Die Quellen.

[56] Während wir uns von dem Charakter, den Zuständen und der Betätigung der Germanen ein deutliches und zuverlässiges Bild machen können, können wir über die einzelnen historischen Ereignisse unserer Urgeschichte mit viel geringerer Sicherheit sprechen. Das liegt an dem Charakter unserer Quellen. Sie sind zahlreich und ausführlich, aber Irrlichter. Mußten wir schon Cäsars Erzählung von der Eroberung Galliens sehr vorsichtig benutzen, da sie nicht nur einseitig römisch ist, sondern auch nicht einmal durch andere römische Quellen kontrolliert werden kann, so sind wir für die Kämpfe der Römer mit den Germanen noch viel schlimmer daran. Zwar haben wir hier nicht bloß eine, sondern mehrere Quellen, aber fast alle nur aus zweiter, dritter, vierter Hand. Die Haupterzählung über die Schlacht im Teutoburger Walde, die uns vorliegt, Dio Cassius, ist erst zwei Jahrhunderte nach dem Ereignis geschrieben worden, und selbst Tacitus lebte doch ein Jahrhundert später, als die Germanicus-Feldzüge waren, die er uns beschreibt. Dieser Mangel ist aber noch der geringste, da doch unseren Erzählern gleichzeitige gute Berichte vorgelegen haben und wir an Vellejus Paterculus auch einen wohlinformierten Zeitgenossen als Zeugen haben. Viel schlimmer ist der Geist der Literatur dieser Epoche, der ganz und gar von der Rhetorik beherrscht ist. Diese Schriftsteller wollen nicht erzählen, wie es gewesen ist oder wie sie möchten, daß die Leser glauben sollen, daß es gewesen sei, sondern sie wollen vor allem durch die Kunst ihrer Rede Empfindungen erwecken und Eindruck machen. Mir scheint, daß bei den zahlreichen Untersuchungen, die den Schlachten des Arminus und Germanicus[56] bisher gewidmet worden sind, diese Charaktereigenschaft unserer Quellen, wenn auch oft hervorgehoben, doch kritisch noch lange nicht stark genug in Rechnung gezogen worden ist.

Nicht einmal das, was solche Quellen mit ausdrücklichen Worten sagen, ist objektiv zuverlässig, noch viel weniger aber sind es mittelbare Folgerungen, die aus ihren Schilderungen erst erschlossen werden, denn die Autoren selber haben ihre Schilderungen und die Gedankenverbindungen, die sie schufen, gar nicht als objektive Bilder der Wirklichkeit gemeint. Wir wollen uns das zunächst an einigen Beispielen klar machen.

Nach dem Bericht Dios, der durch Tacitus unterstützt wird, ist das Heer des Varus auf dem Marsch überfallen worden. Nach Florus hielt Varus im Lager gerade Gericht, als die Germanen plötzlich hereinbrachen. Der Widerspruch ist so stark, daß Ranke nicht anders geglaubt hat, als zwei verschiedene Begebenheiten annehmen zu müssen: die berühmte Schilderung Dios von dem Untergang der Legion auf dem Marsch durch die Wälder und Sümpfe in Regen und Sturm beziehe sich nur auf eine einzelne detachierte Abteilung, während Varus selbst tatsächlich in seinem Lager, Gericht haltend, überfallen worden sei. Schon Mommsen hat diese Trennung der Akte verworfen, da Florus' Schilderung von dem Überfall mitten in der Gerichtssitzung nichts als rhetorische Übertreibung der unklugen Sicherheit sei, in die sich Varus eingewiegt und durch die das Unglück herbeigeführt worden. Hierin ist Mommsen nicht nur zuzustimmen, sondern die ganze Substanz der vorliegenden Berichte ist mit demselben kritischen Scheidewasser zu behandeln, mit demselben Maßstabe zu messen, Tacitus eingeschlossen.

Florus schreibt »castra rapiuntur, tres legiones opprimuntur«. Es ist ganz falsch, aus dieser Reihenfolge der Angabe des Autors zu schließen, daß die Germanen erst das Lager nahmen und dann die Legionen anfielen.

