Die Hundertschaft in der Völkerwanderung.

[329] Daß der Verband der Hundertschaft in der Völkerwanderung eine besondere Zähigkeit bewährt hat, ist sehr gut dargelegt von Karl WELLER: »Die Besiedelung des Allemannenlandes« in den Württemberg. Viertelj.-Heft. f. Landesgesch. R. F. Bd. VII (1898). Der Verf. geht zwar von einer falschen Voraussetzung aus, indem er noch an einen ursprünglichen Tausendschaftsgau glaubt, aber indem er diesen verschwinden[329] und die alte Unterabteilung, die Hundertschaft, an seine Stelle treten läßt, tritt deren Kraft und Bedeutung nur um so stärker hervor.

Aus derselben Arbeit entnehme ich auch, wieder etwas gegen die Meinung des Autors selber, einen sehr schönen Beweis für die Identität von Hundertschaft und Geschlecht.

Weller weist nach, daß noch in den Urkunden des achten Jahrhunderts nicht ganz wenig allemannische Orte auf -ingen als die Hauptorte ansehnlicher Marken erscheinen. Es sind die Urmarken, die auch als Hundertschaften erscheinen, z.B. Munigisinga, Munigises huntare, Münsingen; Muntarihes huntari, Munderkingen; centena Eritgauvoia, Ertingen; Pfullichgau, Pfullingen. Die Orte auf -ingen sind die Ansiedlungen eines Geschlechts, das nach seinem Führer bekannt wurde, eines Munigis, Muntarih, eines Erit, eines Phulo.213

Unmöglich kann man nun annehmen (wie es freilich Weller tut), daß sowohl der Gau, wie eine Ortschaft unter mehreren innerhalb des Gaues nach demselben Manne benannt worden seien. Wären mehrere Geschlechter innerhalb der Hundertschaft gewesen, so wären sie doch gleichwertig gewesen, und nicht immer wieder können wir finden, daß der ganze Gau und ein Geschlecht aus ihm denselben Namen haben. Vielmehr zeigt diese Namensgleichheit deutlich die ursprüngliche Identität: jeder Hundertschaftsgau hat ursprünglich nur einen Ort; sie haben denselben Namen, weil sie zusammenfallen. Die anderen Orte sind später gegründete Tochterdörfer.

Sehr gut paßt hierzu auch die Beobachtung Wellers (S. 31), daß in den später von den Allemannen besiedelten Gebieten, dem Elsaß und der Schweiz, die Hundertschaftsbezirke eine viel geringere Rolle spielen, als in dem Gebiete rechts des Rheines. Der Grund ist, daß in der Zwischenzeit der Hundertschaftsverband bereits sehr gelockert und zurückgetreten war.

Des weiteren zeigt sehr deutlich die Natur der allemannischen Hundertschaften die Tatsache, daß die Namen, die wir an der oberen Donau finden, sich in fast derselben Reihenfolge im Üchtland in der Schweiz wiederholen:214 Waldgau, Baargau, Ufgau (Uf-Afa), Schwarzenburg (Swerzagau), Scherli (Scherrigau), Eritgau (Eriz), Munisiges Huntari (Munsingen). Die Erscheinung kann doch wohl kaum anders erklärt werden, als daß die alten Hundertschaften sich teilten, die einen blieben sitzen, die anderen gingen auf die Wanderschaft und übertrugen auf die neue Siedelung den alten Namen.[330]

BRUNNER, Dtsche. Rechtsgeschichte (erste Aufl.) I, 117, hat die Tatsache, daß die meisten allemannischen Hundertschafsnamen aus Personennamen gebildet sind, daraus erklären wollen, daß die Einteilung erst bei der Unterwerfung durch die Franken getroffen worden sei; der Name sei der des Vorstehers, »unter welchem die Benennung der Hundertschaft zu dauernder Geltung gelangte«. Aber die Hundertschaft kann doch nicht bis dahin ohne Namen gewesen sein; es wäre ja möglich, daß die Hundertschaften lange keinen eigenen Namen gehabt, sondern immer nach dem Namen des jeweiligen Häuptlings genannt worden sind, und daß schließlich einer haften geblieben ist. Auch Procop (bell. Vand. I, 2) ist der Ansicht, daß die germanischen Stämme nach ihren Führern benannt worden seien. Das würde für unsere Auffassung keinen Unterschied machen. Für Brunner aber ist diese Auslegung nicht möglich, da er ja die alte ursprüngliche Hundertschaft für einen bloßen, nach Bedürfnis zusammengesetzten Personalverband hält. Wäre das richtig, so müßte allerdings die Einteilung des Landes in Hundertschaften eine zu irgend einer späteren Zeit, also vermutlich durch die Franken, von oben her verfügte systematische Organisation gewesen sein. Die Hundertschaft der alten Zeit und die Hundertschaft der allemannisch-fränkischen Zeit hätten also gar nichts miteinander zu tun.

