprache und Lit.«, herausg. von Sievers, Bd. XV, S. 456 (§ 145). Van Helten kommt neben der Bedeutung »vortrefflich«, »angesehen« auf »Vorsteher«, »rector«, hat gegen diese letztere Ableitung aber aus der bisherigen rechtsgeschichtlichen Auffassung entspringende sachliche Bedenken. Ist die von mir vorgetragene Auffassung richtig, so ist dies Bedenken gehoben.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 20-22.
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