Vormittagssitzung.

[281] GERICHTSMARSCHALL: Darf ich dem Gerichtshof mitteilen, daß der Angeklagte Ribbentrop heute abwesend ist.

VORSITZENDER: Sind die Herren sowohl der Verteidigung als auch der Anklagebehörde damit einverstanden, wenn wir uns heute um 2.00 Uhr mit den Fragebögen und eidesstattlichen Versicherungen befassen, die seit den letzten Anträgen eingelaufen sind?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE, STELLVERTRETENDER HAUPTANKLÄGER FÜR DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH: Die Anklagebehörde ist damit völlig einverstanden, Euer Lordschaft.


VORSITZENDER: Paßt es der Verteidigung, diese Dinge um 2.00 Uhr zu behandeln, Dr. Sauter?


DR. SAUTER: Sicherlich, Herr Präsident! Ich werde die anderen Verteidiger davon verständigen lassen, daß um 2.00 Uhr diese Anträge besprochen werden.


DR. RUDOLF DIX, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN SCHACHT: Ich folge Kollege Dr. Sauter, daß dies geschieht. Aber gerade um 2.00 Uhr wird dann mein Plädoyer unterbrochen. Ich wäre sehr dankbar, wenn dies geschehen könnte im Anschluß an das Ende des Plädoyers des Kollegen Dr. Sauter, damit ich im Zusammenhang sprechen kann. Es wäre sehr unangenehm für mich, wenn ich unterbrochen würde.


VORSITZENDER: Ja, natürlich, Dr. Dix, gut! Wir werden es also gleich nach Dr. Sauters Plädoyer tun.


DR. SAUTER: Kann ich jetzt sprechen, Herr Präsident?


VORSITZENDER: Jawohl, Dr. Sauter.


DR. SAUTER: Meine Herren Richter! Ich habe vor der Vertagung am Freitag zum Schluß die Stellung und das Verhalten des Angeklagten Funk zur Judenfrage gewürdigt und bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen, daß bei dem Erlaß der Durchführungsverordnungen zum gesetzlichen Ausschluß der Juden aus dem Wirtschaftsleben vom Ende 1938 der Angeklagte Funk nur in seiner Eigenschaft als Reichsbeamter und in Erfüllung der Pflichten dieses Amtes gehandelt hat.

Ich habe am Freitag meine hierauf bezüglichen Ausführungen mit den Worten beendet: Pflichtbewußtsein auf der einen und menschliches Empfinden auf der anderen Seite sei es gewesen, das den Angeklagten Funk auf seinem Posten hielt und ihn damit in [281] eine Situation brachte, die ihm heute als verbrecherische Handlungsweise zur Last gelegt wird.

Nunmehr, meine Herren Richter, wende ich mich zum letzten Kapitel, der Würdigung des Angeklagten Funk, seiner Motive und seiner Handlungen und beschäftige mich infolgedessen mit den SS-Goldablieferungen an die Reichsbank und mit dem Verhältnis des Angeklagten Funk zur Frage der Konzentrationslager. Also ich bringe Ausführungen, die auf Seite 58 des Ihnen vorliegenden schriftlichen Exposés niedergelegt sind.

Es ist eine wirklich besondere Tragik im Leben des Angeklagten Funk, daß er nicht nur im Jahre 1938 durch das Schicksal dazu verurteilt wurde, die Durchführungsverordnungen zu Gesetzen erlassen zu müssen, die er innerlich stets verurteilte und ablehnte wie kein zweiter, sondern daß er dann nochmals, nämlich im Jahre 1942, in einer besonders fürchterlichen Weise mit Judenverfolgungen in Zusammenhang geriet. Ich denke hier an das Depot der SS bei der Reichsbank, also an die Angelegenheit, für die hier ein Film aus der Stahlkammer der Reichsbankfiliale Frankfurt vorgeführt und für die zwei Zeugen gehört wurden, nämlich der Vizepräsident Emil Puhl und der Reichsbankrat Albert Thoms.

Über diese Angelegenheit des Golddepots der Reichsbank war der Angeklagte Funk schon im Vorverfahren, nämlich am 4. Juni 1945, gelegentlich befragt worden, in der Urkunde 2828-PS, allerdings waren ihm damals Einzelheiten nicht bekanntgegeben worden, und Funk hat auch damals dasselbe wie hier vor Gericht erklärt, nämlich, daß er mit dieser Angelegenheit nur einige wenige Male kurz befaßt worden war und daß er ihr keinerlei Bedeutung beigemessen habe. Das ist auch der Grund, warum der Angeklagte Funk sich an diese Vorgänge zunächst hier in der Verhandlung nicht mehr genauer erinnern konnte. Er wußte also davon nicht mehr, als er schon früher gesagt hatte. Immerhin aber, meine Herren Richter, mußte Funk damit rechnen, daß diese Sache in der Verhandlung, jedenfalls beim Kreuzverhör, zur Sprache gebracht werden würde. Das geschah denn auch durch die Amerikanische Anklagevertretung am 7. Mai 1946, und sie hat ein Affidavit des Zeugen Emil Puhl, des Vizepräsidenten der Reichsbank, vorgelegt, worin Puhl zunächst den Angeklagten Funk schwer zu belasten schien. Nun ist es bemerkenswert, daß der Angeklagte Funk seit Beginn des Prozesses immer wieder gerade auf diesen Zeugen Puhl sich für verschiedene Punkte beruft und daß er seit Dezember 1945 dessen Vernehmung wiederholt verlangt hat. Das hätte nach menschlichem Ermessen Funk sicher nicht getan, wenn er ein schlechtes Gewissen gehabt hätte und wenn er damit hätte rechnen müssen, daß er durch seinen eigenen Zeugen in schwerster Weise [282] hinsichtlich der KZ-Geschichten belastet würde. Nun hat sich aber durch die hier im Gerichtssaal erfolgte mündliche Vernehmung des Zeugen Emil Puhl einwandfrei herausgestellt, daß Puhl die ursprünglich belastenden Angaben in seinem Affidavit überhaupt nicht mehr aufrechterhalten konnte, soweit es sich um die Person des Angeklagten Funk und um dessen Wissen über die Details der Depots der SS handelte.

Wohl war Funk, wie er sich nach der Vernehmung des Puhl erinnerte – und ich habe hierüber ja auch am 17. Juni 1946 eine Berichtigung seiner eidlichen Zeugenaussage vorgelegt –, seinerzeit gelegentlich einmal vom Reichsführer-SS Himmler gefragt worden, ob in den Tresorräumen der Reichsbank Wertsachen aufbewahrt werden könnten, die von der SS im Osten beschlagnahmt worden seien. Diese Frage Himmlers hat Funk damals bestätigt und Himmler erklärt, dieser könne ja jemanden beauftragen, der die Sache mit dem Vizepräsidenten Puhl besprechen und regeln solle. Dazu erklärte seinerzeit Himmler gegenüber Funk, das könne sein Gruppenführer Pohl machen; dieser werde sich dann mit dem Vizepräsidenten Puhl in Verbindung setzen. Das war alles, was seinerzeit – ich glaube 1942 – Funk mit dem Reichsführer-SS Himmler besprochen hat und was er dann damals gelegentlich seinem Vizepräsidenten Puhl wieder mitteilte, weil ja Puhl die Geschäfte der Reichsbank tatsächlich führte und deshalb für diese Angelegenheit zuständig war.

Irgend etwas Auffälliges war in dieser Frage des Reichsführer-SS Himmler nicht enthalten, jedenfalls für Funk nicht erkennbar. Denn die SS versah damals, soviel Funk wußte, den gesamten Polizeidienst in den besetzten Ostgebieten; sie hatte aus diesem Grunde oft Wertgegenstände zu beschlagnahmen, genau so wie die gewöhnliche Polizei im Inland, also innerhalb Deutschlands, es auch getan hat. Außerdem waren ja auch in den besetzten Ostgebieten alle Goldmünzen, Devisen und so weiter auf Grund der gesetzlichen Bestimmungen ablieferungspflichtig, und diese Ablieferungen erfolgten in den Ostgebieten natürlich an die SS, weil andere Staatsstellen hierfür dort überhaupt nicht eingerichtet waren. Funk wußte auch, daß die KZ-Lager der SS unterstanden, und er war der Meinung, daß es sich bei den Werten, die von der SS bei der Reichsbank zur Aufbewahrung gegeben werden sollten, wohl um solche Werte handeln würde, die auch sonst, also seitens der gesamten Bevölkerung, ablieferungspflichtig waren. Endlich war die SS, wie ja auch durch den Prozeß festgestellt wurde, ständig an den Kämpfen im Osten genau so beteiligt, wie die Wehrmacht; wie diese, so hatte auch die SB sogenanntes Beutegut in den verlassenen und zerstörten Städten des Ostens gesammelt und an das Deutsche Reich abgeliefert. Es war also für Funk durchaus nichts [283] Auffälliges, wenn die SS Gold und Devisen besaß und ordnungsgemäß zur Ablieferung brachte.

Das Wesentliche an dieser ganzen Angelegenheit ist nun die Frage, ob der Angeklagte Funk gewußt oder gesehen hat, daß unter den von der SS gebrachten Sachen sich in auffallender Menge auch goldene Brillenfassungen, Goldzähne und ähnliche Sachen befanden, die nicht auf Grund einer ordnungsgemäßen Beschlagnahme, sondern nur auf verbrecherische Weise in den Besitz der SS gekommen waren.

Wenn – ich betone, meine Herren – wenn dem Angeklagten Funk nachgewiesen werden könnte, daß er derlei Dinge in dem Depot der SS gesehen hatte, so hätte ihn das selbstverständlich stutzig machen müssen. Wir haben aber von dem Zeugen Puhl, dem Vizepräsidenten der Reichsbank, mit aller Bestimmtheit gehört, daß der Angeklagte Funk hiervon keine Kenntnis hatte, ja, daß auch der Vizepräsident Puhl selbst hiervon nichts Näheres wußte. Jedenfalls hat Funk niemals gesehen, welche Geldsachen im einzelnen und in welcher Menge sie für die SS gebracht wurden.

Man hat nun gegen Funk angeführt, daß er selbst einige Male in die Tresorräume der Berliner Reichsbank gekommen sei, und man hat daraus folgern zu können geglaubt, daß er hätte sehen müssen, welche Gegenstände von der SS bei der Reichsbank abgeliefert worden sind. Diese Schlußfolgerung ist aber offensichtlich falsch; denn es steht durch die Beweisaufnahme fest, daß Funk während der ganzen Kriegszeit überhaupt nur einige wenige Male in die Tresorräume der Reichsbank kam zu dem Zweck, um diese Räume und die dort aufbewahrten Goldbarren der Reichsbank besonderen Besuchern, namentlich ausländischen Gästen zu zeigen. Er hat aber bei diesen paar Besuchen der Tresorräume niemals das Depot der SS gesehen. Er hat niemals wahrgenommen, was im einzelnen die SS bei seiner Bank deponiert hatte. Das steht einwandfrei fest, nicht nur durch die beschworene Aussage des Angeklagten Funk selbst, sondern auch durch das mündliche Zeugnis hier im Sitzungssaal seitens des Vizepräsidenten Puhl und seitens des Reichsbankrats Thoms. Dieser gewiß unverdächtige Zeuge der Staatsanwaltschaft, der sich bekanntlich selbst als Zeuge gemeldet hatte, hat hier auf Eid bestätigt, daß die Wertsachen von der SS in verschlossenen Koffern, Kisten und Säcken eingeliefert und in diesen Behältern auch aufbewahrt wurden und daß Funk niemals in den Tresorräumen anwesend war, wenn durch die Beamten der Bank der Inhalt einer einzelnen Kiste oder eines Koffers sortiert wurde. Der Zeuge Thoms, der diese Tresorräume leitete, hat den Angeklagten Funk überhaupt niemals dort gesehen. Funk hat also weder den Umfang gekannt, den allmählich im Laufe der Zeit die Einlieferungen der SS annahmen, noch hat er gewußt, [284] daß Schmucksachen, daß Perlen und Edelsteine, daß Brilleneinfassungen und Goldzähne sich unter den Depots befanden. Er hat das alles niemals gesehen und es hat ihm auch keiner seiner Beamten davon jemals eine Mitteilung gemacht.

Nun hat zwar die Anklagevertretung gemeint, Funk müsse als Reichsbankpräsident doch gewußt haben, was in den Tresors seiner Bank verwahrt wurde; aber auch dieser Schluß ist offensichtlich falsch und trägt den tatsächlichen Verhältnissen einer großen Zentralnotenbank keine Rechnung. Funk, der ja außerdem noch Reichswirtschaftsminister war, hatte in seiner Eigenschaft als Reichsbankpräsident keinerlei Veranlassung, sich um ein einzelnes Depot eines Kunden zu kümmern, auch wenn dieses zufällig der SS gehörte. Er hat sich als Reichsbankpräsident auch nicht um andere Depots der Kunden seiner Bank gekümmert, da dies nicht seine Aufgabe war. Er hat lediglich einmal infolge einer Anregung seines Vizepräsidenten Puhl den Reichsführer-SS Himmler gefragt – es war dies in der zweiten Unterredung mit Himmler –, ob die bei der Reichsbank von der SS deponierten Werte verwertet werden können, das heißt, im legalen Geschäftsverkehr der Reichsbank; Himmler hat das gestattet und Funk hat das dann wieder seinem Vizepräsidenten Puhl mitgeteilt. Er hat dabei aber nur an Goldmünzen und an Devisen gedacht, also an jene Werte, die ganz allgemein im Deutschen Reich an die Reichsbank abgeliefert werden mußten und von der Reichsbank verwertet werden konnten und mußten. Auf den Gedanken, daß sich in dem Depot auch Goldzähne und ähnliche merkwürdige Dinge befinden könnten, die von verbrecherischen Handlungen in KZ-Lagern stammen würden, ist Funk niemals gekommen. Hiervon hat er zu seinem Entsetzen erst hier im Sitzungssaal während des Prozesses erfahren.

Das einzige, meine Herren Richter, was zunächst noch als ein gewisses Verdachtsmoment an der Aussage des Zeugen Puhl übrig zu bleiben schien, das war die Frage der Geheimhaltung, die ja auch bei der Vernehmung der Zeugen eine sehr, sehr große Rolle gespielt hat. Vizepräsident Puhl hat hier als Zeuge anfänglich erklärt, der Angeklagte Funk habe ihm gesagt, die Sache des Depots der SS müsse besonders geheimgehalten werden. Funk dagegen hat das stets mit aller Entschiedenheit bestritten und er hat auf seinen Eid angegeben, von einer derartigen Geheimhaltung mit Puhl überhaupt nicht gesprochen zu haben. Es stand also zunächst hier im Sitzungssaal Aussage gegen Aussage, Eid gegen Eid. Die auf diesen Punkt bezüglichen Angaben des Vizepräsidenten Puhl erschienen aber von Anfang an etwas widerspruchsvoll. Denn das eine Mal sagte der Vizepräsident Puhl, diese Geheimhaltung sei für ihn nichts Auffälliges gewesen, schließlich erstrecke sich die Geheimhaltung ja auf alle Dinge, die in einer Bank vorkommen; [285] auf eine besondere Frage erklärte dann Puhl wiederholt, es sei ihm durchaus nicht aufgefallen, daß angeblich der Angeklagte Funk von einer Geheimhaltung gesprochen habe. Als dann aber die eidesstattliche Versicherung des Zeugen Thoms vom 8. Mai 1946 verlesen und dem Zeugen Puhl vorgehalten wurde, bekundete Puhl zum Schluß auf seinen Eid hier am 15. Mai 1946, es sei daraus genau ersichtlich, daß der Wunsch nach Geheimhaltung von der SS ausging. Die SS habe Wert darauf gelegt, daß die Sache geheim behandelt werde, die SS sei, wie Puhl sich ausdrückte, der Ausgangspunkt der Geheimhaltungspflicht gewesen. So lautete wörtlich am Schluß die Erklärung des Zeugen Puhl, die er dann auch beeidigte und an deren Ende er nochmals bestätigte, daß die Geheimhaltungspflicht von der SS auferlegt und von der SS gewünscht worden sei.

Damit, meine Herren Richter, war der anfängliche Widerspruch zwischen den Angaben des Angeklagten Funk und jenen des Zeugen Puhl zu diesem Punkt restlos beseitigt, und zwar zugunsten des Angeklagten. Puhl hat seine ursprüngliche Behauptung, daß Funk es gewesen sei, der die Geheimhaltung des SS-Depots angeordnet habe, selber nicht mehr aufrechterhalten können, und es muß deshalb bei Ihrem Urteil davon ausgegangen werden, daß auch in diesem Punkt die Aussage des Angeklagten Funk richtig ist und den Vorzug verdient; denn er hat von allem Anfang an und mit aller Bestimmtheit auf Eid erklärt, daß er selber von einer Geheimhaltung nichts gewußt hat und daß er von einer solchen Geheimhaltung zu Puhl auch nichts gesagt hat. Für Funk lag also auch gar keine Veranlassung vor, überhaupt von einer besonderen Geheimhaltung gegenüber Puhl zu sprechen, da Funk offensichtlich der Meinung war, es handle sich lediglich um Werte, die abgeliefert werden mußten, die also zu beschlagnahmen waren und die zum regelmäßigen, zum legalen Geschäftsbereich der Reichsbank gehörten, und die nicht verheimlicht zu werden brauchten, gleichviel ob diese ablieferungspflichtigen Sachen im Eigentum eines KZ-Häftlings oder im Eigentum einer freien Person standen.

Warum nun eigentlich die SS ihrerseits bei dem Vizepräsidenten Puhl auf Geheimhaltung Wert legte und warum sie weiterhin das Depot auf den Decknamen Melmer, statt auf den Namen der SS anlegte, ist durch die Beweisaufnahme nicht geklärt worden, und die Staatsanwaltschaft hat ihrerseits auf diese Klärung in diesem Punkt keinen Wert gelegt. Jedenfalls ist aber das Verlangen der SS nach Geheimhaltung dem Vizepräsidenten Puhl offensichtlich auch nicht mehr aufgefallen, genau so wenig, wie dem Zeugen Thoms, der ja an der Sache vollkommen unbeteiligt ist, der uns bestätigte, daß diese Geheimhaltung nichts Besonderes gewesen sei; aber eines, meine Herren Richter, ist doch Tatsache, daß nämlich vor dem [286] zahlreichen Personal der Reichsbank durchaus nichts geheimgehalten wurde, um was für Gegenstände im einzelnen es sich handle; im Gegenteil, das eigene Reichsbankpersonal wurde sogar vom Vizepräsidenten Puhl mit der Sortierung der eingelieferten Wertsachen und mit deren Verwertung bei der Pfandleihanstalt betraut; Dutzende von Reichsbankbeamten, die regelmäßig in die Tresorräume kamen, konnten alltäglich dort die einzelnen Sachen sehen; und die Reichshauptkasse, also ein von der Reichsbank getrenntes Institut hat über die Verwertung der Goldsachen genau, durchaus ordnungsgemäß und ganz offen, mit dem Reichsfinanzministerium jeweils abgerechnet. Ob und welche Vereinbarungen zwischen dem Reichsfinanzminister und dem Reichsführer-SS Himmler wagen der Verrechnung der Goldsachen mit dem Reich getroffen wurden, entzieht sich natürlich der Kenntnis des Angeklagten Funk, und zwar auch heute noch; dafür hat er sich nie interessiert; ihn ging es ja auch nichts an.

All diese durch die Beweiserhebung festgestellten Tatsachen sprechen zwingend dafür, daß Funk selber von den Sachen nichts wußte, die seinerzeit bei der Reichsbank eingeliefert wurden und daß auch der Vizepräsident Puhl und der Reichsbankrat Thoms über die Sachen nichts Schlechtes dachten, obwohl mindestens Thoms gesehen hat, woraus im einzelnen das Depot bestand.

Aus diesem Grunde braucht die naheliegende Frage nicht mehr untersucht zu werden, ob die anfänglichen Angaben des Vizepräsidenten Puhl hinsichtlich des Depots der SS nicht vielleicht von vorneherein deshalb mit einer gewissen Vorsicht aufzunehmen waren, weil Puhl offensichtlich, mindestens bei seinem schriftlichen Affidavit, das begreifliche Bestreben hatte, die Verantwortung von sich auf seinen Präsidenten Funk abzuwälzen, um sich damit von der eigenen Verantwortung für einen unangenehmen Tatbestand zu befreien, als ihm in der Gefangenschaft gesagt wurde, daß die Goldsachen der SS zum großen Teil aus Brillenfassungen und Goldzähnen bestanden haben und den KZ-Opfern abgenommen worden sind. Ursprünglich hatte offenbar auch Puhl sich bei der ganzen Sache überhaupt nichts Schlechtes gedacht gehabt. Für ihn war die Angelegenheit ein gewöhnliches Geschäft der Reichsbank für Rechnung des Deutschen Reiches, das er genau so behandelte, wie wenn zum Beispiel von der Zollfahndungsstelle oder von der Devisenstelle oder von anderen Staatsbehörden Goldsachen und Devisen kamen, die beschlagnahmt worden waren. Meine Herren, aber mag man nun die Verantwortung des Vizepräsidenten Puhl beurteilen, wie man will, auf alle Fälle liegen diese Dinge außerhalb jeglicher Verantwortung des Angeklagten Funk, mit dem allein Sie zu diesem Punkt es hier zu tun haben. Dieser hat mit Puhl in der Folgezeit nur noch zwei oder drei ganz kurze und nebensächliche Gespräche über dieses Golddepot geführt, um die [287] eingelieferten Goldmünzen und Devisen der ordnungsgemäßen Verwertung zuzuführen. Im übrigen hat sich Funk um diese ganze Angelegenheit überhaupt nicht mehr gekümmert. Er hat von der Sache noch weniger gewußt wie Puhl, und es ist nicht ohne Bedeutung, daß Puhl hier auf seinen Eid erklärt hat, er – Puhl – hätte die Goldsachen überhaupt nicht in das Depot der Reichsbank nehmen lassen, wenn er eine Ahnung davon gehabt hätte, daß die Sachen von der SS den KZ-Opfern auf verbrecherische Weise abgenommen waren. Wenn der Vizepräsident Puhl das schon nicht wußte und das nicht ahnen konnte, dann konnte Funk es noch weniger wissen, und die anfängliche Bekundung des Puhl, die dahin gegangen war, daß »mit Wissen und Willen« – wie er seinerzeit gesagt hat – »mit Wissen und Willen des Funk die Goldsachen von der Reichsbank angenommen und mit Hilfe des Reichsbankpersonals verwertet worden seien«, diese anfängliche Bekundung war mindestens eine grobe Irreführung der Anklagebehörde durch den Vizepräsidenten Puhl gewesen, der sich nachträglich, als er die wahren Zusammenhänge erst in der Gefangenschaft erfuhr, sicherlich genau so Gewissensbisse gemacht hat wie Funk, obwohl dieser an der Sache unschuldig war. Puhl hat ja schließlich auch noch auf Eid hier erklärt, auch er hätte solche Geschäfte nicht geduldet und hätte die Angelegenheit sowohl beim Reichsbankdirektorium wie beim Präsidenten Funk zur Sprache gebracht, wenn er gewußt hätte, daß die Wertsachen von KZ-Opfern stammen und um welche Sachen im einzelnen es sich gehandelt hat.

Ich komme daher bei diesem Kapitel zu dem Ergebnis: die Reichsbank hat, und zwar für Rechnung des Deutschen Reiches, Geschäfte ausgeführt, deren Gegenstände aus verbrecherischen Handlungen der SS herrührten, aber der Angeklagte Funk hat hiervon nichts gewußt. Bei Kenntnis des wahren Sachverhalts hätte er solche Geschäfte nicht geduldet. Er kann deshalb strafrechtlich für diesen Tatbestand nicht verantwortlich gemacht werden.

Das gleiche, meine Herren Richter, gilt auch hinsichtlich des Reichsbankkredits für die Geschäftsbetriebe der SS, hinsichtlich dessen ich mich nur auf einige Sätze beschränken kann. Auch zu diesem Punkt hat der Zeuge Puhl in seinem schriftlichen Affidavit vom 3. Mai 1946 zunächst eine vollkommen irreführende Darstellung gegeben. Er hat nämlich ursprünglich behauptet, der von der Golddiskontbank auf Weisung des Angeklagten Funk zur Verfügung gestellte Kredit von zehn bis zwölf Millionen Reichsmark habe gedient, und ich zitiere jetzt wörtlich aus seinem Affidavit, »zur Finanzierung der Fabrikation in SS-Fabriken durch Arbeitskräfte aus KZ-Lagern«. In seiner mündlichen Zeugenvernehmung wurde nun Puhl gefragt, ob denn Funk irgendeine Kenntnis davon [288] hatte, daß in diesen Fabriken überhaupt Leute aus den Konzentrationslagern beschäftigt würden. Hierzu erklärte Puhl nun wörtlich: »Ich möchte das annehmen, aber wissen kann ich es nicht.« Soweit seine mündliche Erklärung. Er konnte also über die Kenntnis des Funk nichts Bestimmtes bekunden, sondern nur eine Vermutung ausdrücken. Dagegen ist die Aussage von Funk selbst über diesen Punkt durchaus klar und überzeugend; sie ging dahin, daß er zwar von dem Kreditantrage der SS Kenntnis hatte, daß er diesen Kredit auch billigte, daß er aber niemals davon wußte, welcher Art die betreffenden SS-Betriebe waren und welche Leute in ihnen beschäftigt wurden. Das hat Funk auch beschworen. Dieses Kreditgeschäft, das übrigens schon etwa zwei Jahre vor der Sache mit dem Golddepot der SS lag, also schon etwa vor 1940, belastet demnach weder den Angeklagten Funk, noch den Zeugen Vizepräsident Puhl. Beide haben damals – 1940 – die Zustände in den KZ-Lagern nicht gekannt, sondern hierüber erst viel später, nämlich im Laufe dieses Prozesses, Kenntnis erhalten, und der Angeklagte Funk hat auch nichts davon gewußt, daß in den erwähnten Fabriken der SS, für welche der Kredit bestimmt war, Leute aus KZ-Lagern beschäftigt wurden.

Meine Herren! In diesem Zusammenhang erscheint es notwendig, mit noch ein paar Sätzen die Frage zu besprechen, ob Funk jemals ein KZ-Lager besucht hat; der hier vernommene Zeuge Dr. Blaha hat bekundet hier auf dem Zeugenstand, Dr. Funk sei im ersten Halbjahr 1944 einmal in Dachau gewesen. Dieser Besuch sei erfolgt im Anschluß an eine Finanzministerbesprechung, an der Funk in Berchtesgaden oder in einem anderen Ort dieser Gegend teilgenommen habe. Aber, meine Herren, der Zeuge Dr. Blaha hat damals, als er hier vernommen wurde, nicht selber etwas darüber aussagen können, daß er den Angeklagten Funk selber in Dachau gesehen habe, er hat vielmehr in Dachau nur von Lagerinsassen – also von anderen Leuten – gehört, daß bei einem größeren Besuch des Lagers angeblich auch der Reichswirtschaftsminister Funk anwesend gewesen sei. Gesehen hat er ihn nicht. Er hätte ihn ja auch nicht gekannt. Funk selbst hat nun diesen Besuch in Dachau von allem Anfang an mit Entschiedenheit bestritten. Er hat das auch auf seinen Eid genommen, und aus der eidesstattlichen Versicherung seines ständigen Begleiters Dr. Schwedler, dessen Affidavit – Dokumentenbuch Funk Nummer 13 – Ihnen vorliegt, ergibt sich einwandfrei, daß Funk überhaupt niemals in einem KZ-Lager gewesen ist. Das müßte Dr. Schwedler wissen; denn er war damals der ständige Begleiter des Angeklagten und wußte für jeden Tag, wo Funk sich aufhielt. Funk war ja auch niemals Finanzminister, wie der Zeuge Dr. Blaha angenommen hat, und er hat niemals an einer Besprechung der Finanzminister teilgenommen. Es unterliegt also keinem Zweifel, [289] daß das, was der Zeuge Dr. Blaha nur vom Hörensagen hier erzählen konnte, auf falscher Information beruht, auf einer Verwechslung mit irgendeinem anderen Besucher, was um so leichter möglich war, da der Angeklagte Funk in der Öffentlichkeit ziemlich unbekannt gewesen ist. Das Ergebnis ist also: Funk hat niemals ein KZ-Lager besucht und hat niemals die in solchen Lagern herrschenden Zustände persönlich wahrgenommen.

Mit dieser Feststellung will nun Funk freilich nicht etwa behaupten, daß er überhaupt nichts von der Existenz von KZ-Lagern gewußt hätte. Wie wohl jeder andere Deutsche, hatte Funk selbstverständlich davon Kenntnis, daß es seit 1933 in Deutschland KZ-Lager gab, genau so wie er wußte, daß es auch Zuchthäuser, Gefängnisse und sonstige Strafanstalten in Deutschland gab und gibt. Was ihm aber unbekannt war und worauf ich hier Wert lege, das war die überaus große Zahl derartiger KZ-Lager und ihrer in die Hunderttausende, ja in die Millionen gehenden Insassen. Unbekannt waren ihm auch die in diesen Lagern verübten und erst durch den Prozeß festgestellten zahllosen Greueltaten. Funk hat insbesondere erst durch den Prozeß erfahren, daß es sogar Vernichtungslager gab, die dazu dienten, Millionen von Juden zu ermorden. Davon hatte Funk keine Kenntnis; das hat er hier auch beschworen und das erscheint auch durchaus glaubhaft; denn eines der wichtigsten Ergebnisse des Prozesses besteht nach der Auffassung der Verteidigung in dem Nachweis der Tatsache, daß das deutsche Volk in seiner Allgemeinheit von den Zuständen in den KZ-Lagern und von deren riesiger Zahl keine Kenntnis hatte. Daß vielmehr diese Zustände in so raffinierter und grausamer Weise geheimgehalten wurden, daß sogar die höchsten Beamten des Reiches bis zu den sogenannten Ministern hinauf nichts hiervon erfuhren.

Meine Herren Richter! Damit hat die Verteidigung zu demjenigen Teil der Anklage Stellung genommen, der im Falle seiner Wahrheit den Menschen Funk am schwersten und furchtbarsten hätte belasten müssen. Man mag über Gewalttaten im politischen und wirtschaftlichen Kampf, namentlich in stürmischen Revolutionszeiten denken wie man will; über einen Punkt kann es auch nach der Ansicht des Angeklagten Funk keine Verschiedenheit der Auffassung geben, nämlich hinsichtlich der KZ-Greuel, wie sie seit Jahren, insbesondere gegen die jüdische Bevölkerung verübt wurden. Wer sich an solch unerhörten Greueltaten beteiligt hat, der soll auch nach der Auffassung des ganzen deutschen Volkes hierfür mit aller Härte büßen müssen. Das ist auch der Standpunkt, den der Angeklagte Funk einnimmt und den er auch hier zum Ausdruck brachte, als er am 6. Mai 1946 vom Zeugenstand aus dem amerikanischen Ankläger antwortete, er empfinde als Mensch und [290] als Deutscher eine schwere Schuld und eine tiefe Scham über das, was deutsche Menschen an Millionen Unglücklichen verbrochen haben.

Meine Herren! Damit bin ich am Ende der Betrachtung des Falles Funk angelangt, soweit es das Strafrecht betrifft, und das ist die Aufgabe der Verteidigung in diesem Strafprozeß. Die Prüfung der Beweisergebnisse zum Fall Funk hat nach der Auffassung dieses Angeklagten für seine Person den Beweis erbracht, daß eine strafrechtliche Schuld, eine kriminelle Schuld auf seiner Seite nicht vorliegt und daß er mit gutem Gewissen Sie um seine Freisprechung bitten kann, da er kriminelle Verbrechen niemals in seinem Leben begangen hat. Ihre Aufgabe als Richter wird es nun sein, auch gegen den Angeklagten Funk das richtige Urteil zu finden; ein Urteil, das ihn nicht büßen läßt für fremde Schuld, die er nicht verhindern konnte, ja vielleicht nicht einmal kannte, sondern das nur das Maß seiner eigenen Schuld feststellt, und zwar nicht seiner politischen Schuld, sondern seiner strafrechtlichen Schuld, die allein den Gegenstand Ihres Verfahrens zu bilden hat; ein Urteil, das nicht nur heute Bestand hat, sondern das auch in Zukunft als zutreffend anerkannt wird, wenn wir von diesen fürchterlichen Ereignissen den nötigen zeitlichen Abstand gewonnen haben und dann leidenschaftslos alle diese Dinge wie Vorkommnisse einer fernen Geschichte betrachten können; ein Urteil, meine Herren Richter, das nicht nur die von Ihnen vertretenen Völker befriedigt, sondern auch vom deutschen Volk in seiner Gesamtheit als gerecht und weise anerkannt wird; ein Urteil endlich, das nicht nur vernichtet und Rache übt und Haß für die Zukunft sät, sondern das dem deutschen Volk den Wiederaufstieg ermöglicht und erleichtert zu einer glücklicheren Zukunft der Menschenwürde und der Nächstenliebe, der Gleichheit und des Friedens.

VORSITZENDER: Herr Dodd! Werden Sie oder Sir David diese Sache behandeln?

Sir David! Ich habe hier ein vom Generalsekretär abgefaßtes Dokument, das in erster Linie besagt, daß im Fall des Angeklagten Göring vier Fragebogen vorgelegt worden sind, gegen die die Anklagebehörde keinen Einspruch erhoben hat.

Stimmt das?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Jawohl, das stimmt, Euer Lordschaft! Zu diesem ersten Antrag haben wir keine weiteren Bemerkungen zu machen.


VORSITZENDER: In Bezug auf den Angeklagten Ribbentrop liegen dann zwei eidesstattliche Versicherungen vor, gegen die auch kein Einspruch erhoben wurde; und dann sind noch drei weitere Affidavits, die noch nicht eingelaufen sind, glaube ich.


[291] SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Jawohl, das ist richtig, Euer Lordschaft.


VORSITZENDER: Und ein Dokument, auf das sich der Verteidiger im ganzen beziehen will, nämlich TC-75; stimmt das?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Jawohl, das stimmt. Dagegen wird kein Einspruch erhoben.


VORSITZENDER: Vielleicht sollte ich erst die Dokumente erledigen und dann Dr. Horn fragen, was er über die drei zu sagen hat, denn es liegen anscheinend nur diese drei Dokumente vor, und dann eine eidesstattliche Versicherung für Seyß-Inquart von einem Mann namens Erwin Schotter und noch eine andere von einem Mann namens Adalbert Joppich, die noch nicht eingelaufen sind.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Das ist richtig, Euer Lordschaft.


VORSITZENDER: Und noch drei Briefe von Seyß-Inquart an Himmler, die noch nicht vorgelegt worden sind.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Jawohl, das stimmt, Euer Lordschaft.


VORSITZENDER: Und auch im Falle Fritzsche zwei Fragebogen von Delmar und Feldscher, die noch nicht eingegangen sind.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Was die drei Briefe des Angeklagten Seyß-Inquart anlangt, so sind diese schon eingelaufen, aber noch nicht ins Französische übersetzt worden. Das Einfachste wäre, Herr Vorsitzender, wenn der Gerichtshof von der Annahme ausgehen würde, daß vorläufig kein Einspruch besteht, aber daß die Französische Delegation sich das Recht vorbehält, eventuell Einspruch zu erheben, wenn sie nach Erhalten der Übersetzung noch Einspruch erheben will.


VORSITZENDER: Jawohl.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Die Französische Abordnung wird den Gerichtshof von etwaigen Einsprüchen in Kenntnis setzen.


VORSITZENDER: Nun, was den Rest betrifft, sind seitens der Anklage irgendwelche Einsprüche zu erheben?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Der einzige Einspruch bezieht sich auf den Antrag von Dr. Servatius für den Angeklagten Sauckel. Euer Lordschaft! Nach den vom Gerichtshof bewilligten Fragebogen kommen gewisse Dokumente, die dem Gerichtshof vom Angeklagten Sauckel am 3. Juli zur Kenntnisnahme vorgelegt wurden; dabei sind mehrere, die die Bezeichnung A bis I tragen. Die Anklagebehörde möchte diese Dokumente in Anbetracht der vielen Dokumente, die für diesen Angeklagten schon vorgelegt worden sind, als kumulativ bezeichnen.


[292] VORSITZENDER: Einen Augenblick, Sir David! Diese Dokumente A bis I...


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Jawohl, Euer Lordschaft.

VORSITZENDER: Wurden sie nach der Beendigung des Falles eingereicht?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Sie wurden am 3. Juli vorgelegt. Also, nachdem der Fall schon abgeschlossen war.


VORSITZENDER: Aber war das nicht damals, als wir die zusätzlichen Anträge anforderten?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Jawohl, ganz am Ende.


VORSITZENDER: Am selben Tag?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja, es tut mir leid, Euer Lordschaft! Der Fall war technisch doch noch nicht abgeschlossen, denn der Tag wurde noch für weitere Anträge der Verteidigung freigestellt.


VORSITZENDER: Sind diese Dokumente A bis I, von denen Sie sprachen, alle schon im Dokumentenbuch?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Dr. Servatius teilt mir mit, daß sie darin enthalten sind.

Ich habe mich gerade mit Dr. Servatius beraten, und er sagt, daß er am meisten Wert auf das Dokument »A« legt, einen Erlaß des Angeklagten Sauckel über die Rückkehr der kranken Fremdarbeiter. Ich verlasse mich auf die Versicherung des Dr. Servatius und erhebe keinen Einspruch gegen das Dokument »A«, und Dr. Servatius sagt, daß er nicht unbedingt auf den anderen besteht.

Euer Lordschaft! Ein weiterer Antrag auf Zulassung eines Dokuments wurde jetzt eben für den Angeklagten Sauckel eingereicht. Es ist eine eidesstattliche Versicherung des Angeklagten selbst, datiert vom 29. Juni 1946. Die Anklagebehörde hat keinen Einspruch dagegen zu erheben.

Euer Lordschaft! Die letzte Frage in Bezug auf den Angeklagten Sauckel betrifft eine eidesstattliche Versicherung eines Zeugen namens Walkenhorst. Auch diese ist nach Ansicht der Anklagebehörde kumulativ.


VORSITZENDER: Haben Sie Walkenhorst gesagt?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Jawohl, Walkenhorst, Euer Lordschaft.

Es ist der allerletzte Antrag auf meiner Liste.


DR. ROBERT SERVATIUS, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN SAUCKEL, VERTEIDIGER FÜR DAS KORPS DER POLITISCHEN LEITER: Herr Präsident! Darf ich zu dem Zeugen Walkenhorst etwas sagen: Der Zeuge war für Bormann geladen; ich [293] habe auf die Vernehmung verzichtet und mit Genehmigung des Gerichts dieses Affidavit hier eingeführt, und weil es mir hier meiner Ansicht nach genehmigt war, habe ich auf den Zeugen verzichtet. Ich nehme an, daß das klargestellt wird und auch von der Anklage bestätigt wird.


VORSITZENDER: Meinen Sie, Herr Dr. Servatius, daß die eidesstattliche Versicherung des von Walkenhorst schon bewilligt worden ist?


DR. SERVATIUS: Ich nehme an, daß sie damals genehmigt wurde. Der Zeuge stand draußen, und ich wurde gefragt, ob ich ihn hören wollte, und ich sagte darauf, ich habe eine eidesstattliche Versicherung, die sich auf einen speziellen Fall beschränkt, und es genügt mir, wenn ich das übergeben darf. Es war der letzte Zeuge, der hier noch vernommen werden sollte, nach Schluß der Beweisaufnahme an sich.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Unter diesen Umständen bestehe ich nicht auf dem Einspruch. Herr Vorsitzender, das ist alles, was die Anklagebehörde dazu vorzubringen hat.


VORSITZENDER: Was ist nun mit diesen beiden eidesstattlichen Versicherungen von Erwin Schotter und Adalbert Joppich, die Dr. Steinbauer beantragt?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Wir haben sie noch nicht. Soweit ich es verstehe, sind sie vom Gerichtshof zugelassen worden, vorbehaltlich eventueller Einsprüche. Aber wir können noch nichts sagen, bis wir sie gesehen haben.

VORSITZENDER: Ja, gut! Nun in Bezug auf die übrigen: Haben Sie keine anderen Einsprüche zu erheben?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Nein, keine Einsprüche mehr.


VORSITZENDER: Sir David! Es ist uns noch ein weiteres Dokument vorgelegt worden, das einen Antrag für den Angeklagten Sauckel enthält; er möchte als Zeugen seinen Sohn Friedrich Sauckel rufen. Die Anklagebehörde hat dagegen Einspruch erhoben, weil es kumulativ und unerheblich ist.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Jawohl, Euer Lordschaft, das ist unsere Stellungnahme. Es ist nicht anzunehmen, daß der Sohn des Angeklagten irgend etwas Neues hinzufügen könnte.


VORSITZENDER: Dieser Antrag wurde doch nach dem 3. Juli gestellt? Nein, das ist falsch, er wurde allerdings früher vorgelegt, aber er wurde am 3. Juli nicht erwähnt.


DR. SERVATIUS: Herr Präsident! Es war ein Antrag, den Zeugen von England nach hier zu bringen, weil er vermutlich Auskunft geben kann über eine Reihe von Dingen zur Information. Einen eigentlichen Antrag habe ich noch nicht gestellt. Es war nur [294] ein Antrag, ihn von England nach hier zu bringen zur Information um daraus zu sehen, ob er Wesentliches weiß, wie er behauptet.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Ich würde keinen Einspruch dagegen erheben, den Sohn des Angeklagten hierherzubringen; dann könnte Dr. Servatius mit ihm sprechen und feststellen, ob er noch etwas zur Sache beitragen kann.


VORSITZENDER: Die Schwierigkeit dieser Art von Anträgen an den Gerichtshof ist, daß der Fall dann niemals erledigt wird.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja, ich stimme damit überein.


DR. SERVATIUS: Mir war nicht bekannt, daß sich der Zeuge in England befindet. Er war in Gefangenschaft, und es war vorher keine Nachricht von ihm da.


VORSITZENDER: Sir David! Haben wir eine eidesstattliche Versicherung des Angeklagten Sauckel, mit der Sie sich bereits befaßt haben?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Jawohl, Euer Lordschaft.


VORSITZENDER: Dann liegt eine eidesstattliche Versicherung des Angeklagten Jodl für Kaltenbrunner vor. Der Antrag ist beim Generalsekretär am 5. Juli eingelaufen.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Jawohl, Euer Lordschaft.


VORSITZENDER: Das war nach dem letzten Termin, an dem die Verteidiger um ihre Anträge ersucht wurden.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Nun, Euer Lordschaft! Es war mir nicht möglich, die Ansichten der Anklagebehörde über diesen Punkt einzuholen.

Euer Lordschaft! Der wesentliche Inhalt dieser eidesstattlichen Versicherung war in der Rede von Dr. Kauffmann enthalten. Ich glaube nicht, daß es von Belang ist, ich meine, daß irgendein wirklicher... daß gegen das Affidavit irgendein Einspruch bestehen kann, weil ich bestimmt weiß, daß es eine Stelle enthält, die in der Rede von Dr. Kauffmann die Meinung des Angeklagten Jodl über Kaltenbrunner wiedergibt. Deshalb glaube ich nicht, Euer Lordschaft, daß wir Zeit damit verschwenden sollten; wir sollten das Affidavit zulassen.


VORSITZENDER: Gut.

Dann liegt ein Antrag des Angeklagten Rosenberg vor auf Zulassung eines Dokuments »Tradition der Gegenwart«. Dagegen ist Einspruch erhoben worden, weil es kumulativ sei.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Jawohl, Euer Lordschaft.


VORSITZENDER: Dr. Thoma! Wollen Sie zur Unterstützung dieses Antrags etwas sagen, oder ist es in Ihrer Rede schon genügend behandelt worden?


[295] DR. THOMA: Ich bin der Meinung, daß das in meiner Rede genügend behandelt worden ist.


VORSITZENDER: Dann, Dr. Horn, liegen noch zwei eidesstattliche Versicherungen vor, eine von Ribbentrop und die andere von Schulze, die noch nicht vorgelegt worden sind. Brauchen Sie diese?


DR. MARTIN HORN, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN VON RIBBENTROP: Herr Präsident! Bei dem Affidavit Schulze muß es sich um einen Irrtum handeln. Ich habe kein Affidavit Schulze eingereicht und auch keinen Antrag gestellt.


VORSITZENDER: Es war ein Irrtum.

Also, im Falle Ribbentrop stellen Sie einen Antrag, oder haben wir die Sache schon behandelt?


DR. HORN: Nein; ich bitte das Affidavit Ribbentrop noch zur amtlichen Kenntnis zu nehmen, also die Urkunde TC-75. Die beiden anderen Affidavits von Thadden und Best sind mir bereits genehmigt.


VORSITZENDER: Ja. Warum wünschen Sie, daß der Angeklagte Ribbentrop ein Affidavit ausstellt? Er hat doch sein Beweismaterial abgegeben. Ist es eine Frage, die seitdem aufgekommen ist?


DR. HORN: Der Angeklagte Ribbentrop hat nur zu einigen Urkunden Stellung genommen, die ihm während des Kreuzverhörs vorgelegt worden sind, und wobei er nur Gelegenheit hatte, ganz kurz dazu Stellung zu nehmen.

Ich wollte nun mein Plädoyer nicht zeitlich ausdehnen durch eingehende Behandlung der übrigen Urkunden, und habe daher das Affidavit eingereicht, und bitte das Gericht, es entgegenzunehmen.


VORSITZENDER: Dann bezüglich TC-75?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Es ist eines unserer britischen Originaldokumente, und ich habe nichts dagegen, daß Dr. Horn es benützt.


VORSITZENDER: Und wie steht es mit der Übersetzung? Ich nehme an, das ist ein deutsches Dokument, nicht wahr?


DR. HORN: Ja, es ist ein deutsches Dokument, das nur teilweise übersetzt worden ist, und ich habe mich in meinem Plädoyer auf den gesamten Inhalt bezogen.


VORSITZENDER: Ist es ein sehr langes Dokument oder nicht?

DR. HORN: Nein, es hat nur neun Seiten, Herr Präsident. Von der Staatsanwaltschaft ist insgesamt eine Seite dem Gericht als Beweismittel vorgelegt worden. Ich habe dann hinterher festgestellt, daß das Dokument in zwei Ausfertigungen vorhanden ist, und ich[296] habe dann die zweite Ausfertigung, die die vollständige Urkunde darstellt, dem Gericht unterbreitet und übersetzen lassen.


VORSITZENDER: Ist es schon übersetzt?


DR. HORN: Ja.


VORSITZENDER: Gut, es ist alles in Ordnung.

Herr Dr. Steinbauer! Wie steht es mit den beiden eidesstattlichen Versicherungen, für die Sie einen Antrag gestellt haben? Eine von Erwin Schotter und eine von Adalbert Joppich?


DR. GUSTAV STEINBAUER, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN SEYSS-INQUART: Ich habe die beiden Urkunden zur Übersetzung gegeben, und, nachdem die Übersetzungsabteilung sehr überlastet ist, die Übersetzung noch nicht erhalten. Ich möchte aber die beiden Originale dem Gericht vorlegen unter den bereits avisierten Nummern 112 und 113 Seyß-Inquart.


VORSITZENDER: Hat die Anklagebehörde den Inhalt dieser Versicherungen schon gesehen oder nicht?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Nein, Euer Lordschaft, noch nicht. Es sind sehr kurze Versicherungen. Ich werde jemanden bitten, sie untertags auf deutsch durchzulesen, und werde den Gerichtshof vor Aufhebung der Sitzung heute abend darüber benachrichtigen.


VORSITZENDER: Ist dieser Antrag vor dem 3. Juli gestellt worden, oder wann?


DR. STEINBAUER: Jawohl, genau am 3. Juli. Ich habe am 3. Juli diese beiden Urkunden im Wege des Generalsekretariats erhalten und gleich am selben Tag vorgetragen.


VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird die Sache prüfen und mochte dann von der Anklagebehörde hören, ob sie irgendwelche Einwände hat.


DR. STEINBAUER: Darf ich bei dieser Gelegenheit noch eine Urkunde vorlegen? Das Gericht hat die eidesstattliche Befragung des Dr. Gero Reuter bewilligt gehabt, und nun ist mir vorgestern die Antwort mit der Befragung der Staatsanwaltschaft zugekommen...


VORSITZENDER: Was sagten Sie, Dr. Steinbauer?


DR. STEINBAUER: Daß mir das bewilligte Dokument der Befragung des Zeugen Dr. Reuter zugestellt wurde am Samstag in einer deutschen und einer englischen Übersetzung; da möchte ich dem Gericht das Original vorlegen unter der Nummer 114.


VORSITZENDER: Wie heißt der Mann, der befragt worden ist?


[297] DR. STEINBAUER: Dr. med. Gero Reuter. Er wurde gefragt über die Gesundheitsverhältnisse in den Niederlanden. Das Gericht hat mir ausdrücklich die Befragung bewilligt gehabt.


VORSITZENDER: Nun, wir werden es berücksichtigen.


DR. STEINBAUER: Dann lege ich es unter der Nummer 114 dem Gericht vor.


VORSITZENDER: Sir David! Vielleicht können Sie sich das später ansehen.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Natürlich, Euer Lordschaft. Ich dachte, daß der Gerichtshof das schon zugebilligt habe, und daß das nur die Antwort sei.


VORSITZENDER: Jawohl, das ist alles.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Dann, Euer Lordschaft, kann kein Einspruch erhoben werden.


VORSITZENDER: Ich möchte darum bitten, daß, um Zeit zu ersparen, alle Dokumente, mit denen wir uns nun befassen, jetzt angeboten werden müssen, weil die Fälle verschiedener Angeklagter schon abgeschlossen worden sind.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Jawohl, Euer Lordschaft.


VORSITZENDER: Sie müssen deshalb auch die dazu gehörenden Beweisstücknummern bekommen; die Verteidigungsanwälte müssen das veranlassen. Sie müssen sie numerieren und sie dann mit diesen Nummern an den Generalsekretär abgeben, damit diese Dokumente im Protokoll als Beweisstücke gelten können.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Gewiß, Euer Lordschaft! Ich vermute, daß Dr. Steinbauer ihm eben die Nummer 114 gegeben hat.


VORSITZENDER: Jawohl, und dasselbe gilt auch für die anderen Verteidigungsanwälte, den Verteidiger für Göring und Ribbentrop, den Verteidiger für Raeder, und die anderen Anwälte, weil sie sich mit einer beträchtlichen Anzahl von Fragebogen und Affidavits befassen, die alle Exhibit-Nummern erhalten müssen.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Herr Dr. Siemers wollte eben wissen, ob seine Anträge erledigt sind. Ich glaube, er kann dessen sicher sein.

VORSITZENDER: Ja. Das einzige, das noch übrig bleibt, ist der Antrag von Dr. Fritz für den Angeklagten Fritzsche. Es sind zwei Fragebogen, die noch nicht eingelaufen sind, von Delmar und Feldscher. Sie sind zugelassen worden, und die Fragebogen und Antworten werden vorgelegt, wenn Sie sie bekommen.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: So habe ich es auch aufgefaßt, Euer Lordschaft.


[298] VORSITZENDER: Nun, der Gerichtshof wird dann all dies prüfen und entsprechende Verfügungen treffen.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Wie es Ihnen beliebt, Euer Lordschaft.


VORSITZENDER: Wir werden uns nun vertagen. Einen Augenblick, bitte!


DR. EGON KUBUSCHOK, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN VON PAPEN, VERTEIDIGER FÜR DIE REICHSREGIERUNG: Im Falle des Angeklagten von Papen steht noch eine Anzahl Fragebogen aus. Ich habe vier Fragebogen inzwischen beantwortet erhalten. Sie sind aber noch in der Übersetzungsabteilung. Drei Fragebogen sind noch gar nicht zurückgekommen. Ich bitte, mir noch später Gelegenheit zu geben, sie vorzulegen.


VORSITZENDER: Sie sind schon vorher zugelassen worden, nehme ich an. Sind sie schon zugelassen worden?


DR. KUBUSCHOK: Ja, sie wurden bereits zugelassen, bis auf ein Affidavit, das ich auch schon hier behandelt habe, das aber auch noch nicht übersetzt worden ist und sich seit längerer Zeit in der Übersetzungsabteilung befindet.


VORSITZENDER: Ja, aber ist der Antrag für diesen Fragebogen zugelassen worden?


DR. KUBUSCHOK: Dieser Antrag ist neulich von mir eingegeben worden. Es ist mir aufgegeben worden, dieses Affidavit übersetzen zu lassen; ich habe es aber bisher übersetzt noch nicht zurückbekommen.

Ich werde diese Urkunde zusammen mit den anderen Urkunden, sobald ich sie von der Übersetzungsabteilung bekommen habe, vorlegen.


VORSITZENDER: Gut. Wir werden uns jetzt vertagen.


[Pause von 10 Minuten.]


VORSITZENDER: Herr Dr. Dix, bitte!

DR. DIX: Herr Präsident, meine Herren Richter!

Die Singularität des Falles Schacht ergibt sich schon prima vista bildhaft aus dem Anblick der Anklagebank und der Geschichte seiner Haft und seiner Verteidigung. Auf der Anklagebank sitzen Kaltenbrunner und Schacht. Die Zuständigkeiten des Angeklagten Kaltenbrunner mögen gewesen sein, wie sie wollen, jedenfalls war er Chef des Reichssicherheitshauptamtes. Schacht war bis in die Maitage 1945 Gefangener des Reichssicherheitshauptamtes in verschiedenen Konzentrationslagern. Es ist ein selten groteskes Bild, [299] daß oberster Kerkermeister und Häftling dieselbe Anklagebank teilen.

Allein dieses merkwürdige Bild mußte alle Prozeßbeteiligten, Richter, Ankläger und Verteidiger schon an der Schwelle des Strafprozesses nachdenklich stimmen.

In das Konzentrationslager wurde Schacht, wie wir hier festgestellt haben, auf Befehl Hitlers verbannt. Der gegen ihn erhobene Vorwurf lautete auf Hochverrat gegen das Hitler-Regime. Als Richter hätte ihn der Volksgerichtshof mit dem Blutrichter Freisler an der Spitze abgeurteilt, wenn nicht seine Haft in eine solche der alliierten Siegermächte verwandelt worden wäre. Seit Sommer 1944 hatte ich Auftrag, Schacht vor dem Volksgerichtshof Adolf Hitlers zu verteidigen; im Sommer 1945 wurde ich gebeten, seine Verteidigung vor dem Internationalen Militärgerichtshof zu führen. Auch dies ist ein an sich widerspruchsvoller Tatbestand. Auch er zwingt alle Prozeßbeteiligten, was die Person Schachts anlangt, zum Nachdenken. Man wird unwillkürlich an das Schicksal Senecas erinnert. Nero, als Pendant zu Hitler, machte Seneca den Prozeß wegen revolutionärer Umtriebe. Nach dem Tode Neros wurde Seneca wegen Mitschuld an der Mißregierung und den Greueltaten Neros, also wegen einer Conspiracy mit Nero, angeklagt. Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, daß Seneca dann schon im 4. Jahrhundert vom Christentum zum heidnischen Heiligen erklärt worden ist. Wenn sich auch Schacht nicht derartigen Erwartungen hingibt, so zwingt uns doch dieser historische Vorgang, uns immer bewußt zu bleiben, daß das von diesem Hohen Gericht zu verkündende Urteil sich auch vor dem Richterstuhl der Geschichte wird bewähren müssen.

In einer eingehenden und sorgfältigen Beweisaufnahme ist dem Tribunal das Bild des Dritten Reiches enthüllt worden. Es ist ein stark hintergründiges Bild. Es wurde Gelegenheit gegeben, im Rahmen des Möglichen auch diese Hintergründe plastisch zu machen. Im Rahmen des Möglichen! Dies bedeutet aber gleichzeitig die Begrenztheit einer solchen Tiefenforschung durch eine gerichtliche Beweisaufnahme, welche zwar gründlich war, aber immerhin laut Gebot des Statuts möglichst bald zu Ende geführt werden sollte. Um zu erfassen, wie es unter Hitler in deutschen Landen aussah, verbleibt noch genug allein der Intuition des Gerichts vorbehalten. Staatsrechtlich, nach den wissenschaftlichen Begriffen und Anschauungen von Menschen mit Rechtskultur Hitler-Deutschland zu erfassen, ist nicht möglich und wird niemals möglich sein. Ein wissenschaftliches Thema: »Die Verfassung unter Adolf Hitler« ist ein lucus a non lucendo. Wohlverstanden: »Die Verfassung«! Also eine rechtliche Ordnung des Hitler-Staates, nicht der Versuch [300] im Plädoyer Jahrreiss, die Willkürherrschaft eines Despoten irgendwie rechtswissenschaftlich zu beleuchten.

Möglich, aber schwierig und deshalb bisher auch noch nicht erschienen, wäre eine wissenschaftliche Soziologie des Dritten Reiches. Die wenigsten Deutschen, welche in Deutschland wohnten, kannten die Machtverhältnisse und die Machtverteilungen innerhalb derjenigen Menschenkreise, welche scheinbar oder tatsächlich berufen waren, das Ihrige zur politischen Willensbildung beizutragen. Die meisten Deutschen werden nach der Entschleierung dieses Bildes überrascht sein. Wieviel weniger war es zur Zeit der Erhebung der Anklage einem Ausländer möglich, die staatsrechtlichen, soziologischen und innerpolitischen Verhältnisse Hitler-Deutschlands richtig zu beurteilen. Die richtige Beurteilung derselben war aber Voraussetzung einer in tatsächlicher und rechtlicher Beziehung richtig fundierten Anklage. Ich bin der Auffassung, daß die Anklagebehörde damit vor einer für sie nicht lösbaren Aufgabe stand.

Ich bin des weiteren der Auffassung, daß die Anklage ihre strafrechtlichen Vorwürfe gegen die Angeklagten niemals unter den Tatbestand einer Conspiracy subsumiert hätte, wenn sie die politische Machtverteilung in Hitler-Deutschland so hätte sehen können, wie dies einem klugen und mit politischer Intuition begabten Beobachter und Ohrenzeugen dieser Verhandlung vielleicht heute möglich ist, wenn auch schwer genug. Im Dritten Reich Adolf Hitlers war faktisch eine Verschwörung im Sinne der Anklage nicht möglich, worauf auch meine Kollegen schon hinwiesen.

Möglich war im Dritten Reich nur eine Verschwörung der Opposition gegen Adolf Hitler und sein Regime. Solche Verschwörungen haben mehrfach stattgefunden, wie hier festgestellt wurde. Verschwörer sind zueinander etwas anderes als der Gehilfe zum Haupttäter. Die Rolle des einzelnen Verschwörers bei der Durchführung des gemeinsamen Planes mag eine verschiedene sein. Einzelne oder auch einer der Verschwörer kann eine führende Stellung innerhalb der Verschwörung einnehmen. Immer aber ist ein Zusammenwirken notwendig. Schon der Sprachgebrauch schließt es aus, von einer Verschwörung zu reden, wenn nur einer befiehlt und alle anderen nur ausführende Organe sind. Ich bin deshalb der Auffassung, daß das, was in diesem Saale an Verbrechen festgestellt worden ist, niemals unter den strafrechtlichen Tatbestand einer Verschwörung subsumiert werden kann. Die etwa sonst in Frage kommenden gesetzlichen Tatbestände interessieren mich als Verteidiger des Angeklagten Schacht nicht, weil Schacht persönlich, individuell, ohne Zusammenhang mit Taten anderer, also nur auf Grund eigenen Handelns, überhaupt kein krimineller Vorwurf gemacht werden kann. Schacht persönlich hat Erlaubtes und [301] Bestes gewollt; und diesem Wollen diente sein Handeln. Soweit er politisch geirrt hat, stellt er sich freimütig dem Urteil der Geschichte. Den politischen Irrtum kann aber auch die größte Dynamik des Völkerrechts nicht pönalisieren. Täte sie es, so würde der Beruf des Staatsmannes und Politikers unmöglich. Die Weltgeschichte bewegt sich mehr durch Fehler und Irrtümer als durch richtige Erkenntnisse. Die Erkenntnis der absoluten Wahrheit ist nach Lessings weisem Wort ein Reservat Gottes. Den Menschen bleibt nur das Streben nach Wahrheit als höchstes Gut. »Nescis, mi fili, quanta stultitia mundus regitur« sagte schon, und wohl mit Recht, der alte Axel Oxenstierna. Schacht hat hier erklärt, daß er sich durch Adolf Hitler gröblichst getäuscht fühle. Damit hat er die Irrigkeit gewisser seiner Entschlüsse und Handlungen seinerseits zugegeben. Die Anklage bestreitet den guten Glauben Schachts und unterstellt ihm den Dolus, als der Finanzagent Adolf Hitlers bewußt auf einen Angriffskrieg hingearbeitet zu haben und damit implicite unter dem Gesichtspunkt der Conspiracy strafrechtlich verantwortlich zu sein für alle die Greueltaten und Scheußlichkeiten, welche von anderen in diesem Kriege begangen worden sind. Einen direkten Beweis für diese Behauptungen konnte die Anklage selbst nicht führen. Sie versuchte ihn zunächst mit dem angeblich urkundlichen Nachweis mißdeuteter und aus dem Zusammenhang gerissener Äußerungen Schachts. Die Anklage hat hierfür sich auf Zeugen bezogen, welche für das Verhör in diesem Gerichtssaal nicht zur Verfügung gestellt werden konnten, weil sie teils abwesend, teils verstorben waren. Ich erinnere zum Beispiel an die Affidavits Messersmith und Fuller und an die Tagebuchnotizen Dodds. Ihr mangelnder Beweiswert ist durch Schacht in seinem Verhör dem Tribunal eingehend dargelegt worden. Im Interesse der Zeitersparnis möchte ich Gesagtes und sicherlich noch im Gedächtnis des Gerichts Befindliches nicht wiederholen. Des weiteren machte die Anklage den Versuch, ihre Beschuldigungen aus den zweifelsfrei festgestellten Handlungen Schachts zu begründen. All diese Ausführungen der Anklage sind falsche Schlußfolgerungen aus angeblichen Indizien. Ich beschränke mich darauf, die wesentlichsten Fehlschlüsse aufzuzählen. Die anderen ergeben sich zwangsläufig entweder unmittelbar oder analog aus diesen.

Schacht war ein Gegner des Vertrags von Versailles, sagt die Anklage. Er war es in der Tat. Diese Gegnerschaft als solche macht ihm die Anklage auch nicht zum Vorwurf. Sie folgert aber aus ihr, daß Schacht diesen Vertrag mit Gewalt beseitigen wollte. Schacht war für koloniale Betätigung, sagt die Anklage. Er war es in der Tat. Sie macht ihm auch hieraus keinen Vorwurf, folgert aber aus dieser Feststellung, daß er die Kolonien mit Gewalt erobern wollte, und so geht es fort Schacht arbeitete mit Hitler zusammen als Reichsbankpräsident und Wirtschaftsminister, folglich [302] vertrat er die Nazi-Ideologie. Schacht gehörte dem Reichsverteidigungsrat an, folglich war er für einen Angriffskrieg. Schacht half die Wiederaufrüstung in ihrem ersten Abschnitt bis Anfang 1938 finanzieren, folglich wollte er den Krieg. Schacht begrüßte den Anschluß Österreichs, folglich war er mit einer Gewaltpolitik gegen dieses Land einverstanden. Schacht ersann den handelspolitischen »Neuen Plan«, folglich wollte er Rüstungsrohstoffe beschaffen. Schacht sorgte sich um die Lebensmöglichkeiten der überzähligen Bevölkerung in Mitteleuropa, folglich wollte er fremde Länder überfallen und erobern, sowie fremde Völker austilgen. Schacht warnte die Welt immer wieder vor einer anti-deutschen Bedrückungspolitik und der moralischen Diffamierung Deutschlands, folglich drohte Schacht mit Krieg. Da sich kein schriftlicher Beweis dafür vorgefunden hat, daß Schacht wegen seiner Kriegsgegnerschaft aus seinen amtlichen Stellungen ausschied, ist zu folgern, daß er aus diesen Ämtern nur wegen seiner Rivalität mit Göring ausschied.

Die Liste dieser Fehlschlüsse ließe sich beliebig fortsetzen. Sie kulminiert in dem Trugschluß: Nie wäre Hitler zur Macht gelangt, wenn Schacht nicht gewesen wäre; nie hätte Hitler aufrüsten können, wenn Schacht nicht geholfen hätte. Ja, meine Herren, dies ist eine Beweiswürdigung, welche den Automobilfabrikanten verurteilt, weil der Taxichauffeur in der Betrunkenheit einen Passanten überfahren hat. Niemals hat Schacht in seinen Reden oder Schriften die Gewalt oder gar den Krieg propagiert. Gewiß hat er nach Versailles immer wieder auf die Gefahren hingewiesen, die aus der moralischen Ächtung und aus der wirtschaftlichen Abschnürung Deutschlands resultieren würden. Mit dieser Auffassung befindet er sich in der besten internationalen Gesellschaft. Es ist nicht notwendig, daß ich diesem Tribunal die zahlreichen Stimmen nicht Deutscher, sondern Angehöriger der Siegerstaaten zitiere, und zwar bald beginnend nach dem Versailler Vertrag, welche sich in der gleichen Richtung bewegen wie diese Warnungen Schachts. Die Richtigkeit dieses beschwörenden Hinweises wird übrigens für alle Zeiten absolute Geltung haben. Aber niemals hat Schacht andere Wege empfohlen oder auch nur für möglich erklärt, als solche einer friedlichen Verständigung und Zusammenarbeit. Ihm als ausgesprochenen Wirtschaftspolitiker war es ja mehr als jedem anderen klar, daß ein Krieg niemals eine Lösung bringen kann, auch ein gewonnener Krieg nicht. In allen Äußerungen Schachts kommt seine pazifistische Einstellung immer wieder zum Ausdruck, am kürzesten, am treffendsten vielleicht in jener Äußerung auf dem Berliner Kongreß der Internationalen Handelskammer, als Schacht in Gegenwart Hitlers, Görings und anderer Größen des Regimes der Versammlung zurief: »Glauben Sie mir, meine Freunde, die Völker wollen leben und nicht sterben.« Diese ausgesprochene pazifistische [303] Einstellung Schachts ist im übrigen ja auch durch alle Zeugen und Affidavits ebenfalls bestätigt.

Gewiß war es für die wenigen in der Welt – ich sage bewußt in der Welt und nicht nur in Deutschland –, welche Adolf Hitler und sein Regime von Anfang an richtig erkannt hatten, eine Sorge und ein Kummer, zum mindesten eine Problematik, zu sehen, daß ein Schacht Adolf Hitler nach der Machtergreifung seine Dienste und sein großes fachmännisches Können zur Verfügung stellte. Auch der Zeuge Gisevius hat diese Sorge geteilt, wie er hier bekundet hat. Er hat sich von dem reinen Wollen Schachts später durch dessen kämpferische und mutige Haltung in den Jahren 1938 und 1939 überzeugt, Schacht hat uns in seiner Vernehmung die Gründe auseinandergesetzt, welche ihn zu dieser Handlungsweise veranlaßten. Ich brauche sie und will sie im Interesse der Zeitersparnis nicht wiederholen. Die Beweisaufnahme hat nichts ergeben, was der Glaubwürdigkeit dieser Schachtschen Darstellung entgegenstände. Im Gegenteil. Ich verweise nur beispielsweise auf das Affidavit des Staatssekretärs Schmid, Exhibit Nummer 41 meines Dokumentenbuches, das sich mit der Darstellung Schachts durchaus deckt, insbesondere die eingehende Ausführung auf Seite 2. Die Gesamtbetrachtung der übrigen Zeugenbekundungen und Affidavits führt zu dem gleichen Ergebnis. Um die Handlungsweise Schachts damals, sowohl unmittelbar nach der Machtergreifung als auch später, als er Hitler und sein unheilvolles Wirken erkannt hatte, zu verstehen, ist es unbedingt notwendig, ein klares Bild über die unheilvolle Zauberwirkung Adolf Hitlers und über das Wesen seines Regimes zu gewinnen. Denn beides ist der Boden, auf welchem die Handlungen Schachts wuchsen und aus dem heraus allein sie erklärt werden können. Ich bin mir klar darüber, daß man hierüber tagelang reden und Bände schreiben könnte, wollte man erschöpfend sein. Ich bin mir aber auch darüber klar, daß vor diesem Gericht schon kurze Hinweise und Schlaglichter genügen werden, um das Verständnis des Gerichts zu gewinnen.

Der marasmische Zusammenbruch des kaiserlichen Deutschlands im Jahre 1918 bescherte dem deutschen Volke, unorganisch aufgepflanzt, nicht organisch geworden, eine parlamentarisch-demokratische Verfassungsform. Ich wage die Behauptung, daß jedes nicht eigensüchtig orientierte politische Denken die Demokratie erstreben muß, wenn man unter ihr auch den Schutz der Gerechtigkeit, Toleranz gegen Andersdenkende, Gedankenfreiheit, sowie die politische Gestaltung der Humanität versteht. Dies sind höchste überzeitliche Ideale, welche aber in entsprechenden Verfassungsformen gerade Gefahren für sich selbst in sich tragen. Wenn bei dem Einzug der Demokratie auf dem europäischen Kontinent reaktionäre politische Denker wie Fürst Metternich und Genossen sich jeder demokratischen Regung entgegenstemmten, so taten sie es, weil sie [304] nur die Gefahren einer Demokratie und nicht deren menschheitsfördernde Eigenschaften und ihre Zeitnotwendigkeit sahen. Mit dem Hinweis auf diese Gefahren hatten sie leider recht. Das klügste Volk, das wohl jemals gelebt hat, die Griechen der Antike, hatten schon auf die Entwicklungsgefahr der Demokratie über die Demagogie zur Tyrannei hingewiesen und wohl alle philosophisch-politischen Denker von Aristoteles über Thomas von Aquino haben bis in die Neuzeit auf die Gefahr dieser Entwicklung hingewiesen. Diese Gefahr wird um so größer, wenn die demokratische Freiheit im formal-staatsrechtlichen Sinn nicht organisch wächst und entsteht, sondern für ein Volk mehr oder minder ein Zufallsgeschenk wird. »En fait d'histoire il vaut mieux continuer que recommencer« hat ein großer französischer Denker gesagt. Leider ist damit Deutschland das jüngste und hoffentlich letzte Beispiel einer mit Mitteln einer teuflischen Demagogie errichteten Tyrannei eines einzelnen Despoten geworden. Denn es ist kein Zweifel: Das Hitler-Regime ist die Despotie eines einzelnen, welche Vergleiche überhaupt nur in dem Asien einer längst hinter uns liegenden Zeit findet. Zum Verständnis der Haltung eines jeden diesem Regime gegenüber, nicht nur Schachts, nicht nur jedes Deutschen, sondern überhaupt eines jeden Menschen oder einer jeden Regierung in der Welt, welche mit Hitler zusammengearbeitet hat – und eine solche auf Vertrauen beruhende Zusammenarbeit seitens des Auslandes war gegenüber Hitler viel stärker als gegenüber jeder Regierung des sogenannten Zwischenreiches oder des sogenannten Staates der Weimarer Verfassung –, es ist daher notwendig, sich mit der Persönlichkeit dieses Despoten, dieses politischen Rattenfängers, dieses genialen Demagogen auseinanderzusetzen, der, wie Schacht hier in seiner Vernehmung mit verständlicher Erregung bekundete, nicht nur ihn, sondern auch das deutsche Volk und die ganze Welt betrogen hat. Um diesen Betrug zu vollenden, mußte Adolf Hitler außer Schacht unendlich viele kluge und politisch geschulte Persönlichkeiten auch außerhalb der deutschen Grenzen in den Bann seiner Persönlichkeit ziehen. Dies ist ihm sogar bei prominenten Ausländern, auch solchen in politisch führender Stellung gelungen. Ich sehe davon ab, Namen aufzuzählen und zum Beweis dessen Zitate zu bringen. Diese Tatsache ist generell dem Tribunal bekannt.

Ich überspringe jetzt die nächsten Zeilen und trage sie nicht vor, und fahre auf der Zeile 10 fort; auf derselben Seite: Wie war diese Wirkung Adolf Hitlers auf In- und Ausland möglich? Nun, auch Faust unterlag dem Mephisto. In Deutschland kamen dieser Wirkung entgegen alle die Umstände, welche hier in der Beweisaufnahme über die damaligen Zustände in Deutschland vorgetragen worden sind, so auch von Schacht. Der völlige Zusammenbruch des parlamentarischen Parteiapparates und die hierdurch bedingte Notwendigkeit [305] auch schon für die damalige Regierung, durch ohne parlamentarische Mitwirkung zustandegekommene Notverordnungen regieren zu müssen und dadurch schon als Vorgängerin der Hitler-Diktatur eine Diktatur der Ministerialbürokratie zu errichten, erzeugte in fast allen Kreisen den Ruf nach starker Führung. Die Wirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit öffneten, wie immer das Elend, den Massen das Ohr für demagogische Einflüsterungen. Die völlige Lethargie und Inaktivität der damaligen Mittel- und Linksparteien erzeugten auch bei kritischen und klugen Betrachtern, wie es sicherlich Schacht war, die innere Bereitschaft und die Sehnsucht, einer schwungvollen politischen Dynamik und Aktivität sich zu erschließen. Soweit man, scharf und klug beobachtend wie Schacht, bereits damals Fehler und Schattenseiten entdeckte, glaubte man – dies glaubte auch Schacht – gerade durch aktives Hineingehen in die Bewegung, durch Mitarbeit in leitenden Staatsämtern, wie es Schacht tat, diese im übrigen mit jeder revolutionären Bewegung verbundenen Schattenseiten bald und leicht bekämpfen zu können. »Wenn der Adler sich erhebt, setzt sich Ungeziefer auf seine Flügel«, antwortete mir, aus dem Pescara Conrad Ferdinand Meyers zitierend, der verstorbene Justizminister Gürtner, als ich ihn nach der Machtergreifung auf diese Schattenseiten hinwies. Diese Erwägungen sind an sich verständig und in sich glaubhaft. Daß sie einen politischen Irrtum auch in der Person Schachts enthielten, nimmt ihnen nicht ihren guten Glauben und ihre anständige Gesinnung. Wir wollen doch nicht vergessen, daß wir hier in der Verhandlung einen Bericht des amerikanischen Generalkonsuls Messersmith aus dem Jahre 1933 kennengelernt haben, in welchem dieser es freudig begrüßt, daß, wie er höre, nunmehr auch anständige und besonnene Leute in die Partei einträten, weil hieraus zu hoffen sei, daß dies die Radikalismen beseitigen würde. Ich verweise auf das hier von der Anklagebehörde eingeführte Dokument L-198, nämlich den Bericht Nummer 1184 des amerikanischen Generalkonsuls Messersmith an den Staatssekretär in Washington:

»Since the election on March 5 th, some of the more important thinking people in various parts of Germany have allied themselves with the Nationalsocialist movement in the hope of tempering its radicalism by their action within rather than without the party.«

»Seit der Wahl am 5. März haben sich einige der bedeutenderen, denkenden Menschen in verschiedenen Teilen Deutschlands der nationalsozialistischen Bewegung in der Hoffnung angeschlossen, durch ihr Wirken innerhalb, anstatt außerhalb der Partei einen mäßigenden Einfluß auf den Radikalismus ausüben zu können.«

[306] Was aber hier Messersmith von dem gewöhnlichen Parteigenossen durchaus verständlich aus der damaligen Zeit sagt, gilt mutatis mutandis natürlich auch für den, der seine Mitarbeit in einem leitenden Staatsamt zur Verfügung stellte. Die Begründung, welche Schacht seinem damaligen Entschluß gibt, das Amt des Reichsbankpräsidenten und später das Amt des Reichswirtschaftsministers anzunehmen, ist deshalb in sich durchaus glaubhaft und trägt nichts, aber auch nichts Unmoralisches oder gar Kriminelles in sich. Schacht hat sich eben zur Aktivität bekannt. Ihm hat nur im Anfang die Intuition der richtigen Erkenntnis der Persönlichkeit Hitlers und gewisser seiner Trabanten gefehlt. Dies ist aber keine strafbare Handlung und auch kein Indiz für einen verbrecherischen Dolus. Diese Intuition hat den meisten gefehlt, innerhalb und außerhalb der deutschen Grenzen. Intuition ist Glückssache und eine irrationale Gnadengabe. Jeder Mensch hat seine Grenzen, auch der klügste. Gewiß ist Schacht sehr klug, aber hier hat eben die Ratio auf Kosten der Intuition gesiegt. Letztendlich wird man aber diesem Vorgang nur dann volles Verständnis entgegenbringen, wenn man die geheimnisvollen Kräfte würdigt, welche im Weltgeschehen wirksam sind und von denen Wallenstein sagt: »Dem bösen Geist gehört die Erde, nicht dem guten«; wo er von den »finsteren Mächten« spricht, »die unterm Tage schlimmgeartet hausen«. Adolf Hitler war ein prominenter Repräsentant dieser finsteren Mächte mit um so schlimmeren Wirkungen, weil ihm jede satanische Größe fehlte. Er blieb ein halbgebildeter, völlig ungeistiger Kleinbürger, dem noch dazu jedes Rechtsgefühl mangelte. Mit Recht hat der Angeklagte Frank von ihm gesagt, daß er die Juristen haßte, weil ihm der Jurist als Mann des Rechts als Störungsfaktor seiner Macht erschien. Deshalb konnte er allen alles versprechen, ohne es zu halten, weil ein Versprechen für ihn nur ein technisches Machtmittel und keine rechtliche oder moralische Bindung bedeutete. Auch die unheilvolle Wirkung Himmlers und Bormanns war für Schacht damals nicht erkennbar und wohl für niemand. In diesem Trifolium reiften aber alle jene Verbrechen, welche hier zur Anklage stehen, weil für Himmler die Politik identisch mit Mord war und weil seine rein biologische Betrachtung der menschlichen Gesellschaft in ihr nur einen Zuchtstall, aber niemals eine sozial-ethische Gemeinschaft sehen konnte. Man wird aber eine Persönlichkeit wie Adolf Hitler und ihre Wirkungen auf Menschen, und auch auf kluge Menschen wie Schacht, nur dann richtig beurteilen, wenn man, wie ich eben schon versucht habe, der Seherkraft des Dichters folgt und in Erkenntnisbereiche eindringt, welche der Ratio des Menschen im allgemeinen verschlossen sind. Zweifellos hat sich das Dämonische in Adolf Hitler zum Unheil Deutschlands und der Welt verkörperlicht und ich kann hier, [307] um abzukürzen – es ist dies aber zum Verständnis der Handlungsweise Schachts und damit im übrigen aller anderen, die Hitler freiwillig ihre Mitarbeit reinen Herzens zur Verfügung stellten, unbedingt notwendig – eine Stelle unseres Goethe zitieren, welche mit wenigen Worten alles sagt und das Geheimnisvolle offenbart. Hier liegt der Schlüsselpunkt des Verstehens für all diese Gefolgschaft Adolf Hitlers. Ich darf aus »Dichtung und Wahrheit«, 4. Teil, 20. Buch, wie folgt zitieren:

