Größe der Dörfer.

[18] Ein wesentlicher Punkt für meine Auffassung ist, daß wir uns die germanischen Dörfer als ziemlich groß vorzustellen haben. Man könnte sich zunächst auch etwa denken, daß die Hundertschaft (der Gau) aus einer Gruppe von ganz kleinen Dörfern bestanden habe. Diese Vorstellung ist wohl die bis jetzt allgemein angenommene. Sie ist jedoch quellenmäßig wie sachlich unschwer zu widerlegen.

1. Gregor von Tours erzählt Buch II, Kap. 9 nach Sulpicius Alexander, daß das Römische Heer, als es im Jahre 388 einen Zug in das Land der Franken machte, »ingentes vicos« bei ihnen fand.[18]

2. Die Identität von Dorf und Geschlecht kann keinem Zweifel unterliegen, und es ist positiv bezeugt, daß die Geschlechter ziemlich groß waren (s. oben S. 11).

3. In Übereinstimmung damit hat KIEKE BUSCH mit den Hilfsmitteln der Prähistorie die Größe einer germanischen Ortschaft in den beiden ersten Jahrhunderten n.Chr. auf wenigstens 800 Seelen berechnet. Die Begräbnisstätte von Darzau hat etwa 4000 Urnen enthalten und ist 200 Jahre lang benutzt worden. Das gibt im Jahr etwa 20 Todesfälle und das führt auf eine Volkszahl von wenigstens 800 Seelen.

4. Der Wechsel der Äcker und Wohnstätten kann, wenn auch vielleicht mit einer gewissen Übertreibung überliefert, doch nicht ohne einen Wahrheitskern sein. Dieser Wechsel der ganzen Ackerfluren und gar der Wechsel der Wohnstätten hat nur Sinn bei großen Dörfern, die einen sehr großen Bezirk besitzen. Kleine Dörfer, deren Flur sich nicht so sehr weit erstreckt, haben keine Veranlassung, einen anderen Wechsel als den zwischen Ackerfeld und Brache eintreten zu lassen. Große Dörfer haben dazu in ihrer Nähe nicht genug Ackerboden, müssen in die entfernteren Ecken ihres Bezirks gehen und machen sich das am bequemsten, indem sie das ganze Dorf verlegen. HETTNER, Das europäische Rußland (Geogr. Zeitschr., Bd. 10, H. II, S. 671) berichtet, daß in der russischen Steppe die Dörfer sehr große Feldmarken haben und die Menschen deshalb zur Zeit der ländlichen Arbeiten das Dorf verlassen und in rasch errichteten Hütten inmitten der Felder wohnen.

5. Jedes Dorf bedarf notwendig eines Oberhauptes. Der gemeinsame Ackerbesitz, das gemeinsame Austreiben und Hüten der Herden, die häufige Gefährdung durch Feinde und wilde Tiere machen eine Autorität an Ort und Stelle unentbehrlich. Man kann nicht einen Führer von wo anders herholen, wenn es gilt, sich gegen ein Rudel Wölfe zu verteidigen und sie zu verfolgen; einen feindlichen Überfall abzuwehren, bis Familien und Vieh geborgen sind; einen austretenden Bach einzudämmen und Feuer zu löschen; die kleinen Streitigkeiten des Tages zu schlichten; die Bestellung oder die Ernte zu beginnen – welches letztere bei gemeinsamen Ackerbesitz gleichmäßig geschieht. Ist das alles richtig, hat also das Dorf einen Schulzen, so ist dieser Schulze, da das Dorf das Geschlecht ist, der Geschlechtsälteste. Dieser aber muß, wie wir gesehen haben, identisch mit dem Hunno sein. Folglich ist das Dorf die Hundertschaft, folglich hat das Dorf an die hundert Krieger oder mehr, folglich ist es nicht so ganz klein.

6. Kleinere Dörfer haben den Vorzug, die Ernährung zu erleichtern. Die großen Dörfer aber, obgleich sie sogar die Unbequemlichkeiten des öfteren Verlegens des Dorfes mit sich brachten, waren den Germanen wünschenswert wegen der steten Gefahr, in der man lebte. Was auch immer drohte von wilden Tieren oder noch wilderen Menschen, immer war wenigstens sofort ein stattlicher Haufe von Männern bereit, dem Feinde die Stirn zu bieten. Wenn wir bei anderen barbarischen Völkern, z.B. später bei den[19] Slaven, kleine Dörfer finden, so kann das die Kraft unserer vorerwähnten Zeugnisse und Argumente nicht aufheben. Slaven sind eben nicht Germanen, und mancherlei ähnliches in den Zuständen postuliert noch nicht Gleichheit in allem; auch sind die Zeugnisse über die Slaven aus so viel späterer Zeit, daß sie sich schon auf eine andere Entwicklungsperiode beziehen können. Auch das germanische Großdorf ist ja später, als die Bevölkerung wuchs, der Ackerbau intensiver wurde und das Verlegen der Wohnsitze aufhörte, in Gruppen von kleineren Dörfern aufgelöst worden.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 18-20.
Lizenz: