Zweites Kapitel.

Die Schlacht bei Straßburg. (Im Jahre 357.)

[273] Nachdem die Alemannen schon in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts den Limes durchbrochen und das Land auf dem rechten Rheinufer in Besitz genommen, hatten sie im Jahre 350 bei Gelegenheit eines römischen Bürgerkrieges zwischen den Kaisern Constantius und Magnentius auch das Gebiet zwischen dem Rhein und den Vogesen, das Elsaß, besetzt. Julian, von Constantius zum Cäsar ernannt und mit der Regierung Galliens betraut, beschloß, sie wieder über den Rhein zurückzutreiben, und nicht bloß das, sondern ihnen zugleich durch einen kräftigen Schlag das Wiederkommen zu verleiden. Statt sie etwa plötzlich zu überfallen und, was diesseits des Stromes war, zu verjagen, reizte er sie nur durch einige Überfälle, blieb aber mit dem Hauptheer an der Grenze stehen und legte bei Zabern, am Ausgang des Vogesenpasses ein befestigtes Lager an. Sofort kamen die Alemannen von jenseits des Rheins ihren Volksgenossen im Elsaß zu Hilfe. Das war es gerade, was Julian wollte. Sobald er erfuhr, daß eine ziemliche Menge den Rhein überschritten habe und bei Straßburg versammelt sei, ging er gegen sie vor.

Wir haben zwei Quellen, die uns ausführlich über die Schlacht berichten, Ammian, der selber noch unter Julius als Offizier gedient hat, und Libanius, einen Rhetor, der dem Kaiser persönlich nahe gestanden und ihm eine Leichenrede geschrieben hat, die uns erhalten ist. Wahrscheinlich geht die Erzählung beider, Ammians wie Libanius', auf dieselbe Urquelle, nämlich Julians eigene Memoiren, zurück.[273]

Libanius hebt nun stark hervor, mit wie gutem Vorbedacht der Cäsar die Schlacht angelegt habe: er hätte den Übergang der Barbaren über den Strom verhindern können, aber das habe er nicht gewollt, denn er habe nicht bloß einer kleinen Abteilung ein Gefecht liefern wollen. Er habe sich aber auch gehütet, sie alle herüberkommen zu lassen, denn alle Waffenfähigen, wie man später gehört, seien aufgeboten gewesen. Mit weniger zu kämpfen, sei ihm zu gering, mit allen zu gefährlich erschienen und unvernünftig.

Aus diesem einleuchtenden Raisonnement dürfen wir einen Schluß auf die Stärkeverhältnisse machen. Das eigene Heer Julians wird von Ammian auf 13000 Mann angegeben, und wir haben schon in anderem Zusammenhang dargelegt, daß diese Zahl vielleicht etwas zu gering sein mag, sich aber jedenfalls nicht sehr weit von der Wahrheit entfernt. Sagen wir 13000 bis 15000, so werden wir uns genügend gesichert haben.

Die Stärke der Alemannen beziffern die Römer mit der üblichen, nicht wiederholenswerten Übertreibung. Aus dem strategischen Plan Julians ergibt sich mit Sicherheit, daß er es darauf anlegte, sie anzugreifen, während sie um einiges, aber nicht so sehr viel schwächer waren, als er selbst; der Erfolg zeigt, daß er richtig gerechnet hat: wir dürfen also annehmen, daß die Alemannen 6000 bis 10000 Mann stark waren.

Einigermaßen in Widerspruch mit dem von Libanius überlieferten strategischen Gedanken Julians steht die Erzählung Ammians, daß der römische Feldherr, von Zabern ausmarschierend, mittags Halt gemacht und die Schlacht auf den anderen Tag habe verschieben wollen, bis der Eifer und der Zuruf der Soldaten ihn zu sofortigem Vorstehen bewogen. Durch die Verzögerung auch nur eines halben Tages hätte dem Feinde doch eine erhebliche Verstärkung noch zuwachsen können. Die Entfernung von Zabern bis Straßburg beträgt reichlich vier Meilen. Der Zusammenhang dürfte daher der sein, daß der Kaiser wohl wünschte und beabsichtigte, die Schlacht sofort zu schlagen, aber um nach dem anstrengenden Marsch in der Augustsonne den guten Willen der Truppen zu beleben, die Entscheidung anscheinend von ihnen selbst[274] treffen ließ, indem er sich stellte, als solle das Lager bezogen werden.

Der Platz der Schlacht ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen; nur soviel ist klar, daß nicht nur die Überzahl auf Seiten der Römer war, sondern auch der strategische Vorteil, daß sie selbst im äußersten Fall das feste Lager von Zabern hinter sich hatten, die Alemannen aber die Gluten des Rheinstroms. Vielleicht daß die Germanen in ihrem kriegerischen Trotz gerade umgekehrt folgerten, daß die Unmöglichkeit eines Rückzuges die eigene Kraft auf das Höchste treiben werde.

Von sieben Königen (Fürsten, principes im alten Sinne) wurden sie angeführt; der vornehmste war Chnodomar, der die Reiterei auf dem linken Flügel kommandierte. Unwiderstehlich war er in den Jahren vorher durch Gallien gezogen und hatte gehöhnt über die römischen Städte, die er, nachdem er sie ausgeraubt, in Asche gelegt. Die Römer schildern ihn uns, wie er einhersprengt an der Spitze seiner Reiter, auf schäumendem Roß, in schimmernden Waffen, vertrauend auf die Riesenkraft seiner Arme, angestemmt einen Spieß von ungeheurer Länge, durch das Haar ein rotes Band gewunden, stets ein wackerer Krieger und jetzt ein ausgezeichneter Feldherr.

Der rechte Flügel der Alemannen, aus Fußvolk bestehend, lehnte sich an einige Terrainhindernisse, die Ammian einmal als »insidiae clandestinae et obscurae«, dann als »Gräben« bezeichnet, die von Bewaffneten gefüllt gewesen seien; Libanius spricht von einem Aquädukt und dichtem Rohr und sumpfigem Platz, wo sie einen Hinterhalt gelegt hätten. Der linke Flügel der Römer stutzte, als er diese Schwierigkeiten bemerkte; Julian selber soll ihn vorwärts gebracht haben, entweder durch seinen bloßen Zuruf oder indem er ihm eine kleine Reiterabteilung von 200 Mann zuführte. Es scheint, daß diesem Flügel angesichts der Bodengestaltung anfangs gar keine Kavallerie zugeteilt war und daß nun doch eine gewisse Flankendeckung notwendig wurde, ehe man an die eigentliche Stellung des Feindes heranging. Dann aber wurde dieser sofort geworfen und verfolgt.

Auf dem andern Flügel, wo freies Feld war, hatten beide Teile das Gros ihrer Kavallerie; im Sturm ritten hier die Germanen[275] unter Chnodomars Führung an, sie schwangen ihre Waffen mit der Rechten und knirschten vor Wildheit, ihre langen Haare flogen, die Wut blitzte ihnen aus den Augen (tela dextris explicantes involavere nostrorum equitum turmas, frendentes immania, eorumque ultra solitum saevientium comae fluentes horrebant et elucebat quidam ex oculis furor). Den Reitern waren die leichten Fußgänger beigemischt. Die römischen Reiter vermochten den Anblick der Heranwogenden nicht zu ertragen und machten Kehrt.

Unsere Quellen berichten nun, daß der Cäsar sich persönlich den Fliehenden entgegengeworfen und sie durch Ansprachen zu ihrer Pflicht zurückgeführt habe; sie erzählen uns auch – freilich von einander abweichend –, was er gesagt, und Libanius vergleicht ihn mit dem Telamonier Ajax, Ammian mit Sulla, der in einer Schlacht gegen Mithridat seine Leute ähnlich herumgerissen haben soll. Diese Feldherrntat kehrt sehr häufig in der Kriegsgeschichte wieder, aber um je größere Heere es sich handelt, desto sicherer ist sie gelogen. Höchstens bei ganz kleinen Abteilungen könnte sie einmal wahr sein. Truppen, die bereits fliehen und denen der Feind im Nacken liegt, sind durch keine bloßen Worte mehr zum Stehen zu bringen, am allerwenigsten Reiter. Ist eine Reitermasse einmal, von der Angst gepackt, davon gegangen, so kommt sie nicht eher zum Halten, als bis irgend ein physisches Hindernis oder Ermüdung die Flucht hemmt. In den »Militärischen Briefen« des Prinzen Kraft Hohenlohe (I, 78) kann man eine drastische Schilderung lesen, wie machtlos ein Kommandeur ist, der eine von der Panik ergriffene Reitertruppe, selbst wenn sie gar keinen wirklichen Feind hinter sich hat, zum Stehen bringen will. Die Leute hören ihn nicht, und unaufhaltsam wälzt sich die Masse meilenweit rückwärts. Wo fliehende Truppen wieder zum Stehen und zu neuem Angriff gebracht worden sind, ist es immer nur mit Hilfe frischer, neu eingreifender Abteilungen geschehen. Der reichere Quellenfluß der neueren Geschichte gibt uns die Möglichkeit, einmal Dichtung und Wahrheit in einer solchen Erzählung mit Sicherheit nebeneinanderstellen zu können, und diese Parallele mag hier mit Nutzen gezogen werden. Habsburgische Schriftsteller erzählen uns, wie in[276] der Schlacht bei Aspern Erzherzog Karl die wankende Schlachtlinie dadurch hergestellt, daß er die Fahne eines Bataillons ergriff; wie durch einen Blitzschlag nach dem Einen, durch einen elektrischen Schlag nach dem Anderen, durch einen Zauberschlag nach dem Dritten soll dadurch alles verwandelt worden sein. Genauer Vergleich der Zeiten hat gelehrt, daß gleichzeitig die ganze österreichische Reserve, 17 Grenadierbataillone, in die Schlachtlinie gerückt sind, was die etwas höfisch angehauchten Schriftsteller neben der Heldentat des erlauchten Feldherrn nicht für nötig gehalten haben zu erwähnen.

Sehen wir unsere römischen Quellen genauer an, so erkennen wir aus ihnen, daß in der Alemannenschlacht etwas ganz Ähnliches geschehen ist. Ammian drückt sich über die Rückkehr der Reiter ins Gefecht nur sehr allgemein aus, und bei einem späteren Schriftsteller, Zosimus, finden wir sogar die positive Nachricht (Buch III, cap. 4), sie hätten sich nicht zur Wiederaufnahme des Kampfes gewegen lassen. Daß dem so gewesen, geht auch aus Ammians weiterer Erzählung hervor, wonach die alemannischen Reiter nach ihrem Siege über die römischen sich auf das feindliche Fußvolk stürzten. Das hätten sie nicht tun können, wenn sie den Reiterkampf noch hätten fortsetzen müssen.

Wir wissen aus zahlreichen antiken Schlachten, wie gefährlich ein Kavallerieangriff aus der Flanke für die Infanterie war. Wir ersehen daraus, daß Chnodomar seine Mannschaft in der Hand hatte und sie zu führen verstand. Wir erkennen jetzt aber auch, daß die alte römische Taktik noch existierte und Julian Feldherr genug war, um der drohenden Gefahr zu begegnen. Denn wenn Ammian uns vorher erzählt hat, daß er den größeren Teil seines Heeres der Front der Barbaren gegenübergestellt hatte, so hören wir jetzt, daß, als die alemannischen Reiter sich gegen das römische Fußvolk wandten, die Cornuten und Braccaten den Barritus anstimmten, d.h. doch wohl, daß diese Truppenteile erst jetzt ins Gefecht rückten, also vorher im zweiten oder dritten Treffen oder in Reserve gestanden hatten und nun dem feindlichen Flankenangriff entgegengeführt wurden. Das ist dasselbe Bild wie auf dem rechten Flügel Cäsars in der Schlacht von Pharsalus: eine vorher bereitgestellte Infanterie fängt den Flankenangriff[277] der feindlichen Kavallerie ab. Dies Verfahren muß sich in der römischen Tradition erhalten haben, und wenn es sonst nicht der Fall gewesen wäre: Julian war ein Mann von Bildung, der Cäsars Kommentare kannte.

Bei Cäsar ist es eben dieser Flügel, der mit seinem Rückstoß nun auch die Entscheidung bringt. Die Straßburger Schlacht verläuft insofern anders, als die Verstärkung das Gefecht hier nur zum Stehen bringt: mittlerweile aber haben bereits die Römer auf ihrem andern Flügel gesiegt. Trotz der Flucht der Reiterei mag die numerische Überlegenheit des rechten Flügels der Römer recht erheblich geblieben sein und drückte endlich, indem der siegreiche linke Flügel dem rechten zu Hilfe kam, die Alemannen nieder.

Nach Ammian verloren die Römer 243 Tote, darunter vier höhere Offiziere. Diese Zahl scheint in Widerspruch zu stehen mit der Schilderung, die das Gefecht als äußerst hartnäckig und blutig ausmalt. Unmöglich ist es aber nicht, daß die Verlustangabe (gegen 1500 Tote und Verwundete, wie wir zu rechnen pflegen) richtig ist. Die römische Reiterei, die den feindlichen Choc gar nicht annahm, mag fast ganz ohne Verlust davongekommen sein, und als nun das Fußvolk dem Flankenangriff doch standhielt, war die Schlacht für die Alemannen verloren und mag ziemlich schnell zu Ende gekommen sein.

König Chnodomar fiel mit allen seinen Gefolgsmännern in römische Gefangenschaft. Ein großer Teil des germanischen Heeres ging unter auf der Flucht in den Fluten des Rheins.


1. Die Alemannenschlacht militärisch zu analysieren hat W. WIEGAND versucht in den »Beiträgen zur Landes- und Volkskunde von Elsaß-Lothringen« (III. Heft; 1887), nützlich durch die sorgsame Heranziehung und Verarbeitung des Quellenmaterials, aber sachlich durchaus dilettantisch und verfehlt. Es ist nicht der Mühe wert, die falschen Urteile und Verknüpfungen Satz für Satz aufzudecken. Hauptsächlich sucht der Verfasser darzutun, daß die Schlacht zwischen Hürtigheim und Oberhausbergen, fast zwei Meilen westlich des Rheinlaufes bei Straßburg, stattgefunden habe. Das ist weder mit den Quellen noch mit der strategischen Lage vereinbar. Weshalb sollte Julian nach einem Marsch von nicht mehr als 16 Kilometern bereits Halt gemacht und die Schlacht auf den anderen Tag haben verschieben wollen?[278] Nach einem Marsch von fast 4 Meilen ließ sich schon eher die Frage aufwerfen, ob die Truppen für eine Schlacht nicht zu ermüdet seien. Wiegand wirft sich ferner selber ein (S. 36), daß Ammian den Fluß dicht hinter dem Rücken der Germanen ziehe, und sucht diesen Einwand zu heben durch die Annahme, daß die Ill damals einen Rheinarm gebildet habe, der nur 8 Kilometer hinter der Linie der alemannen gewesen sein würde. Die Annahme ist möglich, aber die Entfernung immer noch zu groß, da Ammian (XVI, 12, 54) von den Fliehenden sagt »ad subsidia fluminis petivere, quae sola restabant, eorum terga jam perstringentis«. Wozu sollen die Alemannen den Römern überhaupt weiter, als daß sie sich frei bewegen konnten, entgegengegangen sein? Blieben sie dem Rhein näher, so gewannen sie entweder noch einen Tag, während dessen ihnen weitere Mannschaften zuzogen, oder die Römer gingen in die Schlacht, ermüdet durch einen sehr starken Tagemarsch. Über 12 Kilometer von Rhein konnten selbst die germanischen Mannschaften, die im Laufe dieses Tages über den Strom kamen, kaum noch den Anschluß an die Schlacht erreichen. Daß man in der Rheinebene selbst, wie Wiegand meint (S. 27), den Römern den Angriff von der Höhe herab überlassen hätte, ist nicht richtig: die Ebene ist breit genug. Auch eine Flügelanlehnung, falls sie danach suchten, konnten die Alemannen wohl in größerer Nähe des Stromes finden. Der einzige Nachteil, der damit verbunden war, lag darin, daß im Fall der Niederlage man so wenig Spielraum hatte, nach rechts oder links auszuweichen, sondern gleich in den Fluß mußte. So aber schildern uns die Quellen gerade die Situation. Wäre die Schlacht reichliche 1 1/2 Meilen oder auch nur 8 Kilometer vom Flußufer entfernt gewesen, so wäre bis dahin die Verfolgung schon erlahmt gewesen, zum wenigsten durch die Infanterie, und von den römischen Reitern war ein großer Teil vom Schlachtfelde verscheucht und schwerlich schon wieder zur Stelle.