»Obgleich jenes Dämonische sich in allem Körperlichen und Unkörperlichen manifestieren kann, ja bei den Tieren aufs merkwürdigste anspricht, so steht es vorzüglich mit dem Menschen im wunderbarsten Zusammenhang und bildet eine der moralischen Weltordnung, wo nicht entgegengesetzte, so doch sie durchkreuzende Macht. Für die Phänomene, welche hierdurch hervorgebracht werden, gibt es unzählige Namen. Denn alle Philosophien und Religionen haben prosaisch und poetisch dieses Rätsel zu lösen und die Sache schließlich abzutun gesucht, welches ihnen auch fernerhin unbenommen bleibe. Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgendeinem Menschen überwiegend hervortritt. Während meines Lebensganges habe ich mehrere teils in der Nähe, teils in der Ferne beobachten können. Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten; selten sich durch Herzensgüte empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird. Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will. Die Masse wird von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen und sie sind durch nichts zu überwinden als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen; und aus solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare, aber ungeheure Spruch entstanden sein: ›Nemo contra deum, nisi deus ipse.‹«

Ich glaube dargetan zu haben, daß die Tatsache, daß Schacht Hitler seine Dienste leistete, ihn kriminell in keiner Weise belastet, daß aus dieser Tatsache in keiner Weise geschlossen werden kann, daß er damals die kriminellen Taten Hitlers und seines Regimes in seinen Willen aufnahm. Er hielt sie auch nicht für möglich. Er hatte deshalb auch keinen Dolus eventualis, im Gegenteil: Soweit ihn das Gewaltsame an diesem Regime störte, glaubte er durch seine Einschaltung an wichtiger Stelle zur Beseitigung und Verhinderung dieser auch von ihm mißbilligten Nebenerscheinungen [308] beitragen und in seinem Wirkungsbereich zum Aufstieg Deutschlands in anständiger, friedlicher Weise wirken zu können.

War dem aber so, so könnte ihm auch nicht der geringste Vorwurf daraus gemacht werden, wenn er nicht nur nach der Machtergreifung mitarbeitete, sondern auch Hitler zur Machtergreifung mitverholfen hätte.

Dieser letztere Vorwurf ist deshalb für die Begründung einer verbrecherischen Handlung oder eines verbrecherischen Dolus völlig gegenstandslos. Es bedarf aber gar nicht dieser Argumentation; denn Schacht hat tatsächlich Hitler nicht zur Macht verholfen. Hitler war an der Macht, als Schacht für ihn zu arbeiten anfing. Hitler hatte seinen Sieg in der Tasche, als ihm die Juli-Reichstagswahl 1932 nicht weniger als 230 Mandate brachte. Das waren rund 40 Prozent aller Stimmen. Ein solches Wahlergebnis für eine Partei war seit Jahrzehnten nicht dagewesen. Damit war aber die nächste politische Zukunft gerade nach den Spielregeln der deutschen demokratischen Verfassung und jeder demokratischen Verfassung mit einer durch Hitler geführten Regierung festgelegt. Jeder andere Weg brachte die Gefahr eines Bürgerkrieges mit sich. Daß Schacht, der an die politische Mission Hitlers damals ehrlich glaubte, diesen Weg nicht gehen wollte, war selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich war, daß er sich aktiv einschaltete, wenn er glaubte, hierdurch schädliche Radikalismen auf wirtschaftspolitischem Gebiet verhindern zu können. Ein weiser französischer Staatsmann sagt: Jede Zeit stellt uns irgendwie vor die Aufgabe, Nutzen zu stiften oder Schaden zu verhüten; aus diesem Grunde kann und muß nach meiner Auffassung ein vaterlandsliebender Mann jeder Regierung dienen, die sein Land sich einsetzt.

Schacht diente nach seiner Meinung, wenn er Hitler damals diente, seinem Lande und nicht Hitler. Diese Meinung mag so irrtümlich gewesen sein, wie nur möglich, und sie hat sich, was die Person Hitlers anlangt, ex post als völlig irrig erwiesen; keinesfalls kann Schacht diese seine damalige Handlungsweise strafrechtlich belasten, weder unmittelbar noch indiziell. Wir dürfen ja auch nicht vergessen, daß der Hitler von 1933 nicht nur ein anderer schien als der Hitler von 1938 oder gar von 1941, sondern ein anderer war. Schacht hat in seinem Verhör auf diese Wandlung, bedingt durch das Gift der Vergottung durch die Masse, bereits hingewiesen. Diese Wandlung solcher Persönlichkeiten ist im übrigen ein psychologisches Gesetz. Die Geschichte erweist dies in Nero, in Konstantin dem Großen und in vielen anderen. Im Falle Hitler existieren viele für die Wahrheit dieser Tatsache unverdächtige Zeugen, nämlich unverdächtig in dem Sinn, daß ihnen nie eine Gesinnung oder eine Absicht unterstellt werden kann, das Recht zu vergewaltigen, den Terror zum Prinzip zu erheben oder gar die Menschheit mit [309] einem Angriffskrieg zu überfallen. Ich will nur einige wenige anführen. Ich könnte die Zitate verhundertfachen. Lord Rothermere schrieb 1934 in der »Daily Mail« einen Artikel mit der Überschrift: »Adolf Hitler aus der Nähe«. Ich zitiere nur einige wenige Sätze.

»Die hervorragendste Gestalt in der heutigen Welt ist Adolf Hitler... Hitler steht in der direkten Reihe jener großen Menschheitsführer, die selten mehr als einmal in zwei oder drei Jahrhunderten auftauchen... Es ist erfreulich zu sehen, daß Hitlers Rede seine Volkstümlichkeit in England stark erhellt hat.«


VORSITZENDER: Dr. Dix! Der Gerichtshof hat, glaube ich, die Schriften von Lord Rothermere nicht zugelassen.

DR. DIX: Ich habe den Beschluß des Gerichts, daß es mir im Dokumentenbuch Zitate über Rothermere ablehnte, dahin aufgefaßt – und so ist es auch in der Objektion der Prosekution begründet worden –, daß das eine Sache der Argumentation wäre, die nicht als Tatsache in die Beweisaufnahme gehöre; es wäre unwesentlich für die Beweisaufnahme, daß Rothermere und andere die Ansicht vertreten haben; und ich habe daraus den Schluß gezogen – und ich bin heute noch der Auffassung, daß dieser Schluß richtig ist –, daß ich im Zuge der Argumentation, das heißt im Zuge der Würdigung, Stellen aus der Gesamtliteratur der Welt, soweit diese bekannt ist, zur Stützung einer Gedankenführung zitieren kann. Es ist nicht eine Tatsache, die ich dem Gericht zur Beweisführung unterbreiten will, daß Rothermere das gesagt hat, sondern für meine Behauptung im Zuge meiner Darstellung, daß nicht nur Schacht, sondern auch andere kluge und prominente Leute, auch außerhalb Deutschlands, zunächst die gleiche Auffassung über Hitlers Persönlichkeit hatten...


VORSITZENDER: Dr. Dix! Der Gerichtshof hat schon darauf hingewiesen, daß er diese Schriften als Beweisstück nicht zuläßt, denn er beachtet die von dem Verfasser ausgedrückte Meinung nicht. Daher glauben wir, es wäre besser, wenn Sie sich einem anderen Teil Ihrer Argumentation zuwenden.


DR. DIX: Ich bitte dann – das Gericht hat ja die Übersetzung meines Plädoyers vor sich –, daß ich eine kurze Stelle aus Sumner Welles zitiere und dann eine Stelle, die mir sehr wichtig erscheint, aus dem Buch des letzten Botschafters. Ich wäre sehr dankbar, wenn ich diese beiden Stellen zitieren könnte, denn ich weiß ja nicht, wenn man nachweisen will, daß auch ein kluger Mensch eine bestimmte Ansicht haben kann, und er ist berechtigt dazu, daß dann der nächstliegende und zwingendste Beweis dafür die Tatsache ist, daß auch andere kluge und völlig objektive Menschen gleiche Ansichten gehabt haben. Ich verliere einen wesentlichen Teil meiner Argumentation, wenn ich die beiden kleinen Zitate nicht zitieren[310] dürfte. Ich bitte aber, das kurz zu hören, es ist nur das Zitat von Sumner Welles und Henderson.


VORSITZENDER: Ich habe über Sumner Welles nichts gesagt. Da wir die diesbezüglichen Schreiben von Lord Rothermere ausdrücklich ausgeschlossen hatten, hielten wir es nicht für richtig, daß Sie ihn zitieren. Meines Wissens haben wir diese anderen Bücher, auf die Sie sich in Ihrer Rede beziehen, nicht ausgeschlossen, weshalb wir es für das beste hielten, wenn Sie dazu übergehen.


DR. DIX: Ich zitiere aus dem Buch von Sumner Welles »Zeit zur Entscheidung«, 1944 in Neuyork erschienen:

»Wirtschaftskreise in jeder einzelnen der westeuropäischen Demokratien und der neuen Welt bewillkommnen das Hitlertum.«

Es ist nur gerecht, wenn der letzte Botschafter Großbritanniens in Berlin noch im Kriege auf Seite 25 seines Buches folgendes ausführt:

»Es wäre in einem hohen Grade ungerecht, nicht zu erkennen, daß eine große Anzahl von denen, die sich Hitler anschlossen und für ihn und das Naziregime arbeiteten, ehrliche Idealisten waren.«

Und weiter unten sehr interessant:

»Es ist möglich, daß Hitler am Anfang selbst ein Idealist gewesen ist.«

Und die Regierung Großbritanniens hätte doch niemals noch im April 1935 den Flottenvertrag mit Hitler-Deutschland abgeschlossen und damit gerechterweise zu einer Modifikation des Vertrags von Versailles beigetragen, wenn sie nicht volles Vertrauen in Hitler und seine Regierung gesetzt hätte. Das gleiche gilt schließlich für alle von Hitler abgeschlossenen internationalen Verträge, einschließlich des Vertrags mit Rußland noch im August 1939. Und es hat heute noch etwas Erschütterndes, wenn ein so kluger und ethisch hochstehender Mann wie der verstorbene britische Premier Chamberlain noch im Januar 1939, also zu einer Zeit, wo Schacht schon längst gegen Hitler die dunklen Pfade des Verschwörers beschritten hatte, und zwar trotz der Erfahrungen des Jahres 1938, in einer Rede erklärte, er halbe aus der vorangegangenen Hitler-Rede den endgültigen Eindruck gewonnen, daß das nicht die Rede eines Mannes sei, der Vorbereitungen treffe, Europa in einen neuen Krieg zu stürzen; und ich habe keinen Zweifel, daß diese Worte nicht taktisch gesprochen waren, sondern die wahre Ansicht des Sprechers wiedergaben. Solche Beispiele ließen sich häufen. Will man nun einem Deutschen für die Jahre 1933 und folgende das Recht abstreiten, gutgläubig zu dem gleichen Urteil über Adolf Hitler zu kommen? Dem steht auch nicht entgegen, daß Schacht das Amt als Wirtschaftsminister erst nach dem 30. Juni 1934 angenommen hat.

[311] Die ganze Ungeheuerlichkeit dieser Vorgänge wird erst retrospektiv klar. Im Juni 1934 stand man noch inmitten einer revolutionären Bewegung, und die Geschichte wird bei jeder solchen Revolution ähnliche Vorgänge feststellen können. Ich brauche dies nicht im einzelnen zu beweisen und möchte dies auch nicht tun. Die Ereignisse des 30. Juni 1934 brauchen deshalb für Schacht genau so wenig und noch weniger ein Grund zu sein, sich mit Abscheu von Hitler abzuwenden, wie diese die Regierungen der Welt nicht gehindert haben, nicht nur vertrauensvoll diplomatische Verbindungen mit Hitler weiter zu pflegen, sondern ihm insbesondere noch nach 1934 große Ehrungen zu erweisen und erhebliche außenpolitische Erfolge zu gestatten. Kann man es aber strafrechtlich nicht zu Lasten Schachts buchen, daß er sich der Hitler-Regierung zur Verfügung stellte, ist es völlig überflüssig, ja es wäre subaltern, Einzelakte, wie zum Beispiel die Eingabe an den Reichspräsidenten aus dem Jahre 1932 oder seinen Brief an Hitler aus dem gleichen Jahre, hier mit langen Erklärungen entschuldigen zu wollen. Sie erklären sich für den Kenner des Lebens durchaus natürlich aus dieser grundsätzlichen Einstellung Schachts. Erweist sich diese strafrechtlich und beweistechnisch bedenkenfrei, kann man auch nicht mit solchen Dokumenten gegen Schacht argumentieren. Es kommt nur auf das Grundsätzliche an. Das gleiche gilt für die Teilnahme Schachts an der sogenannten Industriellenversammlung. Zu ihr möchte ich nur richtigstellend bemerken – vergleiche Affidavit Schnitzler –, daß Schacht weder diese Versammlung geleitet noch diesen Fonds ausschließlich für die Nationalsozialistische Partei verwaltet hat.