Das ist nun gewiß nicht nur von vornherein sehr unwahrscheinlich, sondern es bleibt auch dabei die Identität des Namens der Hundertschaft und ihres Hauptortes unerklärt. Angenommen, die Franken hätten die Hundertschaften in Allemannien erst geschaffen und nach dem ersten Hunno, den sie einsetzten, benannt: wie soll es gekommen sein, daß der Hauptort des neugeschaffenen Bezirks denselben Namen hat?

Ganz anders, wenn der Bezirk ursprünglich nur den einen (von Allemannen bewohnten) Ort hatte, mit anderen Worten, wenn die Hundertschaft mit ihrem Häuptling zusammen sich an einem Fleck ansiedelte: mit dieser Tatsache ist sowohl die Identität des Hundertschafts- und des Ortsnamens; wie die Ableitung dieses Namens aus einem Personennamen, alles mit einem Schlage erklärt, und weiter folgt daraus, daß, da die Identität von Dorf und Geschlecht zugegeben wird, auch Hundertschaft und Geschlecht identisch waren.

In der 2. Aufl. S. 161 hat BRUNNER seine Auffassung etwas modifiziert. Er gibt jetzt zu, daß »allemannische Hundertschaften immerhin über die Zeit der fränkischen Unterwerfung hinaufreichen mögen«. Sie sollen durch »Radicierung« des ursprünglich persönlichen Verbandes entstanden sein. Daß die Hundertschaft und ein Ort in ihr denselben Namen haben, scheint ihm keinen Schluß zuzulassen, da sich ja in der Sippe dieselben Namen nicht selten wiederholten – die Erscheinung wäre also ein bloßer Zufall. An einen solchen immer wiederholten Zufall kann man doch nur schwer glauben.[331]

Einige der schwäbischen Gaue heißen ursprünglich »Baren« z.B. »Perichtilinpara«, »Adalhartespara«, BAUMANN, Gaugrafschaften im württemberg. Schwaben, und Forsch. z. Schwäb. Gesch. S. 430 will das Wort zusammenbringen mit »Barra« Schranke, d.h. Gerichtsstätte. So auch BRUNNER D. Rechtsg. II, 145. Herm. FISCHER, Schwäbisches Wörterbuch setzt im Anschluß an die jetzige Aussprache pâra mit â an und will es mit baren, Gebärde zusammenbringen und daraus die Bedeutung »Amtsbezirk« oder »Gerichtsbezirk« ableiten. Dazu schreibt mir mein Kollege M. ROEDIGER:

»Wenn das wurzelhafte a in para ursprünglich lang ist, dürfte es dasselbe Wort sein, wie mhd. bâra. bâre, nhd. Bahre, also zu beran ›tragen, hervorbringen‹ gehören. bâra ist etwas tragendes, hervorbringendes, in unseren Zusammensetzungen die tragende Erde, ein ertragliefernder Landstrich. Die Bedeutung ›Amtsbezirk, Gerichtsbezirk‹, liegt ursprünglich nicht darin.«

Wenn die Bezeichnung »Para« darauf führt, daß nicht ein Gerichtsbezirk, sondern eine Wirtschaftseinheit das Wesen des schwäbischen Gaus bei der Einwanderung ausmachte, so ist das ein neues Argument für meine Auffassung. Es ist die noch nicht in kleinere Dörfer aufgelöste Hundertschaft, die unter Führung ihres Häuptlings, nach dem sie sich nennt, einheitlich ein Gebiet in Besitz nimmt und gegen die Nachbar-Hundertschaften unter Leitung der Prinzipes abgrenzt.


Quelle:
Hans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Berlin 1921, Teil 2, S. 329-332.
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