2. Die Stellung der Römer beschreibt Ammian, XVI, 12, 20: »steterunt vestigiis fixis, antepilanis hastatisque et ordinum primis velut insolubili muro fundatis«. Wie die einzelnen Ausdrücke in diesem Passus zu verstehen sind, ist schwer zu sagen. Die primi ordines sind die vornehmsten Centurionen, vielleicht die Kommandeure der Kohorten, aber ob noch in dieser Zeit? Nun gar Hastaten und Antepilanen sind im vierten Jahrhundert schwer unterzubringen. MARQUARDTS Auslegung (Röm. Staatsverw. II, 372, Anmkg. 1), es handle sich um die Aufstellung in drei Treffen; die Hastaten das erste, die Antepilanen das zweite, die primi ordines, d.h. die pilani = triarii das dritte, ist auf jeden Fall unrichtig. Das Hintertreffen bildeten, wie wir aus dem gang der Schlacht ersehen haben, die Cornuten und Braccaten; die primi ordines sind nicht Triarier, und die antepilani hätten als zweites Treffen nicht zuerst genannt werden dürfen. Wahrscheinlich will uns Ammian nur mit möglichstem Pomp die Festigkeit der Aufstellung schildern[279] und gebraucht neben den primo ordines, den bewährtesten Offizieren im ersten Gliede, die Ausdrücke »antepilani, hastiti« nur rhetorisch als antiquarische Reminiszenzen.

3. Die strategischen Bewegungen, die der Schlacht vorhergehen, sind in Ammians Erzählung wenig glaubwürdig und kaum verständlich. Es ist aber für unsern Zweck nicht nötig, darauf einzugehen.

4. Sehr drastisch schildert uns Ammian, wie im Beginn der Schlacht die Germanen verlangten, daß die Fürsten vom Pferde steigen und zu Fuß kämpfen sollten, damit sie nicht im Falle einer Niederlage den gemeinen Mann im Stich lassen und sich selber retten könnten. Sobald Chnodomar diesen Ruf vernommen, sei er vom Pferde gesprungen und ihm nach die übrigen.

Dieser Erzählung möchte ich doch den Glauben versagen. Chnodomar flieht nach der Niederlage zu Pferde. Hätte er zu Fuß gekämpft, so hätte er an der Spitze eines Keils sein müssen. Es ist schwer zu sehen, wie er und seine 200 Gefolgmänner von hier hätten zwecks der Flucht wieder zu ihren Pferden kommen können. Mag das nun auch nicht schlechterdings unmöglich sein, so bedurfte die Reiterei doch auf jeden Fall eines Anführers. War es nicht Chnodomar, so mußte es einer der anderen Fürsten sein. Völlig unmöglich ist gar, daß Chnodomar, der schon als ein Mann schweren Leibes geschildert wird, als Fußgänger unter den Reitern gekämpft habe. So wie sie dasteht, daß alle Fürsten zu Fuß gekämpft hätten, scheint also die Erzählung unmöglich, und wir müssen dahingestellt sein lassen, was daran wahr ist.

5. KOEPP, Die Römer in Deutschland, S. 96, erklärt es für eine müßige Arbeit, zu überlegen, wie stark die Alemannen wohl gewesen sein möchten, da uns keine zuverlässige Zahl überliefert sei und die Anhaltspunkte für unsere eigene Schätzung ganz unzulänglich seien. Das kann man mit einem gewissen Recht sagen, und doch entfernt Koepp sich damit nicht so weit von meinen Auffassungen, wie es scheint. Daß die niedrigste überlieferte Angabe von 30-35000 Alemannen zu hoch, vielleicht um Zehntausende zu hoch ist, spricht auch er aus. Daß die Angabe für das römische Heer mit 13000 Mann leidlich zuverlässig ist, nimmt auch er an; die Einschränkung, die ich hinzufüge, daß die Angabe möglicherweise um einige Tausend zu gering sei, da sie auf Julian selbst zurückgeht und die Feldherren aller Zeiten erfahrungsmäßig in diesem Punkt eine gewisse Schwäche zeigen, dürfte sich kaum bestreiten lassen. Daß die Alemannen weniger als 6000 Mann gewesen seien, wird auch Koepp nicht glauben, die ganze Differenz ist also, daß es möglicherweise einige tausend Mann mehr gewesen sind, als ich annehme. Ich behaupte keineswegs, daß das ganz unmöglich ist, aber es ist sicher in[280] hohem Maße unwahrscheinlich. Es ist unwahrscheinlich, daß die Römer ein erheblich überlegenes Heer dieser wilden Alemannen überhaupt besiegen konnten, es ist um so unwahrscheinlicher, als ihre Reiterei bereits geschlagen war, es ist zum drittenmal unwahrscheinlich, weil ausdrücklich berichtet wird, daß Julian die Gegner angriff, ehe sie ganz versammelt waren, als er noch glaubte, sie mit Sicherheit schlagen zu können. Man könnte sich ja nun begnügen, diese Verhältnisse anzugeben, ohne schließlich, wie ich es getan habe, wenn auch nur vermutungsweise, eine bestimmte Zahl auszusprechen. Man kann darüber verschiedener Meinung sein. Immer aber ist es besser, eine solche, doch immerhin annähernd richtige Zahl positiv zu nennen, als umgekehrt die ganz sicher falschen, überlieferten Zahlen zu nennen unter Hinzufügung des Zweifels. Denn trotz des zugefügten Zweifels bleibt in dem Leser doch ein unbestimmtes, halb unbewußtes Bild einer gewaltigen Masse, und damit also jene grundfalsche Vorstellung, die das Wesen der Völkerwanderung von je und bis auf den heutigen Tag in einer ungeheuerlichen Verzerrung hat erscheinen lassen. Daß ich keinen eigentlichen positiven Beweis dafür habe, daß die Alemannen in der Schlacht bei Straßburg nur 6000-10000 Mann stark gewesen sind, daß es sich nur um eine Vermutung von einer gewissen Wahrscheinlichkeit handelt, habe ich deutlich genug ausgesprochen, und auch über das Motiv, mich nicht mit Allgemeinheiten zu begnügen, sondern positive Zahlen auszusprechen, habe ich keinen Zweifel gelassen. Es geschieht, wie ich bei der Prüfung der Zahlen in der Schlacht bei Pharsus dargelegt habe, nicht um etwas zu behaupten über Tatsachen, über die wir nun einmal nichts mit Sicherheit wissen, sondern um der Anschaulichkeit willen, die in dem Leser erst dann erweckt wird, wenn man ihm, auch nur vermutungsweise, eine positive Zahl an die Hand gibt, besonders hier, wo es gilt, gegen ganze Weltenbilder, die auf die überlieferten falschen Zahlen aufgebaut sind, anzukämpfen und sie aus dem Vorstellungskreis der Geschichtswissenschaft zu verdrängen. Wie nötig ist es, immer wieder an dieser Stelle zu arbeiten, mag man daran ermessen, daß noch im Jahrgang 1906 des Philologus S. 356 ein Forscher wie Domaszewski den Kaiser Gallien ganz harmlos 300000 Alemannen, die in Italien eingefallen sind, vernichten läßt.[281]

Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 273-282.
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