Tacitus (ann. I, 61) berichtet, daß Germanicus im Jahre 15 in die Nähe des Varianischen Schlachtfeldes gelangt und, um die Toten zu bestatten, hingezogen sei. Er habe den Cäcina vorausgesandt, um das Waldgebirge zu rekognoszieren, Brücken und Dämme durch die feuchten Sümpfe und trügerischen Gefilde anzulegen (ut occulta saltuum scrutaretur pontesque et aggeres umido paludum et fallacibus campis imponeret). Man pflegt das so aufzufassen, daß der Marsch durch ein den Römern bisher wenig bekanntes, unwegsames Berg-, Wald- und Sumpf-Land gegangen sein müsse. Es ist aber keineswegs unmöglich, daß Germanicus eine vielbegangene Straße, ja sogar eine alte römische Heerstraße, benutzt hat. In den sechs Jahren seit dem Sturz der römischen Herrschaft in dieser Gegend war diese Heerstraße natürlich, so weit sie überhaupt ausgebaut gewesen war, verfallen, vielleicht von den Germanen absichtlich zerstört. Germanicus mußte also einige Brücken und Dämme wiederherstellen und, da die Germanen in der Nähe waren, die Waldgebirge längs der Straße sorgfältig absuchen lassen. Mehr ist aus der Schilderung Tacitus' nicht zu schließen.[57]

Tacitus schildert uns weiter, wie die Begleiter des Germanicus noch den Gang der Ereignisse hätten erkennen können: das erste Lager passend für drei Legionen, an der nächsten Stelle, entsprechend dem zusammengeschmolzenen Rest, mit verfallenem Wall, flachem Graben. Man hat daraus schließen wollen, daß Germanicus in derselben Richtung marschiert sei, wie Varus, da er erst auf das größere, dann das kleinere Lager stieß. Aber es ist, wie auch schon von Anderen bemerkt, sehr wohl möglich, daß Germanicus von der entgegengesetzten Seite gekommen ist und Tacitus nur um der Wirkung willen die Schilderung aufsteigen läßt.

Dio sagt (56, 18), die Germanen hätten den Varus vom Rhein an die Weser gelockt (προήγαγον αὐτὸν πόρρω ἀπὀ τοῦ ᾽Ρήνου). Man hat daraus schließen wollen, daß die germanische Verschwörung von langer Hand vorbereitet gewesen sei; absichtlich, mit List hätten die Germanen selbst Varus überredet, sein Lager tief im Innern ihres Landes aufzuschlagen. Aber es hindert nichts, anzunehmen, daß nur ein hyperbolischer Ausdruck vorliegt für die Verstellung und Verschlagenheit der Germanen, die den Römer in Sicherheit gewiegt hatte. Hätte er den Germanen nicht vertraut, so würde er das Standlager mit all seinem Anhang nicht bis an die Weser vorgeschoben haben.

Diese einzelnen herausgegriffenen Beispiele werden jedes für sich wohls ziemlich einleuchten, geben aber von der Sachlage doch noch kein richtiges Bild. Man bleibt geneigt, jede einzelne Wendung in den überlieferten Erzählungen, so lang nicht ein positiver Grund gegen sie ins Feld geführt wird, als glaubhaft anzunehmen, besonders bei einem Historiker wie Tacitus, dem man doch eine große Autorität nicht absprechen kann. Bei der richtigen Quellenauffassung ist man aber erst, wenn man völlig entschlossen ist, jeder einzelnen Wendung, auch wenn sie zunächst gar nicht verdächtig erscheint, das äußerste Mißtrauen entgegenzubringen.

Anzweiflung aller Einzelheiten ist noch nicht Verwerfung des Historikers selbst. Man muß sich klar machen, daß das, worauf es uns ankommt, etwas ganz anderes ist, als das, worauf es dem Römer ankam: dieser will eindrucksvoll charakterisieren, die einzelnen Facta sind ihm minderwertig. Wir aber legen alles Gewicht gerade auf diese einzelnen Linien, weil wir aus ihnen einen neuen, eigentümlichen Zusammenhang herstellen wollen, an den Tacitus gar nicht gedacht hat.

Wir werden gut tun, uns, wie schon öfter, die praktische Tragweite dieses Grundsatzes an einem Beispiel aus der neuesten Historiographie zu verdeutlichen. Ist eine Analogie auch kein Beweis, so gibt sie doch einen Maßstab an die Hand, und wer in der alten Geschichte arbeitet, wo die Kontrollen so schwer sind, tut, wenn er vorsichtig sein will, gut, immer von neuem einmal wieder an einem Beispiel der neueren Geschichte sich zu vergewissern, ob die Maßstäbe, mit denen er mißt, auch noch richtig sind.

Zu den prachtvollsten Stücken moderner Geschichtsschreibung gehört die Schilderung der Schlacht von Belle-Alliance in Treitschkes Deutscher Geschichte.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 56-58.
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