Nun hat hier ein Zeuge gerade über diese Periode der Schachtschen Einstellung zur Machtergreifung und Befestigung ein Leumundsurteil abgegeben: Schacht sei ein unzuverlässiger Kantonist gewesen; Schacht habe die Sache der Demokratie damals verraten; er – der Zeuge – habe deshalb 1943 es abgelehnt, einer Regierung beizutreten, die unter Schachts Beteiligung Hitler stürzen sollte.

Es war dies der frühere Minister Severing, der nach seiner eigenen Bekundung den Ministersessel und das Ministerzimmer räumte, als am 20. Juli 1932 der Polizeipräsident von Berlin und zwei Polizeibeamte bei ihm erschienen, seine Absetzung verlangend mit der Behauptung, sie seien hierzu vom Reichspräsidenten ermächtigt.

Severing räumte, wie er selbst sagte, das Feld, um Blutvergießen zu vermeiden. Trotz der großen Achtung, welche ich dem sauberen politischen Charakter Severings entgegenbringe, bin ich zu meinem Bedauern gezwungen, gerade ihm jede Legitimation abzusprechen, über Staatsmänner ein kompetentes Leumundszeugnis abzugeben, die nicht gleich ihm und seiner Regierungskoalition in lethargischer Passivität verharrten. Severing und seine politischen Freunde[312] tragen zwar nicht vor dem Strafrichter, aber vor der Geschichte durch ihre Unentschlossenheit und letztendliche politische Ideenlosigkeit für die Machtergreifung Adolf Hitlers eine ungleich größere Verantwortung als Hjalmar Schacht. Und diese Verantwortung wird eine um so größere, da der Zeuge ja für sich in Anspruch nimmt, bereits damals erkannt zu haben, daß der Machtantritt Hitlers den Krieg bedeutet. Gerade wenn man ihm diese richtige politische Intuition glaubt, wird seine und seiner politischen Freunde Verantwortung angesichts ihrer damaligen und späteren Passivität um so größer, wiederum ungleich größer, als diejenige von Hjalmar Schacht.

Unsere deutschen Arbeiter sind doch wahrlich nicht feiger als die holländischen. Es hat unser Herz erfreut, hier von einem Zeugen den Mannesmut der holländischen Arbeiter bekundet zu hören, die unter den Bajonetten der Invasionsarmee zu streiken wagten. Severing und seiner politischen Freunde berechtigter Anhang in der deutschen Arbeiterschaft hätte diese vielleicht doch veranlassen können, die Auflösung der Gewerkschaften nicht mit solch stumpfer Passivität über sich ergehen zu lassen, wie es 1933 der Fall war, wenn ihre geborenen Führer wie Severing und Genossen etwas gewagt und sich exponiert hätten. Schließlich ist ja auch der Kapp-Putsch des Jahres 1923 durch den Generalstreik der Arbeiter besiegt worden. Das Hitler-Regime war 1933 nicht so stark, daß es die Wahrheit des an die Arbeiter adressierten Dichterwortes nicht zu fürchten brauchte: »Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will.« Die damalige nationalsozialistische Regierung war sich hierüber auch ganz im klaren und hatte entsprechende Befürchtungen. Dies ergibt sich auch aus dem Verhör Görings vom 13. Oktober 1945, dessen Protokoll Professor Kempner am 16. Januar 1946 zitierte und überreichte. Göring sagt da:

»Sie müssen berücksichtigen, daß zur damaligen Zeit die Tätigkeit der Kommunisten außergewöhnlich stark war und daß unsere neue Regierung als solche nicht sehr gesichert war.«

Aber auch dieser soeben erörterte starke Arm brauchte eine Führung, welche der Arbeiterschaft versagt blieb, und zu ihr wären Männer wie Severing berufen gewesen. Sie werden ihre Passivität mit Recht nicht vor dem Strafrichter, aber vor der Geschichte zu verantworten haben. Ich maße mir kein abschließendes Urteil an. Ich beschränke mich darauf, diese Problematik offenzulegen und dem Zeugen Severing unter voller menschlicher Achtung ein starkes und peinliches Maß von Selbstgerechtigkeit zu attestieren, wenn er sich berufen fühlt, andere zu belasten bei Untersuchung der Frage, wen die Schuld an der Machtergreifung und Machtbefestigung des Nazitums historisch trifft, namentlich wenn er, im Gegensatz zu[313] Schacht, die spätere Entwicklung Hitlers intuitiv vorausgesehen hat, statt sich in Demut unter Berufung auf seine sicherlich anständige Gesinnung und sein sicherlich reines Wollen dem Urteil der Geschichte zu stellen. Wir wollen uns immer zur Reinhaltung der historischen Wahrheit vor Augen halten, daß namentlich im Anfang der Nazi-Herrschaft, mit Ausnahme einer Intervention des Auslands, nur zwei Machtgruppen Deutschland vielleicht hätten befreien können: die Armee und die Arbeiterschaft, beide selbstverständlich unter entsprechender Führung. Ich mußte zu diesem Punkt ausführlicher werden, weil eine derartige herabsetzende Bemerkung eines so untadeligen und vornehmen Mannes wie Severing die Gefahr ungerechter Folgerungen für meinen Klienten mit sich bringt. Es wäre mir angenehm gewesen, wenn mir diese Auseinandersetzung mit Severings belastender Aussage erspart geblieben wäre. Severing hatte des weiteren den Vorwurf des politischen Opportunismus gegen Schacht erhoben. Ja, in der Politik ist die Grenze zwischen Opportunismus und staatsmännischem zweckbedingten Handeln sehr flüssig. Ehe man das Verhalten Schachts 1932 und 1933 opportunistisch wertet, hätte man ja auch seine Vergangenheit sich ansehen müssen. Diese Vergangenheit hat sich von 1923 ab in voller Öffentlichkeit vollzogen. Sie ist Gegenstand dieser Verhandlung teilweise gewesen, teilweise ist sie gerichtsnotorisch. Diese Vergangenheit spricht viel mehr dafür, daß Schacht das, was er für richtig hält, nicht nur mit großer Rücksichtslosigkeit, sondern auch mit großem Mute durchsetzt. Diesen Mut hat er ja dann auch als Verschwörer gegen Hitler bewiesen, wie sich zwangsläufig bei Betrachtung dieser Verschwörertätigkeit ergibt und wie ihn ja ausdrücklich Gisevius hier bekundet hat.

Kehren wir aber mit Schacht auf das Jahr 1923 zurück. Damals stabilisierte er die Mark gegen alle Inflationsinteressenten; 1924 sperrte er die Kredite gegen alle Devisenhamsterer, 1927 entzog er den Börsenspekulanten die Kreditbasis für ihr Börsenspiel. Von 1925 bis 1929 kämpfte er gegen die Schulden- und Ausgabenpolitik der Kommunen und zog sich dadurch die Feindschaft aller Bürgermeister zu. 1929 unterschrieb er den Young-Plan und trotzte damit der Gegnerschaft der schwerindustriellen Kreise, und im Verfolg dieser Natur kämpfte er von 1934 offen gegen die Verkehrtheiten und Auswüchse der Nazi-Ideologie und hat für seine Person niemals einen Wunsch oder einen Befehl ausgeführt, der seinem Gewissen oder seinem Rechtsbewußtsein widersprochen hätte. Gewisse Konzessionen muß in einer fanatischen Zeit jeder Staatsmann machen. Gewisse Moralprediger, deren es heute, wie immer, viele gibt, welche Stahlhärte für die Wahrung von Grundsätzen verlangen, sollten nicht vergessen, daß der Stahl zwei Eigenschaften hat, nämlich nicht nur die Festigkeit, sondern auch die Biegsamkeit.

[314] Euer Lordschaft! Ich bin jetzt an einem bestimmten Abschnitt; der nächste würde länger dauern. Ich werde mit ihm bestimmt erst nach 1.00 Uhr fertig. Ich wäre dankbar, wenn Euer Lordschaft jetzt die Mittagspause einlegten. Es kommt jetzt die Einfügung I...

VORSITZENDER: Herr Dr. Dix! Es wäre vielleicht besser, wenn Sie bis 1.00 Uhr fortfahren würden.

DR. DIX: Meine Herren Richter! Sie haben in dem übersetzten Exemplar, das vor Ihnen liegt, am Schluß zwei Einfügungen, zwei Annexe. Ich mußte so verfahren, weil das, was ich in diesem Annex behandle, passiert ist, nachdem ich mein Plädoyer zur Übersetzung eingereicht hatte. Ich mußte also diese Stellungnahme hineinarbeiten und das konnte ich nur durch einen Annex. Ich komme also jetzt zu dem Vortrag des Annexes I, der hinten ist, und zwar, da ich einmal bei der Würdigung von Zeugenaussagen halte, zu der Würdigung der Zeugenaussage Gisevius durch meinen Kollegen Dr. Nelte.

Soweit Herr Kollege Nelte die objektive Zuverlässigkeit der Aussage des Gisevius hinsichtlich seiner, die Angeklagten Keitel, Göring und so fort belastenden Aussagen bemängelt, enthalte ich mich jeder Ausführung. Möge die Prosekution hierzu Stellung nehmen, wenn sie will. Meine Aufgabe ist dies nicht.

Nun aber hat Dr. Nelte auch die subjektive Glaubwürdigkeit von Gisevius in der persönlichen Moral dieses Zeugen angegriffen und damit indirekt auch die Zuverlässigkeit seiner Dr. Schacht betreffenden Bekundungen. Dies erfordert meine Stellungnahme, und zwar ganz grundsätzlicher Natur.

Meine Herren Richter! Hier scheiden sich die Geister. Eine unüberbrückbare Kluft tut sich auf zwischen dem Standpunkt Schachts und dem Standpunkt aller derjenigen, welche sich die Gedankengänge zu eigen machen, mit denen Dr. Nelte Gisevius, die Toten Canaris, Oster, Nebe und so fort moralisch zu disqualifizieren versucht. Ich bin es schlechterdings meinem Klienten Dr. Schacht schuldig, hier ganz klar und eindeutig folgendes grundsätzlich zu erklären:

Patriotismus bedeutet Treue gegen Vaterland und Volk und Feindschaft bis aufs Messer gegen jeden, welcher verbrecherisch das Vaterland und das eigene Volk ins Elend und Verderben führt. Ein solcher Führer ist ein Feind des Vaterlandes, in seiner Wirkung vielfach gefährlicher als der Kriegsgegner. Gegen eine solche verbrecherische Staatsführung ist jedes, aber auch jedes Mittel recht, und zwar: a corsaire, corsaire et demi.

Hochverrat gegen eine solche Staatsführung ist wahrer und echter Patriotismus und als solcher höchst moralisch, auch im Kriege. Wer könnte nun nach den Feststellungen dieses Prozesses und zuletzt [315] noch nach der Aussage Speers über die zynischen Äußerungen Hitlers hinsichtlich des Unterganges des deutschen Volkes den geringsten Zweifel hegen, daß Adolf Hitler der größte Feind seines Volkes, kurz ein Verbrecher an diesem Volke war, den zu beseitigen jedes Mittel recht und jede, aber auch jede Tat patriotisch war. Welten trennen Schacht von jedem auf der Anklagebank, der dies nicht anerkennt.

Zur Reinigung der Atmosphäre mußte dies gesagt werden. Einzelheiten der Angriffe des Herrn Dr. Nelte auf Dr. Gisevius zu widerlegen, kann ich mir nach dieser grundsätzlichen Klarstellung ersparen. Soweit Dr. Nelte Einsatzfreudigkeit bei diesen Widerstandsgruppen, denen Schacht angehörte, vermißt, nun, so verweise ich nur auf die vielen Hunderte gehängter Toten des 20. Juli allein, wo Schacht zu den ganz wenigen Überlebenden gehört, und auch er sollte ja noch in Flossenbürg liquidiert werden. Ich verweise auf die nach Tausenden zählenden Todesopfer der politischen Gerichtsbarkeit im Staate Hitlers. Wahrlich, gegen Hitler den Krieg der Verschwörung und damit notwendigerweise auch der List und der Heuchelei zu führen, stand an Einsatzgefahr für Leib und Leben der Exponiertheit an der Front nicht nach.

Seinen durch das Veröffentlichungsverbot entstandenen Irrtum in Sachen Rücktritt Papen hat Gisevius dem ihn loyalerweise kreuzverhörenden Kollegen Dr. Kubuschok sofort zugegeben. Mehr habe ich hierzu nicht zu sagen.


VORSITZENDER: Wir vertagen uns nunmehr.


[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 18, S. 281-317.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Fantasiestücke in Callots Manier

Fantasiestücke in Callots Manier

Als E.T.A. Hoffmann 1813 in Bamberg Arbeiten des französischen Kupferstechers Jacques Callot sieht, fühlt er sich unmittelbar hingezogen zu diesen »sonderbaren, fantastischen Blättern« und widmet ihrem Schöpfer die einleitende Hommage seiner ersten Buchveröffentlichung, mit der ihm 1814 der Durchbruch als Dichter gelingt. Enthalten sind u.a. diese Erzählungen: Ritter Gluck, Don Juan, Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza, Der Magnetiseur, Der goldne Topf, Die Abenteuer der Silvester-Nacht

282 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon