Nachmittagssitzung.

[696] [Der Angeklagte Seyß-Inquart im Zeugenstand.]


DR. STEINBAUER: Herr Zeuge! Wir haben zuletzt Ihre Stellung zur Frage der Tschechoslowakei besprochen, Ihre Stellung als Reichsstatthalter in Wien und haben Ihr unleidliches Verhältnis zu Bürckel vorgetragen. Das hat veranlaßt, daß Sie eine andere Tätigkeit ergriffen haben. Sie kamen nach Polen. Welches war Ihre Funktion in Polen?

SEYSS-INQUART: Ich hin zuerst zum Verwaltungschef Südpolens ernannt worden. Das wäre noch im Rahmen der Wehrmacht gewesen. Diese Verwaltung wurde aber gar nicht eingerichtet, sondern es wurde gleich das Generalgouvernement geschaffen, und ich wurde zum Stellvertreter des Generalgouverneurs ernannt. Der Wirkungskreis ist im Gesetz festgelegt, aber hängt natürlich davon ab, in welchem Fall der Generalgouverneur von meiner Stellvertretung Gebrauch macht. Das hat er selbst einmal in einer Besprechung am 19. Januar 1940 festgelegt.


DR. STEINBAUER: Ich möchte hierzu auf das Dokument Nummer 73, Seite 185, verweisen. Es ist dies ein Auszug aus dem Tagebuch des Dr. Frank, wo er auf Seite 14 die Funktion des Seyß-Inquart beschreibt und ferner auf Seite 30 erklärt, was er mir auch persönlich wiederholt hat, daß ja für das, was dort geschah, von ihm die Verantwortung getragen wird.

Nun sind Sie Stellvertreter des Generalgouverneurs geworden, wo Sie eigentlich rangmäßig der Höhere gewesen sind, Reichsminister, und haben nun eine Tätigkeit ausgeübt, die ja, wie wir gehört haben, vor allem berichtend war. Es wird Ihnen nun unter der Nummer 2278-PS ein Bericht vorgehalten, den Sie selbst verfaßt haben und wo man Ihnen gewisse Sachen vorwirft. Ich bitte Sie, sich zu diesem Reisebericht zu äußern.


SEYSS-INQUART: Dieser Bericht ist von meinem Sekretär verfaßt worden. Ich habe ihn bestimmt gelesen.


DR. STEINBAUER: US-706.


SEYSS-INQUART: Mir wird unter anderem vorgeworfen, der Gouverneur von Lublin mache den Vorschlag, die Juden aus Lublin in das Gebiet von Cycow zu bringen, um sie zu dezimieren. Die Anklage verweist selbst darauf, daß es sich um eine Einschaltung des Schreibers handelt. Das war auch kein offizieller Bericht in einer Sitzung.

Cycow selbst war das Siedlungsgebiet einer deutschen Volksgruppe, und eine Verwendung der Juden in diesem Siedlungsgebiet konnte für mich nicht den Verdacht erwecken, als ob die Juden in diesem Gebiet infolge der klimatischen Einwirkungen vernichtet[696] werden sollen. Es war mir aber bekannt, daß der Gouverneur die sehr zahlreiche jüdische Bevölkerung von Lublin aus der Stadt herausbringen wollte. Eine spezifische Absicht mit dem Wort »Dezimieren« im Sinne der Vernichtung ist mir nicht erinnerlich. Der Gouverneur von Radom hat mir berichtet, daß vorgefundene Schwerverbrecher erschossen worden sind. Das ist richtig, das hat er mir gesagt. Ich hatte den Eindruck, daß dies im Wege der damals noch in Funktion stehenden Polizeistandgerichte geschehen ist. Es sind aber verschiedene Stellen im selben Bericht, wo ich immer darauf aufmerksam mache, daß deutsche Gerichte eingeführt werden müssen und daß keine Urteilsvollstreckungen ohne Gerichtsurteil vorgenommen werden dürfen. Ich glaube, daß ich das damals in Radom wahrscheinlich auch gesagt habe, nur, daß es im Bericht nicht erwähnt ist.

Es wird mir vorgeworfen, ich hätte gewisse notwendige Produkte, Salze und so weiter monopolisieren wollen. Das war in dem wirtschaftlichen Chaos selbstverständlich, in dem wir Polen gefunden haben. Wir mußten zu einer Naturalwirtschaft kommen, der landwirtschaftlichen Bevölkerung gewisse Produkte liefern, damit sie dafür zugunsten der polnischen städtischen Bevölkerung Lebensmittel liefert. Ich verweise darauf, daß ich auf die Wiedererrichtung der polnischen Selbsthilfe unter den alten Leuten aus der früheren polnischen Zeit gedrungen habe, auf die Zurverfügungstellung von neun Millionen Zloty, von Kraftwagen und so weiter; überdies, daß die Pflichtarbeit möglichst bald durch normale Arbeit ersetzt werden muß.


DR. STEINBAUER: Herr Zeuge! In der polnischen Frage spielt die sogenannte AB-Aktion eine große Rolle. Das ist die Abkürzung für »Außerordentliche Befriedungsaktion«. Nachdem sie zeitlich noch eventuell in Ihre Zeit fallen könnte, möchte ich fragen, ob Sie davon etwas wissen.


SEYSS-INQUART: Diese Angelegenheit spielt sich in der allerletzten Zeit meines polnischen Aufenthaltes ab. Mit Beginn des Norwegenfeldzuges, verstärkt durch den Westfeldzug, ist die Widerstandsbewegung der Polen sehr aktiv geworden. Die Sicherheitspolizei verlangte schärfstes Eingreifen. Der Einwand, den Bühler gemacht hat, wie er als Zeuge hier angegeben hat, ist wirklich gemacht worden. Ich habe die Worte des Generalgouverneurs aber immer so aufgefaßt, wie sie Bühler aufgefaßt wissen wollte; aber Bühler hat sehr recht gehabt, aufmerksam zu machen, denn vielleicht hätte die Polizei größere Vollmachten aus den Worten entnommen, als der Generalgouverneur ihr geben wollte.

Dr. Frank hat gegen die Urteile der Polizeistandgerichte immer Stellung genommen, hat eine eigene Prüfungskommission eingesetzt, [697] der ich vorgesessen bin, solange ich in Polen war, und wir haben manchmal bis zur Hälfte der ergangenen Urteile aufgehoben.


DR. STEINBAUER: Wie lange waren Sie überhaupt tatsächlich während Ihrer Zeit Stellvertreter in Verhinderung des Frank?


SEYSS-INQUART: Ich glaube, zehn Tage.


DR. STEINBAUER: Zehn Tage. Ich glaube also, Polen ganz kurz abschließen zu können mit der Frage: Haben Sie auch irgendwelche Maßnahmen getroffen, die man effektiv als im Interesse der polnischen Bevölkerung bezeichnen kann?


SEYSS-INQUART: Im Winter 1939/1940 war in den polnischen Städten Hungersnot. Ich habe bei Staatssekretär Backe persönlich interveniert und einmal zum Beispiel 6000 Tonnen Getreide für die Großstädte erwirkt. Ich habe beim Herrn Reichsmarschall Göring und beim Führer dafür interveniert, daß die Stadt Lodz beim Generalgouvernement bleibt und ebenso das Kohlengebiet westlich von Krakau.


DR. STEINBAUER: Ich wende mich nun dem Hauptanklagepunkt zu. Das ist die Frage Ihrer Tätigkeit in den Niederlanden.

Meine erste Frage geht dahin: Wieso sind Sie überhaupt Reichskommissar der Niederlande geworden?


SEYSS-INQUART: Der Führer hat mich ernannt.


DR. STEINBAUER: Wo waren Sie damals?


SEYSS-INQUART: Ich befand mich auf einer Dienstreise im Generalgouvernement und wurde von Dr. Lammers aufgefordert, in das Hauptquartier zu kommen.


DR. STEINBAUER: Sie haben sich also nicht darum beworben?


SEYSS-INQUART: Ich habe gar nicht daran gedacht. Ich habe damals gerade den Führer gebeten, zur Wehrmacht einrücken zu dürfen.


DR. STEINBAUER: Ja, waren Sie nicht durch Ihre Kriegsverletzung gehindert, Wehrmachtsangehöriger zu werden?


SEYSS-INQUART: Ich habe gehofft, daß ich doch noch irgendeine Verwendung finden kann.


DR. STEINBAUER: Welches waren nun die Instruktionen, die Sie vom Führer für diese Stellung bekommen haben?

SEYSS-INQUART: Diese Instruktionen sind in dem von der Anklage vorgelegten Dokument 997-PS recht gut dargestellt.


DR. STEINBAUER: Es ist RF-122.


SEYSS-INQUART: Ich hatte die zivile Verwaltung zu führen und in deren Rahmen die Interessen des Reiches wahrzunehmen. Ich habe auch einen politischen Auftrag bekommen, nämlich bei Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit Niederlande zu trachten, [698] daß dieselben aus ihrer englandfreundlichen Einstellung eins deutschlandfreundliche Einstellung einnehmen mit einer besonders engen wirtschaftlichen Verbindung.

Ich möchte auf den dritten Absatz des Dokuments verweisen, in dem ich auf die Schwierigkeiten dieser beiden Aufträge und ihrer Übereinstimmung hingewiesen habe. Ich verwies darauf, daß dieselben nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen seien. Die Besatzungsmacht verlange die Unterbindung aller möglichen öffentlichen Betätigungen, die Weckung einer politischen Willensbildung, aber die Gewährung solcher Freiheiten, daß das schließliche Ergebnis für die Niederländer zu einer eigenen Entscheidung wird. Ich hatte also nicht die Absicht, den Niederländern einen bestimmten politischen Willen zu oktroyieren.


DR. STEINBAUER: Ist dieser Auftrag des Führers später irgendwie abgeändert worden?


SEYSS-INQUART: Dieser Auftrag ist niemals abgeändert worden.


DR. STEINBAUER: Wie haben Sie diesen Auftrag nun in politischer Beziehung durchgeführt? Haben Sie die bestehenden Parteien in den Niederlanden zur Mitarbeit herangezogen?


SEYSS-INQUART: Mit Ausnahme der marxistischen Parteien habe ich alle Parteien bestehen lassen und ihnen eine Betätigungsmöglichkeit gegeben, soweit dies im Interesse der Besatzungsmacht möglich war. Die nationalsozialistischen Parteien habe ich besonders gefördert.


DR. STEINBAUER: Die Anklage hält Ihnen nun vor, daß Sie in Ihren Reden manches anders dargestellt haben, als Sie es ausgeführt haben. Ich verweise da auf 3430-PS, US-708.

So wird behauptet, daß Sie versucht haben, den Holländern den Nationalsozialismus aufzuzwingen.

Es ist Dokument Nummer 76, Seite 197 meines Dokumentenbuches.


SEYSS-INQUART: Es ist bestimmt richtig, daß das, was ich mir vorgenommen habe und in meinen Reden als Vorsatz auch proklamiert habe, in der Praxis nicht durchgeführt wurde und durchführbar war. Es mag aber auch sein, daß es den Niederländern den Eindruck machte, als ob ich ihnen den Nationalsozialismus oktroyieren wollte, weil ich nur die nationalsozialistischen Parteien schließlich zugelassen hatte und die übrigen Parteien verbieten mußte.

Ich habe aber niemals mit staatlichen Zwangsmitteln von irgendeinem Niederländer verlangt, daß er Nationalsozialist werde oder die Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Partei zur Voraussetzung gemacht, die allgemeinen Rechte auszuüben, die irgendeinem Niederländer zugekommen sind.

[699] Ich habe dies in meiner Rede übrigens ausdrücklich erwähnt. Ich habe gesagt:

»Ich werde immer als Nationalsozialist handeln... Das bedeutet aber nicht, daß ich auch nur einem Menschen den Nationalsozialismus aufzwingen will. Der Nationalsozialismus ist eine Sache der inneren Überzeugung.

Nun gibt es hier zwei Gruppen von Organisationen... die politischen, bei denen ich Wert darauf lege, daß jedes einzelne Mitglied zum Nationalsozialismus geführt wird. Das sind aber durchaus freiwillige Organisationen... Die berufsständischen Organisationen... Da ist es gleichgültig, welche Gesinnung der einzelne Mann hat, wenn er nur eben seine Aufgabe aus seinem Beruf heraus erfüllt.«


DR. STEINBAUER: Warum und wann haben Sie nun die politischen Parteien in den Niederlanden aufgelöst?

SEYSS-INQUART: Das erfolgte in der zweiten Hälfte 1941. Mit Ausbruch des Ostfeldzuges nahmen alle politischen Parteien mit Ausnahme der Nationalsozialisten eine aktive feindliche Stellung gegen die Besatzungsmacht ein. Eine Duldung war im Interesse der Besatzungsmacht nicht mehr möglich.

Ich glaube, es ist immerhin beachtlich, daß ich diese Parteien eineinhalb Jahre lang in Betätigung ließ, die ja für den Nationalsozialismus um nichts weniger feindlich sind, als der Nationalsozialismus heute für die demokratischen Parteien.


DR. STEINBAUER: Sagen Sie, ist es richtig oder nicht, daß Sie dagegen einseitig die Partei NSB bevorzugt haben?


SEYSS-INQUART: Das ist bestimmt richtig, soweit es sich um das politisch-propagandistische Gebiet handelt. Es ist unrichtig, soweit es sich um den staatlichen Bereich gehandelt hat.

Mir ist die Errichtung des sogenannten volkspolitischen Sekretariats vorgeworfen worden. Es war ein nationalsozialistischer Beratungskörper für meine Verwaltung, der auf die niederländische Verwaltung keinen Einfluß nehmen durfte. Solche Versuche habe ich strikte unterbunden.

DR. STEINBAUER: Haben Sie nun trotzdem nicht einzelne Mitglieder der NSB in staatliche Stellungen gebracht?


SEYSS-INQUART: Es ist richtig und für mich selbstverständlich, denn ich mußte mir Mitarbeiter aussuchen, auf die ich mich verlassen konnte. Aber dieselben standen nicht unter einem Parteibefehl, ja im Gegenteil, es hat sich meistens eine gewisse Differenz zwischen diesen und der Parteiführung herausgebildet.

Ich habe entgegen dringenden Vorstellungen auch nicht eine niederländisch-nationalsozialistische Regierung eingesetzt, wie dies [700] in Norwegen der Fall war, hauptsächlich deshalb, weil einige niederländische Herren, wie der Generalsekretär van Damm, der Präsident des Obersten Gerichtshofs van Lohn, der Präsident des Kulturrates Professor Schneider mir in eindringlichen Worten das Unrichtige einer solchen Maßnahme vor Augen gehalten haben.


DR. STEINBAUER: Herr Zeuge! Präsident Vorrinck, der hier vernommen wurde, hat von einer Ausbeutungspolitik gesprochen, Sie betrieben hätten. Ist das richtig?


SEYSS-INQUART: Eine Abnützung der nationalsozialistischen Parteien zugunsten der deutschen Politik ist tatsächlich eingetreten, von mir beobachtet worden und von mir auch öffentlich festgestellt worden. Ich habe das bedauert, aber nicht verhindern können. Die deutsche Besatzungsmacht hat eine Reihe von Maßnahmen einsetzen müssen, die für die Niederländer drückend waren und daher unsere niederländischen Freunde diskreditiert haben.


DR. STEINBAUER: Was sagen Sie zu dem Vorwurf, den man Ihnen macht, alle Kulturinstitutionen gleichgeschaltet zu haben?


SEYSS-INQUART: Dieser Vorwurf ist formal zum Teil sicher richtig. Mit dem Verbot der politischen Parteien sind auch die meisten Organisationen der freien Berufe unmöglich geworden, weil in den Niederlanden bis zum Schachverein herunter alles politisch geteilt war. Im Interesse der Besatzungsmacht mußte ich neue Aufsichtsorgane schaffen. Vielleicht ist es ein Mangel der Phantasie gewesen, daß diese Neuschaffungen den Vorbildern im Reich zum Teil sehr ähnlich waren. Ich habe diese Organisationen aber nur zur Aufsicht verwendet. Ich habe niemals eine politische Mitarbeit verlangt. Ich habe nicht nur nicht die Berufsausübung davon abhängig gemacht, sondern nicht einmal die Mitgliedsbeiträge zwangsweise einheben lassen. Ich gebe zu, daß wir zwei Fehler gemacht haben aus zwei Irrtümern. Wir waren in dem Irrtum befangen, daß unsere Ordnung der Besat zungsmacht die richtige oder zumindest bessere ist, und zweitens, daß sich in einem besetzten Gebiet ein eigenständiger politischer Wille entwickeln kann. Daran sind wir in dieser Politik gescheitert.


DR. STEINBAUER: Welche Institutionen haben Sie daher eingerichtet?


SEYSS-INQUART: Ich habe eine Kulturkammer gemacht, eine Ärztekammer, Apothekerkammer, einen Landstand, auch eine Arbeitsfront, aber das war eine freiwillige Organisation. Die Mitglieder konnten ohne jeden Nachteil austreten, wenn sie wollten.


DR. STEINBAUER: Ein weiterer Vorwurf, der Ihnen gemacht wird, ist der Vorwurf der Germanisierung. Was sagen Sie dazu?


SEYSS-INQUART: Da muß ich zuerst etwas deutlich machen. Im Englischen wird man hier »Germany« sagen, und im Russischen [701] »Germanski«. Beides heißt »deutsch«. Wenn wir von Germanisierung gesprochen haben, haben wir nicht an »Verdeutschung« gedacht, sondern an eine politische und kulturelle Zusammenfassung der sogenannten »Germanischen Völker« unter gegenseitiger Gleichberechtigung. Daß wir aber so eingegriffen haben, habe ich auch in einer Rede erklärt. Es ist das Dokument 103.

»Warum greifen denn die Deutschen in den Niederlanden in alles ein?«

Ich habe dann ausgeführt, daß in diesem totalsten Krieg es Spannungsaugenblicke gibt...

VORSITZENDER: Welche Seite ist das?

DR. STEINBAUER: Es ist immer noch US-708, das nicht übersetzt ist. Aber vorgelegt ist das ganze Buch.


VORSITZENDER: Hat es eine PS-Nummer?


DR. STEINBAUER: Es ist 3430-PS, vorgelegt unter US-708. Das ist ein Buch, das heißt: »Vier Jahre in den Niederlanden«, wo die Reden des Zeugen gesammelt sind und von denen einzelne in der Anklageschrift vorgelegt wurden und auf die jetzt der Zeuge erwidert.


VORSITZENDER: Danke schön.


SEYSS-INQUART: Es gibt Spannungsaugenblicke, in denen es überhaupt keine Abgrenzung mehr gibt zwischen dem, was kriegswichtig und militärisch und dem, was privat und zivil ist.

Es war mir vollkommen klar, daß jede öffentliche Betätigungsmöglichkeit für oder gegen die Besatzungsmacht ausgewertet werden kann und daß ich sie daher unter Kontrolle nehmen muß.


DR. STEINBAUER: Hat es auch Versuche der NSDAP aus dem Reich gegeben, Ihre Verwaltung in dem Sinne der Partei zu beeinflussen?

SEYSS-INQUART: Die Auslandsorganisation in den Niederlanden wurde zu einem Arbeitsbereich umgeändert, und dieser Arbeitsbereich hat die Politik der nationalsozialistischen niederländischen Partei in jeder Beziehung unterstützt. Einen besonderen, eigenen Einfluß hat sie also nicht gehabt.


DR. STEINBAUER: Das ist das Wesentliche. Wir gehen jetzt zur Verwaltung selbst über. Welche Kompetenzen gab es denn in den Niederlanden?


SEYSS-INQUART: Im zivilen Bereich war der Reichskommissar; gleichgeordnet die Wehrmacht mit dem Wehrmachtbefehlshaber; einen selbständigen Bereich hat die Polizei gehabt. Der Wehrmachtbefehlshaber hat ein eigenes Eingriffsrecht gehabt, und vom Juli 1944 an ist ein Teil der vollziehenden Gewalt auf ihn übergegangen.

[702] Die Polizei ist mir nur zur Verfügung gestanden unter dem Höheren SS- und Polizeiführer. Dieser ist vom Führer über Vorschlag Himmlers ernannt worden. Ich bin vorher nicht gefragt worden. Und die Polizei hat sich ein eigenes Prüfungsrecht vorbehalten, das heißt, wenn ich ihr einen Auftrag gegeben habe, hat sie geprüft, ob der Auftrag mit ihren Weisungen, die Himmler direkt an den Höheren SS- und Polizeiführer gegeben hat, übereinstimmt.

Dann war noch die Funktion des Vierjahresplanes in der weiteren Ausführung des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und des Rüstungsministers.


DR. STEINBAUER: Ja, dann kommt als Reichsorganisation wohl auch noch der Einsatzstab Rosenberg in Frage und Speer, damit wir das Bild abrunden?


SEYSS-INQUART: Das war der Rüstungsminister Speer. Es gab noch einzelne kleinere Sonderaufträge.


DR. STEINBAUER: Waren Sie also nur eine Art Durchführungsorgan übergeordneter Reichsstellen?


SEYSS-INQUART: Nein. Ich bin kein normaler Beamter gewesen, sondern der Verantwortungsträger des Reiches im zivilen Bereich. Vielleicht, daß in den ersten Monaten die Berliner Dienststellen noch über mich hinweggearbeitet haben. Ich habe dann die Verwaltung so bei mir konzentriert, daß im zivilen Bereich nichts geschehen ist, wozu ich nicht meine Zustimmung gegeben hatte. Der Führer hat das ausdrücklich einmal anerkannt, und ich bemerke, daß ein Rückschluß auf andere besetzte Gebiete nicht gezogen werden darf. Ich bin überzeugt, daß in den Ostgebieten und dem Generalgouvernement diese Zusammenfassung nicht so war.


DR. STEINBAUER: Welche Möglichkeiten hatten denn Sie, die Verwaltung einzurichten?

SEYSS-INQUART: Die Initiative und das Ausmaß der Ansprüche des Reiches ging natürlich von den zuständigen Reichs-Zentralstellen aus. Ich habe diese Forderungen mit meinen Mitarbeitern geprüft, auch unter Heranziehung der niederländischen Dienststellen. Wir haben einen Gegenvorschlag gemacht, der uns für die Niederländer zumutbar schien. Wenn das Reich dennoch mehr verlangt hat, so waren wir bemüht, die Grenze des Zumutbaren nicht zu übersteigen. Bis zum Jahre 1943 wurden alle Anforderungen durch die niederländischen Behörden selbst vollzogen. Ich habe meinen Dienststellen kein Anforderungsrecht gegeben, sondern erst nach dieser Zeit, da dann die Anforderungen so groß wurden, daß ich das den niederländischen Behörden nicht mehr zumuten wollte.


DR. STEINBAUER: Ich komme nun wiederum zur Polizei zurück, die, wie Sie schon erwähnt haben, direkt Himmler unterstand...


[703] SEYSS-INQUART: Sie fragten, welche Möglichkeiten ich hatte?


DR. STEINBAUER: Ja.


SEYSS-INQUART: Ich hatte zwei Möglichkeiten: Die Königin der Niederlande und die Regierung ist nach England gegangen. Ich hätte eine neue Niederländische Regierung ernennen können, so wie in Norwegen, oder ich mußte die Verwaltung des Landes selber führen. Ich habe mich zu dem letzteren entschlossen.


DR. STEINBAUER: Wie haben Sie die vorhandene Niederländische Polizei organisiert?


SEYSS-INQUART: Während die Deutsche Polizei von mir selbständig war, unterstand mir die Niederländische Polizei. Es war aber selbstverständlich, daß ich die Aufsicht über die Niederländische Polizei auch dem Höheren SS- und Polizeiführer übertragen habe, und zwar als meinem Generalkommissar für das Sicherheitswesen. Die Niederländische Polizei war in drei oder vier Kompetenzen aufgeteilt; ich glaube, es kann mit dem Interesse der Besatzungsmacht verantwortet werden, daß wir sie organisatorisch zusammengefaßt haben.


DR. STEINBAUER: Was war denn die »Landwacht«?


SEYSS-INQUART: Die »Landwacht« war eine Selbstschutzformation der niederländischen Nationalsozialisten. Es sind im Jahre 1943 schwere Terrorfälle gegen Nationalsozialisten vorgekommen, sehr grausame Tötungen. Es war die Gefahr des Gegenterrors, wie wir ihn von Dänemark gehört haben. Es sind auch einige Fälle vorgekommen. Ich habe daraufhin die »Landwacht« organisieren lassen, die den Auftrag hatte, als eine unter Disziplin stehende Hilfspolizei den Straßenverkehr in der Nacht zu kontrollieren, Eisenbahnen zu bewachen und so weiter. Die Folge war, daß tatsächlich diese Terrorakte fast völlig aufgehört haben und daß weitere Schwierigkeiten bis Mitte 1944 nicht entstanden sind.


DR. STEINBAUER: Herr Zeuge! Wir kommen jetzt zu einem außerordentlich wichtigen Kapitel.


SEYSS-INQUART: Darf ich auf das Dokument Nummer 101 verweisen? Dieses Dokument ist mir in der Anklage vorgeworfen worden.


VORSITZENDER: Ist 101 die richtige Bezeichnung?


DR. STEINBAUER: Herr Präsident! Die Reden, die der Angeklagte zitiert, habe ich zur Vervielfältigung gegeben, weil sie eigentlich schon dem Gericht vorliegen; aber die Übersetzung ist nicht nachgekommen, weil man die ganzen Affidavits auch mit übersetzen wollte. Es liegt daher nicht vor, ich hoffe aber, daß ich sie morgen früh schon habe.


[704] VORSITZENDER: Hat es nicht eine PS-Nummer oder eine andere Bezeichnung erhalten?


DR. STEINBAUER: Es ist immer ein Buch, US-708. Die Anklage hat immer nur einzelne Sätze herausgenommen.


VORSITZENDER: Ich verstehe.


SEYSS-INQUART: Die Anklage hat Seite 167 zitiert. Ich habe am 1. August 1943 eine Rede gehalten, in der ich besondere Maßnahmen ankündigte, die Schwierigkeiten und Beschränkungen für die Niederländer bringen würden; und die Anklage glaubt, daß die späteren Erschießungen damit zusammenhängen. Das ist ein Irrtum. Die Beschränkung, von der ich da gesprochen habe, war lediglich das Verbot, daß sich Niederländer außerhalb ihrer Provinz aufhalten dürfen, damit nicht Terrorbanden aus dem Nordwesten nach dem Osten kommen. Da das gerade zur Urlaubszeit war, war das für die Niederländer eine Beschränkung.


DR. STEINBAUER: Ich gehe jetzt zur nächsten Frage über. Haben Sie die bestehende Organisation der Gerichte abgeändert und gar mißbraucht?


SEYSS-INQUART: Ich habe die niederländische Gerichtsorganisation voll übernommen. Die niederländische Rechtsprechung hatte einen anerkennenswert hohen Stand. Ich habe nur in zwei Fällen Ergänzungen vorgenommen. Die niederländischen Richter zeigten kein Verständnis für die wirtschaftliche Situation. Zum Beispiel wurde einmal eine Schwarzschlächterbande, die viele Stücke Rindvieh geschlachtet und in Schleichhandel gebracht hat, mit 200 Gulden Geldstrafe belegt. Ich habe da eigene Wirtschaftsrichter eingeführt, Niederländer, die mehr Verständnis für diese wirtschaftlichen Notwendigkeiten hatten. Der Rechtszug blieb aber, wie er war. Wir haben natürlich unsere deutschen Gerichte eingeführt, wie das jede Besatzungsmacht macht.


DR. STEINBAUER: Wir haben also die niederländischen Gerichte gehabt; die deutschen Gerichte für Deutsche, die sich in den Niederlanden aufgehalten haben, und die Polizeigerichte.


SEYSS-INQUART: Ja, aber auch für die Niederländer, die sich gegen die deutsche Besatzungsmacht vergangen haben.


DR. STEINBAUER: Nun wird im Verfahren behauptet, daß durch die Gerichte 4000 Hinrichtungen erfolgt seien, die zu verantworten sind.


SEYSS-INQUART: Das ist vollkommen unrichtig. Wenn ich alles zusammenrechne, was durch die deutschen Gerichte, Polizeigerichte und Militärgerichte an Todesurteilen ausgesprochen und vollstreckt wurde, und wenn ich dazu noch die Fälle nehme, wo bei einem Zusammenstoß mit der Exekutive Niederländer ums Leben [705] gekommen sind, so ergibt dies nach einer Aufstellung des Höheren SS- und Polizeiführers bis Mitte 1944 noch nicht 800 Fälle in vier Jahren, also weniger als ein Bombenangriff auf die Stadt Nijmegen gekostet hat. Die Erschießungen kamen nachher.


DR. STEINBAUER: Sie haben auch das Begnadigungsrecht ausgeübt und eine eigene Gnadenabteilung gehabt?


SEYSS-INQUART: Ja.


DR. STEINBAUER: Ich möchte in diesem Zusammenhange als Urkunde aus dem Dokumentenbuch die Urkunde Nummer 75, Seite 190, vorlegen. Es ist dies eine eidesstattliche Erklärung des Kammergerichtsrates Rudolf Fritsch, der der Gnadenreferent des Reichskommissars war. Ich möchte aus dieser Urkunde zwei Absätze vorlesen von Seite 3, zweiter Absatz.

»Bei der Ausübung des Gnadenrechts ging der Reichskommissar davon aus, daß dieses eines der vornehmsten Rechte eines Staatsoberhauptes sei und in besonderem Maße dazu geeignet war, gute vertrauliche Beziehungen zwischen den Deutschen und den Niederländern zu schaffen. Im Anfang hat er deshalb in allen Fällen auf Grund ihm vorgelegter Sachberichte mit einem Gnadenvorschlag der Gnadenabteilung selbst entschieden. Nach etwa zwei bis drei Monaten delegierte er intern die Ausübung des Gnadenrechts auf den Leiter der Gna denabteilung mit folgenden Ausnahmen:

1. Niederschlagung von Verfahren,

2. Entscheidung bei Todesurteilen,

3. Entscheidung grundsätzlicher Fragen,

4. Entscheidung von Einzelfällen....

Es ist kein Todesurteil vollstreckt worden, bei dem nicht auch ohne das Vorliegen eines Gnadengesuches die Gnadenfrage von Amts wegen geprüft worden wäre.«

Dann von Seite 5, letzter Absatz:

»Da die Zusammenarbeit mit den niederländischen Justizbehörden ergeben hatte, daß man ihnen Vertrauen entgegenbringen konnte, hat der Reichskommissar nach und nach das Gnadenrecht im wesentlichen auf den niederländischen Justizminister delegiert.

Aus dem großen Posteingang... ersah ich wiederholt, daß von der Gestapo Polizeiaktionen veranstaltet worden waren, durch die die ordentliche Gerichtsbarkeit ausgeschaltet wurde... Ich habe in solchen Fällen Material gesammelt und dieses zu Vorstößen benutzt, um die davon Betroffenen den ordentlichen Gerichten zur Aburteilung zu überstellen. Mit solchen Vorstößen habe ich auch Erfolg gehabt. Dies war für [706] mich der Beweis, daß der Reichskommissar ein Gegner wilder polizeilicher Methoden der Gestapo war und ein Anhänger des ordentlichen Justizwesens.«

Ich glaube, wir können das Kapitel Justiz abschließen und jetzt zu den Finanzfragen übergehen.

SEYSS-INQUART: Es ist noch sehr wichtig der Befehl des Führers, der die Gerichte ausschaltete.

DR. STEINBAUER: Bitte, wenn Sie noch etwas sagen wollen.


SEYSS-INQUART: Ja, es ist sehr entscheidend. Nach dem Amsterdamer Streik habe ich eine Standgerichtsbarkeit vorgesehen. Das ist keine Erfindung neuerer Zeit, das ist das summarische Gerichtsverfahren in Ausnahmezuständen, wie es sich in der Gerichtsordnung jeden Landes findet. Die Standgerichte hatten auch besondere Kautelen. Erstens war ein ordentlicher Richter im Standgericht, zweitens war ein Verteidiger zugelassen, und zwar auch Niederländer, und drittens mußte ein Beweisverfahren durchgeführt werden; und wenn die Schuldfrage nicht schlüssig war, mußte der Fall den ordentlichen Gerichten überwiesen werden. Dieses Standgerichtsverfahren ist nur 14 Tage in Kraft gewesen, anläßlich des Generalstreiks im Mai 1943. Die zahlreichen Erschießungen nachher gehen nicht auf diese Standgerichte zurück. Die Standgerichte waren vorgesehen auch für den Fall des Ausnahmezustandes, wenn die Niederlande wieder Kriegsgebiet würden. Inzwischen ist aber ein Führerbefehl gekommen, der bereits bekanntgegeben ist durch einen Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht, und zwar ist das 835-PS. Der Führer hat am 30. Juli 1944 verfügt, daß alle nichtdeutschen Zivilpersonen der besetzten Gebiete, die sich einer Terror-oder Sabotageaktion schuldig gemacht haben, der Sicherheitspolizei zu übergeben sind. Gegen diesen Befehl hatten der Höhere SS-Führer und ich Einspruch erhoben, weil wir dessen schädliche Auswirkung speziell in den Niederlanden klar erkannt haben. Durch einen solchen Befehl würden die Niederländer nur in die illegalen Organisationen hineingedrängt. Der Höhere SS- und Polizeiführer hat vier bis sechs Wochen den Befehl nicht ausgeführt. Er hat dann eine scharfe Rüge von Himmler bekommen, und von da ab mußte er die wegen Sabotage oder illegaler Betätigung verhafteten Niederländer selbst in eigenem Wirkungskreis beurteilen und allenfalls erschießen. Darauf sind die größeren Erschießungen zurückzuführen; ich glaube aber nicht, daß es 4000 waren. So oft ich konnte, habe ich der Sicherheitspolizei nahegelegt, bei Durchführung dieses Befehls sehr genau zu sein. Ich habe auch keine Verständigung über die einzelnen Fälle bekommen. Ich stand unter dem Eindruck, es wären etwa 600 bis 700 gewesen.


DR. STEINBAUER: Wenn ich Sie also richtig verstanden habe, was das eine Polizeiangelegenheit, die direkt...


[707] SEYSS-INQUART: Sie war jedenfalls gar nicht mehr in meiner Kompetenz und meinem Einfluß. Allerdings, wenn ich damals die Sicherheitspolizei beauftragt habe, in irgendeinem Ort einer illegalen Bewegung nachzusehen, dann mußte ich mir sagen, daß ein oder der andere Niederländer, der führend in der Bewegung festgestellt wurde, durch die Polizei erschossen werden wird, ohne daß die Gerichte und ich es überprüfen können. Aber ich konnte ja nicht darauf verzichten, die Sicherheit der Besatzungsbehörde zu wahren, weil der Führerbefehl gegeben war.


DR. STEINBAUER: Ich gehe jetzt zu dem Kapitel Finanzfragen über. Es ist eine Urkunde vorgelegt worden, wo ein Herr Trip seinen Rücktritt anmeldet. Wer war dieser Herr?


SEYSS-INQUART: Herr Trip war Präsident der Niederländischen Bank, also der Notenbank, und Generalsekretär für Finanzen. Ich glaube, wenn man die ersten Notenbankfachleute der Welt nennt, wird man Herrn Trip nennen müssen. Er ist eine ausgesprochene Persönlichkeit und gehört zu den Männern, die heute als niederländische Patrioten bezeichnet werden.


DR. STEINBAUER: Dann war er auch Generalsekretär für Finanzen?


SEYSS-INQUART: Er war bis März 1941 Generalsekretär der Finanzen. Ich habe in meiner ersten Ansprache an die Generalsekretäre erklärt, ich verlange von keinem Generalsekretär, daß er etwas tut, was gegen sein Gewissen ist; wenn er glaubt, etwas nicht machen zu können, so könne er seinen Abschied ohne jeden Nachteil nehmen. Ich verlange nur, daß er meine Befehle loyal durchführt, solange er im Amt ist. Herr Trip ist bis März 1941 im Amt geblieben. Er ist dann zurückgetreten, weil er etwas nicht mehr durchführen wollte. Er hat nicht den geringsten Nachteil erfahren.


DR. STEINBAUER: Wer war sein Nachfolger?


SEYSS-INQUART: Ich möchte sagen, was Herr Trip bis zum März 1941 durchgeführt hat, ist nach meiner Anschauung in jeder Beziehung zu rechtfertigen, denn sonst hätte er es bestimmt nicht getan. Sein Nachfolger war Herr Rost van Tonningen. Rost van Tonningen war Völkerbundskommissar in Österreich, mit einem ähnlichen Aufgabenbereich, wie er ihn dann von mir in den Niederlanden bekommen hat.


DR. STEINBAUER: Wie verhält es sich nun mit den Besatzungskosten?


SEYSS-INQUART: Für die zivile Verwaltung habe ich mit Herrn Trip vereinbart, daß ich monatlich 3 Millionen Gulden bekomme; hinzu kamen dann noch etwa 20 Millionen Sühnegelder. In den ersten drei Jahren habe ich 60 Millionen Gulden erspart, die als eine eigene [708] Stiftung in den Niederlanden geblieben sind. Bezüglich der militärischen Besatzungskosten hatte ich kein Prüfungsrecht. Sie wurden von der Wehrmacht beim Finanzminister angefordert, und ich bekam den Auftrag, sie zur Verfügung zu stellen. Im Laufe des Jahres 1941 hat das Reich auch mittelbare Besatzungskosten verlangt. Es ist auf dem Standpunkt gestanden, daß nicht nur die Kosten, die unmittelbar in den Niederlanden erwachsen, bezahlt werden müssen, sondern auch die Vorbereitungskosten im Reich. Es verlangte 50 Millionen Mark im Monat, zum Teil in Gold. Diese Zahlung hat später den Titel einer freiwilligen Osthilfe bekommen...


VORSITZENDER: Meinen Sie Mark oder Gulden?


SEYSS-INQUART: Mark, 50 Millionen Mark. Diese Zahlung hat später den Titel einer freiwilligen Osthilfe bekommen aus politischen Gründen; aber das war natürlich nicht der Fall. Das Reich verlangte später die Erhöhung auf 100 Millionen. Das habe ich aber abgelehnt.


DR. STEINBAUER: Der Herr Trip ist zurückgetreten als Generalsekretär der Finanzen, weil die damals noch bestehende Devisensperre zwischen Deutschland und den Niederlanden aufgehoben wurde?

SEYSS-INQUART: Das ist richtig. Ich habe aus meiner Verwaltung den Antrag bekommen, zur Intensivierung des Wirtschaftsverkehrs zwischen den Niederlanden und dem Reich die Devisengrenze insofern aufzuheben, als man nun ohne Einschaltung der Notenbanken Gulden in Mark und umgekehrt austauschen konnte. Die grundsätzliche Austauschmöglichkeit ist schon unter Herrn Trip festgelegt gewesen, aber sie unterstand der Kontrolle der Notenbank, also auch der Niederländischen Bank. Herr Trip hat Widerspruch erhoben; ich habe die Sache nach Berlin weitergegeben; Berlin hat entschieden, daß es durchgeführt wird. Herr Trip ist zurückgetreten. Ich habe Herrn Rost van Tonningen zum Präsidenten der Niederländischen Bank gemacht und habe die Verordnung herausgegeben. Ich bemerke, daß der Präsident der Reichsbank, Herr Funk, gegen diese Regelung war. Zur Erklärung kann ich anführen, daß damals die Auswirkungen nicht so katastrophal anzunehmen waren, wie sie später geworden sind. Die Niederlande waren damals vollkommen abgeschnitten, das Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Es war zu erwarten, daß die Mark die führende Währung in Europa wird. Und man hätte damit dem Gulden einen gleichen Rang verschafft. Im Februar 1941 zum Beispiel war die Einfuhr aus dem Reich in die Niederlande größer als die Ausfuhr aus den Niederlanden in das Reich. Der Reichsminister Funk hat immer den Standpunkt vertreten, daß dies echte Schulden sind, so daß die etwa 41/2 Milliarden echte Schulden bei einem anderen Ausgang des Krieges an die Niederlande hätten zurückgezahlt werden müssen.


[709] DR. STEINBAUER: Wenn ich Sie also richtig verstanden habe, war Ihr Generalsekretär für Finanzen Dr. Fischböck, der diese Angelegenheit im Gegensatz zu Trip angeregt hat?


SEYSS-INQUART: Ich weiß nicht, ob die Anregung nur von Fischböck gekommen ist; ich nehme an, daß er das auch mit anderen Herren besprochen hat, er hat sie mir vorgetragen.


DR. STEINBAUER: Es wird Ihnen weiter vorgeworfen, daß Sie völkerrechtswidrig Kollektivstrafen durch Geldbußen eingeholt haben?


SEYSS-INQUART: Kollektivstrafen sind ja nach dem Völkerrecht nur verboten für Einzelvergehen. Die große Kollektivstrafe von 18 Millionen Gulden wurde im Zusammenhang mit dem Generalstreik in Amsterdam, Arnheim und Hilversum verhängt, an dem sich die gesamte Bevölkerung beteiligt hat. Später habe ich verhängte Kollektivstrafen zurückzahlen lassen, wenn Einzeltäter als verantwortlich festgestellt wurden.

DR. STEINBAUER: Können Sie uns irgendein praktisches Beispiel dazu sagen?


SEYSS-INQUART: Ich glaube, daß der Zeuge Schwebel das sagen kann. Es waren Städte in Südholland, wo das geschehen ist.


DR. STEINBAUER: Die Anklage wirft Ihnen weiter vor, daß Sie für die Vorgänge im Geisellager Michelgestell verantwortlich sind. Was sagen Sie dazu?


SEYSS-INQUART: Die Vorgänge im Geisellager Michelgestell kann ich voll und ganz verantworten. Das war kein Geisellager im technischen Sinn, sondern ich habe Niederländer, die nachgewiesenermaßen in Widerstandsbewegungen tätig waren, in eine Sicherungshaft genommen. Das Lager Michelgestell war kein Gefängnis. Ich habe es besucht. Die Lagerinsassen haben Golf gespielt, sie haben Urlaub bekommen in dringenden Familienangelegenheiten oder Berufsangelegenheiten. Es ist nicht einer erschossen worden. Ich glaube, daß die Mehrzahl der heutigen niederländischen Minister in Michelgestell waren. Es war eine Art Schutzhaft, um sie vorübergehend aus ihrer antideutschen Betätigung auszuschalten.


DR. STEINBAUER: Sie sollen weiterhin, Herr Zeuge, die Verlesung der Hirtenbriefe verboten haben und Priester katholischer und lutherischer Konfession in Konzentrationslager gebracht haben?


SEYSS-INQUART: Es ist richtig, daß ich einen Hirtenbrief verboten habe. Das kommt in Besatzungszeiten vor, weil er offenkundig gegen die Maßnahmen der Besatzungsmacht Stellung genommen und zum Ungehorsam aufgefordert hat. Das war ein einziger Fall. Von da an kam das nicht mehr vor, weil auch keine solchen Aufforderungen mehr in den Hirtenbriefen waren. Ich habe [710] sogar eingegriffen und die von der Polizei verfügte Sistierung wieder zugelassen, wenn die Maßnahmen der Besatzungsmacht nur kritisiert, aber nicht zum Widerstand aufgefordert wurde. Ich habe Priester überhaupt nicht ins Konzentrationslager gebracht, sondern im Gegenteil. Anfang 1943 habe ich nach wiederholtem Drängen von der Sicherheitspolizei eine Liste bekommen mit den in den Konzentrationslagern eingesperrten Priestern. Es waren im ganzen 45 oder 50. Bei drei oder vier war der Vermerk, daß sie im Konzentrationslager gestorben sind. Ich habe etwa ein Drittel auf Grund des Tatbestandes ausgesucht und dessen Freilassung verlangt. Bei einem weiteren Drittel habe ich Überprüfung in den nächsten sechs Monaten verlangt. Und beim letzten Drittel konnte ich einen Antrag nicht stellen, ohne gegen meine Verantwortung gegen das Reich zu verstoßen. Es hat auch niederländische Repressionsgeiseln gegeben. Als die Niederlande in den Krieg einbezogen wurden, wurden die Deutschen in Niederländisch-Indien in Gefängnisse gebracht und, wie es geheißen hat, schlecht behandelt. Das Reich verlangte die Verhaftung von 3000 Niederländern. Die Sicherheitspolizei hat 800 Verhaftete nach Buchenwald gebracht. Als ich die Nachricht bekam, daß die Sterblichkeit eine hohe sei, habe ich so lange gedrängt, bis mir die Geiseln wieder zurückgegeben wurden. Sie sind dann in einer Weise untergebracht worden, daß man von einem Gefängnis überhaupt nicht mehr sprechen konnte. Sie haben Urlaub bekommen, und wo es nötig war, habe ich sie freigelassen. Zuletzt hatte ich weniger als 100.


DR. STEINBAUER: Herr Zeuge! Sie sollen Gebete in der Kirche insbesondere für die Königin verboten haben?


SEYSS-INQUART: Das ist unrichtig. Die Gebete in niederländischen Kirchen waren offenkundige Demonstrationen. Es wurde – was verständlich ist – für die Königin der Niederlande gebetet, Glück und Segen und die Erfüllung ihrer Wünsche. Es wurde gleichzeitig auch für den Reichskommissar gebetet, damit er erleuchtet werde. Man hat mir sehr schwere Vorhalte gemacht, daß ich die Demonstrationen dulde. Ich habe an der Tatsache dieser Gebete nichts gefunden und sie nicht verboten. Vielleicht ist in dem einen oder anderen Falle eine untergeordnete Behörde vorgeschossen, die wurde dann aber immer wieder zurückgehalten.


DR. STEINBAUER: Nun, das wäre nicht bös gewesen. Aber man sagt, daß Sie besonders grausam waren, daß Sie ohne Gerichtsverfahren eine Menge Leute erschießen haben lassen. Was sagen Sie dazu?


SEYSS-INQUART: Soweit ich mich erinnere, sind echte Geiselfälle nur einmal vorgekommen, das heißt es sind Personen ohne irgendeinen ursächlichen Zusammenhang mit einer Straftat erschossen worden, und zwar im August 1942. Der Fall ist ja hier bereits[711] vorgebracht worden. Die Durchführung dieses Falles erfolgte genau nach dem sogenannten Geiselgesetz, das hier vorgetragen wurde. Es handelte sich um einen Anschlag auf einen Wehrmachtstransport. Es wurden 50 oder 25 Geiseln verlangt zur Erschießung, und zwar, wie ich glaube, seitens des Oberkommandos des Heeres über den Wehrmachtbefehlshaber vom Höheren SS- und Polizeiführer. Meine Intervention bestand darin, daß ich die Zahl auf fünf heruntergedrückt habe und daß ich mir die von den anderen Dienststellen vorgelegte Liste angeschaut habe. Die Liste ist hier verlesen worden. Mir ist diese Liste auch aufgefallen. Der Höhere SS- und Polizeiführer hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß diese Liste genau nach den Vorschriften zusammengesetzt wurde. Der Anschlag gehe auf die rechtsgerichteten Widerstandskreise zurück, nicht auf die linksgerichteten, man könne daher keine Arbeiter erschießen. Ich habe nur insoweit Einfluß genommen, als ich den Höheren SS- und Polizeiführer veranlaßt habe, Familienväter mit mehreren Kindern aus der Liste herauszustreichen.


DR. STEINBAUER: Herr Zeuge! Was wissen Sie nun im einzelnen über die Erschießungen bei Räumung des Lagers Vught?


SEYSS-INQUART: Als der Vorstoß der Engländer und Kanadier über Belgien nach den Süd-Niederlanden erfolgte, hatte ich derart viel zu tun, um in meinem Bereich die Ordnung aufrechtzuerhalten, daß ich mich um das unter der Führung der Polizei stehende Lager Vught im besonderen nicht kümmern konnte. Der Höhere SS- und Polizeiführer hat mir im allgemeinen mitgeteilt, er werde die politisch Schwerstbelasteten, etwa 200, ins Reich abschieben, die politisch Minderbelasteten freilassen und die gewöhnlichen Verbrecher unter Kommando eines niederländischen Polizeioffiziers den Kanadiern übergeben. Ich habe erst hier gehört, daß Erschießungen vorgekommen sind. Ich kann mir das nur so erklären, daß das Reich im letzten Augenblick den Abtransport ins Reich verboten hat und den Auftrag zur Erschießung gegeben hat. Ich glaube nicht, daß es 600 sind; nach der Aussage des Zeugen Kollpuss scheinen es etwa 130 bis 150 gewesen zu sein, aber auch das ist genug.


DR. STEINBAUER: Was wissen Sie über die Geiselerschießungen nach dem Anschlag auf den SS- und Polizeiführer Rauter?


SEYSS-INQUART: Der Anschlag auf den Höheren SS- und Polizeiführer ist von der Widerstandsbewegung ausgegangen und wurde ausgeführt mit englischen Waffen.


DR. STEINBAUER: Was ist Ihnen über den Fall Putten bekannt?


SEYSS-INQUART: Bitte, ich bin da noch nicht ganz fertig.


DR. STEINBAUER: Ach Sie wollen das noch genau...


SEYSS-INQUART: Himmler hat damals die Erschießungen von 500 Geiseln verlangt. Der Stellvertreter Rauters, Dr. Schöngarth, hat [712] das abgelehnt und teilte mir mit, daß in den Gefängnissen eine Anzahl von Niederländern wären, die nach dem Führerbefehl zu erschießen seien, weil sie eben andere Sabotagehandlungen verübt hätten. Er habe gezögert, weil die Zahl etwas größer wäre. Er könne jetzt aber nicht mehr zögern. Die Zahl selbst hat er mir nicht genannt. Ich konnte in dieser Situation nach meinem Dafürhalten ihn nicht an der Durchführung des Befehls hindern, denn wir mußten mit allen Mitteln die Widerstandsbewegung niederhalten, die ja von der Niederländischen Regierung von London her organisiert und bewaffnet worden war und eine schwere Gefahr für die deutsche Besatzungsmacht bildete. Es sollen 230 Niederländer erschossen worden sein, darunter 80 allein in Apeldoorn. Mir erschien das sehr viel. Aber Dr. Schöngarth sagte mir, daß nördlich Apeldoorn ein Zentrum der illegalen Bewegung sei.


DR. STEINBAUER: Zum Abschluß möchte ich Sie noch fragen: Was wissen Sie über den Fall Putten?


SEYSS-INQUART: In Putten hat sich ein Überfall auf deutsche Offiziere ereignet. Drei wurden ermordet. Der ganze Fall spielte sich im Bereich der Wehrmacht, der SS und Polizei ab. Ich wußte, daß Repressionsmaßnahmen geplant sind. Ich selbst war damals mit dem Stellungsbau beschäftigt. Der Höhere SS-und Polizeiführer hat mir mitgeteilt, er hätte Befehl bekommen, den Ort Putten niederzubrennen und die männliche Bevölkerung in ein Reichskonzentrationslager abzuführen. Er habe den Befehl auf 40 Prozent herabgemindert. Später teilte er mir mit, daß die Sterblichkeit im deutschen Konzentrationslager groß sei. Ich habe mich mit ihm an den Wehrmachtbefehlshaber gewandt wegen Rückführung der Männer. Der Wehrmachtbefehlshaber hat zugestimmt. Ob dieser Befehl noch durchgeführt werden konnte, weiß ich nicht.


DR. STEINBAUER: Herr Präsident! Vielleicht könnte man jetzt eine kleine Pause machen?


VORSITZENDER: Ja.


[Pause von 10 Minuten.]


DR. STEINBAUER: Hoher Gerichtshof! Ich möchte noch einmal auf die Frage der Devisensperre zurückkommen. Mir hat jetzt in der Pause der Angeklagte, Reichsmarschall Göring, mitgeteilt, daß in diesem Streit Fischböck-Trip-Wohltath einerseits, dann Funk, der dagegen war, Göring als Leiter des Vierjahresplanes die Entscheidung getroffen hat, daß die Devisensperre aufzuheben ist, und er schreibt mir hier »und ich trage auch die Verantwortung«. Es ist also eine Entscheidung, die dann Göring getroffen hat.

VORSITZENDER: Herr Dr. Steinbauer! Es ist natürlich nicht der ordnungsgemäße Weg, den Gerichtshof davon in Kenntnis zu setzen, was Ihnen einer der Angeklagten in der Pause gesagt haben mag.


[713] DR. STEINBAUER: Nein, er hat mir das geschrieben.


VORSITZENDER: Das macht die Sache leider nicht besser. Sie können den Zeugen darüber befragen.


DR. STEINBAUER: Zur Frage der Erschießungen ohne Gerichtsurteil möchte ich mir erlauben, auf eine sehr wichtige Urkunde zu verweisen. Das ist Nummer 77, Seite 199. Es ist dies F-224, Bericht des Kriminalkommissars Mund. Er sagt folgendes auf Seite 3:

»Nach meiner Ansicht ist es sehr wahrscheinlich, daß General Christiansen die Höchstzahl der hinzurichtenden Opfer gefordert hat. Christiansen sprach zu Rauter, ein impulsiver und taktloser Mann, von zahlreichen Vergeltungsmaßnahmen, und dieser seinerseits übte einen Druck auf die B.d.S. (Dr. Schöngarth) aus;...«

Er berichtet weiter auf Seite 5:

»Es handelte sich hier oft um Gefangene, die von dem Höheren SS- und Polizeiführer schon zum Tode verurteilt waren.

Für die Vergeltungsmaßnahmen auf strafbare Taten war die Polizei zuständig. Nach dem Monat August 1944 und gemäß einem Befehl des Führers legte man diese Vergeltungsmaßnahmen derart aus, daß eine Anzahl Niederländer aus ganz anderen Beweggründen verhaftet wurden und daß sie wegen Sabotagehandlungen und Mordversuchen erschossen worden seien.«


SEYSS-INQUART: Darf ich das noch ganz kurz erläutern?

DR. STEINBAUER: Bitte.


SEYSS-INQUART: Es sind zum Beispiel führende Mitglieder der Widerstandsbewegung verhaftet worden und bei Prüfung durch den Höheren SS- und Polizeiführer nach dem Führerbefehl als zu erschießen bestimmt worden. Der Höhere SS- und Polizeiführer hat seinen Gerichtsoffizier zu dieser Prüfung zugezogen. Es kam dann ein Sprengattentat auf eine Brücke, und statt Geiseln zu erschießen, wurden diese Männer genommen und erschossen; also es war gerade der umgekehrte Fall der Geiselerschießung, oder sollte es wenigstens sein.


DR. STEINBAUER: Ich komme jetzt zu dem Kapitel IV B: »Konzentrationslager und Gefängnisse«. Meine erste Frage: Wer war hierfür zuständig?


SEYSS-INQUART: Für die Konzentrationslager und für die polizeilichen Untersuchungsgefängnisse war die Polizei zuständig; für die gerichtlichen Untersuchungsgefängnisse, die Gerichtsbehörden, ich, wobei also, die gerichtlichen Untersuchungsgefängnisse mir unterstanden.

[714] DR. STEINBAUER: Hat es auch in den Niederlanden Konzentrationslager gegeben?


SEYSS-INQUART: Jawohl! Vor allem das große Konzentrationslager Putten in der Nähe von Hertogenbosch, dann ein polizeiliches Durchgangslager bei Amersfort, ein Judensammellager in Westerborg. Von Michelgestell habe ich schon gesprochen. Das war ein Schutzhaftlager, und dann spielte noch ein Lager Ommen eine Rolle, das aber weder ein Polizei- noch ein Konzentrationslager war, sondern eines, in dem Mißbräuche vorgekommen sind.


DR. STEINBAUER: Was können Sie mir nun über das Lager Hertogenbosch sagen?


SEYSS-INQUART: Hertogenbosch war ursprünglich als ein Judensammellager gedacht, damals, als wir die Absicht hatten, die Juden in den Niederlanden zu behalten. Reichsführer Himmler hat Befehl gegeben, ein Konzentrationslager daraus zu machen. Ich habe mich nach einiger Überlegung mit diesem Gedanken abgefunden. In der Erwägung, ich kann es nicht verhindern, daß Niederländer in Konzentrationslager kommen, dann ist es mir aber immer noch lieber, sie kommen in Konzentrationslager in den Niederlanden, wo ich vielleicht doch noch einen gewissen Einfluß nehmen kann.


DR. STEINBAUER: Nun sollen aber auch in diesen Konzentrationslagern Exzesse vorgekommen sein; so zum Beispiel gerade in dem Lager Vught, das Sie genannt haben.


SEYSS-INQUART: Das ist vollkommen richtig. Sowohl in Gefängnissen als auch in Konzentrationslagern sind Exzesse vorgekommen. Ich halte das in Kriegszeiten beinahe für unvermeidlich, weil da subalterne Menschen eine unbedingte Vollzugsgewalt über andere Menschen bekommen und zu wenig kontrolliert werden. Wo ich aber etwas erfahren habe, habe ich eingegriffen, das erstemal Ende 1940 oder 1941. Da meldete mir der Vorsteher meines deutschen Gerichts, es wäre ihm ein Häftling vorgeführt worden mit Schlagwunden auf dem Kopf. Ich habe diesen Fall prüfen lassen. Der Gefängnisaufseher wurde disziplinär bestraft und ins Reich zurückgeschickt. Beim Konzentrationslager Vught gab es beim Bezug eine große Sterblichkeit. Ich habe sofort eine Untersuchung einleiten lassen unter Zuziehung niederländischer Hygieniker. Ich habe mir damals täglich und später wöchentlich die Sterblichkeitsziffer vorlegen lassen, bis sie ungefähr die normale Höhe erreicht hat. Ich weiß natürlich nicht, ob mir die Lagerleitung nur die normalen Sterbefälle bekanntgegeben hat und auch Erschießungsfälle. Das weiß ich nicht.

In diesem Lager hat es Exzesse gegeben durch Veranstaltung von Gelagen. Man hat auch hie und da von Schlägereien gehört. Der Lagerleiter wurde abberufen und ins Reich geschickt. Und ich [715] bemerkte, daß der Höhere SS- und Polizeiführer offenbar selbst bemüht war, die Ordnung aufrechtzuerhalten, obwohl ihm die Lager nicht unterstanden sind, sondern dem Gruppenführer Pohl.

Es hat dann einen sehr schweren Fall gegeben. Er ist in Dokument F-224 unter dem Stichwort »Frau in Zelle« geschildert. Der Lagerleiter hat aus angeblichen disziplinären Gründen eine größere Anzahl von Frauen dicht gedrängt in eine Zelle über Nacht gesperrt. Dabei sind drei bis vier Frauen erstickt. Als wir davon gehört haben, haben wir ein gerichtliches Einschreiten verlangt. Die Zentralverwaltung in Berlin hat das abgelehnt. Wir haben uns an Reichsführer Himmler gewandt und nicht nachgegeben. Der Lagerleiter ist vor das Gericht gestellt worden und hat mindestens vier Jahre Freiheitsstrafe bekommen, ich glaube aber acht Jahre. Das ist übrigens in dem französischen Bericht angedeutet.


DR. STEINBAUER: Dann haben wir das Lager Ammersfort.


SEYSS-INQUART: Das Lager Ammersfort war ein polizeiliches Durchgangslager, also für Polizeihäftlinge, die den Gerichten zu überliefern waren oder die ins Reich zu kommen hatten, oder für Arbeitsverweigerer, die ins Reich abgeschoben wurden. Dort waren oder sollten die Leute im allgemeinen nicht mehr als sechs bis acht Wochen sein.

In diesem Lager war eine niederländische Bewachungsmannschaft, aber nicht niederländische Polizei, sondern eine freiwillige SS-Wachkompanie, glaube ich. Hier sind Exzesse vorgekommen. Generalsekretär van Damm hat mich aufmerksam gemacht, daß ein Niederländer dort erschlagen worden sein soll. Ich habe den Höheren SS- und Polizeiführer dringend ersucht, den Fall zu klären. Er hat dies durch seinen Gerichtsoffizier getan und hat mir die Akten eingesandt. Nach den Akten sind schwere Mißhandlungen vorgekommen, aber kein Totschlag. Die Täter wurden bestraft. Ich habe den Höheren SS- und Polizeiführer wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß Konzentrationslager und Gefängnisse in dieser Kriegszeit geradezu die Gelegenheitsstellen für Roheitsexzesse sind. Und wenn da oder dort kein schwerer Fall, aber doch gewisse Mißhandlungen zu mir gebracht wurden, habe ich ihn immer darauf aufmerksam gemacht. Er berichtete mir dann, daß der Fall entweder sich nicht zugetragen habe oder daß er eingeschritten sei und so weiter. Ich habe mir insbesondere die Ernährungssätze der Konzentrationslager und Gefängnisse vorlegen lassen. Die Ernährungssätze waren zufriedenstellend. Ich glaube, daß die Niederländer in den Konzentrationslagern und Gefängnissen Ende 1944 und 1945 mehr bekommen haben als die Holländer in den West-Niederlanden, was ich aber keineswegs als etwas Besonderes bezeichnen will, denn die Holländer haben Hunger gelitten.


[716] DR. STEINBAUER: Es war dann das Lager Westerborg.


SEYSS-INQUART: Westerborg ist schon seinerzeit von der Niederländischen Regierung angelegt worden als ein natürlich vollkommen freies Lager für aus Deutschland geflüchtete Juden. Dies wurde ausgebaut zu einem Sammellager für Juden. Im Lager selbst war eine jüdische Ordnungswache. Nach außen wurde das Lager durch niederländische Polizei abgesperrt. Es. war lediglich ein Kommando der Sicherheitspolizei zur Aufsicht drin. Ich habe in den ganzen Akten keinen Bericht gefunden über Exzesse im Lager selbst. Es sind auch jeden Sonntag Geistliche in das Lager gekommen, jedenfalls ein Geistlicher für die katholischen Juden und einer für die sogenannten Christlichen; aber auch die haben nichts berichtet.


DR. STEINBAUER: Über Abtransport werden wir später sprechen.


SEYSS-INQUART: Jetzt möchte ich noch von Ommen sprechen, denn da liegt ein längerer Bericht vor.

Ommen war als Ausbildungslager gedacht für jene Niederländer, die sich wirtschaftlich in den Ostgebieten betätigen wollten, Freiwillige. Sie wurden dort über Land und Leute orientiert und über die Sprache. Der Lagerleiter hat sich aus einer benachbarten niederländischen Strafanstalt Strafhäftlinge für die Arbeit ausgeborgt. Da kamen die Nachrichten, daß diese Strafhäftlinge mißhandelt würden. Die Richter von Amsterdam wandten sich an mich. Ich habe den niederländischen Richtern von Amsterdam die Erlaubnis gegeben, persönlich das Lager zu besuchen und die Strafhäftlinge zu sprechen. Dies geschah laut Dokument F-224 vom 5. März 1943. Darauf haben die Amsterdamer Richter einen längeren Brief an den Generalsekretär der Justiz geschrieben. Sie beschwerten sich über von ihnen festgestellte Mißhandlung der Häftlinge und über die Tatsache, daß niederländische Häftlinge in Gefangenenanstalten des Reiches zum Arbeitseinsatz überführt werden. Die Beschwerden waren zutreffend. Ich habe angeordnet, daß die Häftlinge aus dem Lager Ommen wieder zurück in die niederländische Strafanstalt kommen und die niederländischen Häftlinge aus den deutschen Gefängnissen wieder zurück in die niederländischen Gefängnisse. Dieses Vorgehen war korrekt und hat daher bei mir notwendigerweise eine entsprechende Erledigung gefunden.


DR. STEINBAUER: Da muß ich aber Ihnen, Herr Doktor, eine Zwischenfrage stellen und einen Vorhalt machen. Sie haben dann, wie aus der Urkunde RF-931 hervorgeht, Richter, die ähnliche Beschwerde vorgebracht haben, und zwar von Leeuwarden, abgesetzt.


[717] SEYSS-INQUART: In meinen Augen war das Vorgehen des Gerichts von Leeuwarden unkorrekt. Diese Richter haben sich nicht an mich gewandt, sondern haben in einem Urteil öffentlich behauptet, daß die niederländischen Häftlinge in deutsche Konzentrationslager kommen und erschossen werden. Das war nach dem mir vorliegenden Tatbestand falsch. Ich habe sie dann orientiert über die Ergebnisse der Amsterdamer Richter. Die Leeuwardener Richter haben es nämlich abgelehnt, weiter Urteile zu fällen. Ich habe sie aufgefordert, nunmehr weiter zu amtieren. Sie haben das abgelehnt. Ich habe sie daraufhin als Arbeitsverweigerer entlassen. Ich hätte sie durchaus vor ein deutsches Gericht stellen können wegen Greuelpropaganda.


DR. STEINBAUER: Sind Ihnen Beschwerden seitens des Roten Kreuzes über die Verhältnisse in den Lagern vorgelegt worden?

SEYSS-INQUART: Wir hatten in den Niederlanden die Einrichtung, daß ein Vertreter des Niederländischen Roten Kreuzes, Frau van Overeem, sämtliche Konzentrationslager und Gefängnisse besuchen konnte, vor allem, um sich zu überzeugen, ob die Lebensmittelpakete zugestellt werden. Weder Frau van Overeem noch die Leitung des Niederländischen Roten Kreuzes hat jemals eine Beschwerde an mich kommen lassen. Ich möchte sagen, daß dieser Umstand für mich besonders maßgebend war, denn die Niederländer haben sich über alles beschwert, und wenn da keine Beschwerden an mich kamen, war das eine gewisse Beruhigung. Ich möchte noch bemerken, daß etwa Anfang 1944 nach den mir vorgelegten Ausweisen etwa 12000 Niederländer in Konzentrationslagern oder Gefängnissen waren. Das bedeutet also soviel, wie wenn heute im gesamten Großdeutschen Reich 120000 Deutsche in Gefängnissen oder Lagern wären. Das hat mich veranlaßt, gerichtliche Kommissionen einzusetzen, die die Lager besuchen mußten und die Gefängnisse, um zu überprüfen, ob die Häftlinge nicht entlassen oder dem gerichtlichen Verfahren zugeführt werden können. Wo natürlich Haftbefehle von Berlin vorlagen, konnte ich nichts machen.


DR. STEINBAUER: Herr Zeuge! Sie haben uns also dargestellt, daß Sie ununterbrochen einen Kampf gegen die Polizei in dieser Frage geführt haben?

SEYSS-INQUART: Ich möchte nicht von einem Kampf sprechen.


DR. STEINBAUER: Glauben Sie, auch Erfolge gehabt zu haben?


SEYSS-INQUART: Ich glaube, auf Grund bestimmter Feststellungen. Ich habe den Vorgängen hier sehr genau gefolgt. Wir haben ja ganz furchtbare Dinge gehört. Die Berichte aus den Niederlanden scheinen mir nicht so arg zu sein. Ich will gar nicht sagen, daß jeder Exzeß von mir bedauert wird. Aber solche Berichte [718] wie zum Beispiel über Breedonck in Belgien liegen nicht vor. Aus den Berichten ergibt sich eigentlich als schwerster Vorwurf Prügeleien. Es liegt nur ein einziger Bericht – F-677 – eines Erhebungsbeamten Bruder vor, der das Niveau der üblichen Greuelmeldungen enthält. Aber ich glaube, daß dieser Bericht sehr mit Vorsicht aufgenommen werden muß. Bruder meldet nicht einmal, wer ihm das gesagt hat. Die Meldungen selbst sind unglaubwürdig. Er behauptet zum Beispiel, daß die bei der Arbeit befindlichen Häftlinge sich vor jedem SS-Posten auf den Boden legen mußten. Ich glaube nicht, daß das von der Lagerleitung geduldet worden wäre, weil ja dann die Häftlinge nicht hätten arbeiten können. Ich vermag kein Urteil abzugeben, aber ich habe den Eindruck, ganz so arg war es in den Niederlanden viel leicht nicht.


DR. STEINBAUER: Ich glaube also, das Kapitel abschließen zu können und gehe zu Punkt V der Anklage über, den Fragen des Arbeitseinsatzes. Welche Probleme haben Sie auf dem Gebiet des Arbeitseinsatzes in den Niederlanden vorgefunden?


SEYSS-INQUART: Auf dem Gebiet des Arbeitseinsatzes können wir drei, vielleicht vier Phasen unterscheiden. Als ich in die Niederlande kam, fand ich etwa 500000 Arbeitslose vor: Die registrierten Arbeitslosen, die aus der Entlassung der niederländischen Land- und Seemacht bei der Demobilisierung zu Erwartenden und dann Kurzarbeiter und so weiter. Es war für mich ein vordringliches, nicht nur soziales Problem, die Arbeitslosenzahl zu beseitigen. Denn erstens ist ein so großes Arbeitslosenheer zweifellos eine Rekrutierungsmenge für illegale Betätigung; und zweitens war bei Fortdauer des Krieges zu erwarten, daß die wirtschaftliche Lage der Arbeitslosen schwieriger wird. Damals haben wir mit den Maßnahmen eingesetzt, die ich trotz aller Vorhalte als freiwillige Arbeitswerbung bezeichnen muß. Das währte bis 1942, also etwa zwei Jahre.

Ich habe damals weder den deutschen noch den niederländischen Arbeitsbehörden die Vollmacht gegeben, irgend jemanden zur Arbeit ins Ausland zu verpflichten. Sicherlich war ein gewisser wirtschaftlicher Druck da, aber der ist, glaube ich, in dieser Frage immer vorhanden. Die Werbung erfolgte durch die niederländischen Arbeitsämter, die dem niederländischen Generalsekretär für soziale Verwaltung unterstanden. Bei den Arbeitsämtern befanden sich deutsche Inspektoren. Auch private Vermittlungen waren tätig. Die Firmen aus dem Reich haben eigene Vermittler herübergeschickt. Im ganzen wurden etwa 530000 Niederländer ins Reich in Arbeit vermittelt, in der von mir als freiwillig bezeichneten Periode etwa 240000 bis 250000 ins Reich und etwa 40000 nach Frankreich. In der ersten Hälfte 1942 war dieses Reservoir aufgesogen.

[719] Das Reich verlangte weitere Kräfte, und wir erwogen nun die Einführung einer Arbeitspflicht. Die Weisung hierzu erhielt ich meines Erinnerns nicht von Sauckel sondern als unmittelbare Führerweisung von Bormann. Nun erfolgte der Arbeitseinsatz überwiegend, aber nicht ausschließlich, in der Weise, daß die jungen, womöglich nichtverheirateten Niederländer zum Arbeitsamt vorgeladen wurden und dort einen Verpflichtungsschein bekamen, im Reich Arbeit aufzunehmen. Der niederländische Bericht sagt selber, daß nur wenige sich weigerten. Es wurden natürlich auch einige, die sich weigerten, von der Polizei festgenommen und ins Reich gebracht.

Der Höhere SS- und Polizeiführer hat mir gemeldet, daß dies insgesamt 2600 waren von etwa 250000 bis 260000 Arbeitsverpflichteten und von 530000 überhaupt Arbeitsvermittelten, also ein Prozent beziehungsweise ein halbes Prozent. Ich glaube, daß die Ziffer der Zwangsmaßnahmen im Reich auch nicht niedriger war... oder höher war.

Anfangs 1943 verlangte das Reich einen Großeinsatz von Arbeitern, und es wurde mir nahegelegt, nun ganze Jahrgänge aufzurufen und ins Reich zu vermitteln. Ich bemerke, daß alle diese Arbeiter im Reich freie Arbeitsverträge bekamen und nicht in Arbeitslagern waren. Ich habe mich entschlossen, drei Jahrgänge aufzurufen, und zwar junge Jahrgänge, ich glaube, die 21- bis 23-Jährigen, um die verheirateten Männer zu schonen. Der Erfolg war beim ersten Jahrgang befriedigend, beim zweiten mäßig und beim dritten ganz schlecht. Es war mir klar, daß ich weitere Einberufungen nur mit Brachialgewalt vornehmen kann; das habe ich abgelehnt. Ich habe damals durch das Verständnis des Ministers Speer erreicht, daß die Arbeiter nicht zur Arbeit, sondern die Arbeit zu den Arbeitern gebracht wurde. Es kamen große Aufträge in die Niederlande und die diese Aufträge ausführenden Betriebe wurden als »Sperrbetriebe« erklärt; dazu gehörte auch die Organisation »Todt«.

Es sind damals Freistellungen vorgenommen wor den für Niederländer, die in den Niederlanden notwendig sind. Die Freistellungsscheine wurden von den niederländischen Behörden ausgestellt, und zwar über eine Million Stück. Es war klar, daß das eine Sabotierung bedeuten sollte, aber ich fühlte mich nicht veranlaßt, dagegen einzuschreiten.

Niemals wurde eine Frau zum Arbeitseinsatz außerhalb der Niederlande verpflichtet, ebenso niemals Jugendliche unter 18 Jahren. Reichsminister Lammers hat hier bestätigt, daß er mir anfangs 1944 den Führerbefehl übermittelte, 250000 Arbeitskräfte ins Reich zu bringen. Er hat bestätigt, daß ich das abgelehnt habe. Damals ist Gauleiter Sauckel zu mir gekommen und hat die Sache mit mir besprochen. Ich muß feststellen, daß er meine Argumente [720] überraschend schnell anerkannt hat und nicht darauf gedrungen hat, Zwangsrekrutierungen durchzuführen. Unter »Zwangrekrutierrungen« verstehe ich die Absperrung ganzer Bezirke und das Herausfangen der Männer.

Im Laufe des Jahres 1944 hörte die Arbeitsvermittlung nahezu völlig auf. Statt 250000 sind, glaube ich, 12000 ins Reich geschickt worden.

Eine ganz andere Aktion ist die im Herbst 1944. Aus den Erfahrungen in Frankreich und Belgien heraus beschloß das Oberkommando des Heeres, die wehrfähigen Holländer aus Holland, also den Westniederlanden, abzuziehen. Dies deshalb, weil von der Niederländischen Regierung in England eine illegale Armee aufgezogen war. Ich habe das Organisationsstatut in der Hand gehabt. Es war ein kompletter Generalstab und ein komplettes Kriegsministerium, und wir schätzten auf 50000 illegale Streitkräfte. Wenn bei einem entsprechenden Aufruf nur noch ein wehrfähiger Niederländer dazu tritt, so wären der Zahl nach die illegalen Streitkräfte größer gewesen als die deutschen Truppen in Holland. Dazu hatten sie von England eine sehr gute Waffenausrüstung bekommen. Wir haben ganze Schiffsladungen modernster Maschinenpistolen beschlagnahmt. Ich bin aber überzeugt, daß der größte Teil der Waffen von uns nicht beschlagnahmt wurde. Das Oberkommando des Heeres ordnete im Wege der militärischen Befehlshaber den Abzug der wehrfähigen Holländer an. Die Maßnahme wurde ausschließlich im Wehrmachtsbereich durchgeführt. Damit wurde ein eigens hergesandter General beauftragt und ein eigener Führungsstab. Die Maßnahme wurde durchgeführt durch den jeweiligen Standortkommandanten. Meine örtlichen Dienststellen wurden manchmal im letzten Augenblick, manchmal gar nicht verständigt. Ich habe natürlich von der Maßnahme gewußt. Angesichts der eben vorgebrachten Gründe konnte ich es nicht verantworten, dagegen zu protestieren. Ich habe mich nur eingeschaltet, um die zivilen Belange zu wahren, damit die Arbeiter aus den lebenswichtigen Betrieben nicht mit herausgefangen werden. Damit beauftragte ich den Generalbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz, den mir inzwischen Dr. Goebbels nach den Niederlanden geschickt hatte. Dessen Aufgabe bestand also darin, Freilassungsscheine auszustellen. Er hat 50000 Stück ausgestellt.


VORSITZENDER: Meinen Sie Himmler?


SEYSS-INQUART: Goebbels, den Generalbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz.

Ich gebe zu, daß diese Maßnahme zu Verhältnissen geführt hat, die für die Niederländer untragbar waren. Ich bin zwar dessen sicher daß was die Verpflegung, vorübergehende Unterbringung [721] und Transport betrifft, die Bevölkerung in den deutschen Bombengebieten auch nicht leichtere Bedingungen gehabt hat; aber von den Niederländern konnte man einen solchen Einsatz ja nicht verlangen. Es haben damals zahlreiche Niederländer mir gesagt, sie würden sich für diesen Arbeitseinsatz zur Verfügung stellen, keineswegs um der deutschen Sache zu helfen, sondern um diesen schweren Bedingungen zu entgehen, wenn man sie in einem geordneten Verfahren aufruft. Das habe ich dann getan. Der Generalbevollmächtigte für den totalen Kriegseinsatz hat eine Kundmachung erlassen, die dem Gericht vorliegt. Die Leute wurden zu den Ar beitsämtern gerufen, in Listen aufgenommen, wieder nach Hause geschickt, konnten sich Kleider und Wäsche holen, wurden auf den Bahnhof bestellt und nicht durch die Polizei, sondern durch Arbeitsbeamte ins Reich gebracht zum normalen Arbeitseinsatz. Der niederländische Bericht in seiner Objektivität erkennt das an. Er spricht von den besseren Transportbedingungen der Arbeitsmobilisation. Für diese Arbeitsmobilisation trage ich die Verantwortung aus den von mir angegebenen Gründen.


DR. STEINBAUER: Darf ich, Herr Präsident, hierzu bemerken, daß meine Urkunde Nummer 78, US-195, Seite 200, Auszug aus dem Regierungsbericht der Niederländischen Regierung, die Darstellung meines Klienten vollständig bestätigt. Ich möchte sie der Wichtigkeit halber ganz kurz verlesen; Seite 2:

»... Arbeiter, die sich weigerten (verhältnismäßig wenige) wurden vom ›Sicherheitsdienst‹ (SD) verfolgt.«

Dann Seite 3:

»... Abgesehen davon war die Maßnahme nicht sehr erfolgreich. Gewisse deutsche Behörden scheinen sich der Ausführung dieser Maßnahme widersetzt zu haben, da viele ehemalige Angehörige der Streitkräfte verschont blieben. Andere tauchten unter...

Das Ergebnis war, daß im letzten Monat des Jahres 1943 und im größten Teil des Jahres 1944 verhältnismäßig wenige Personen verschickt wurden...«

Dann zuletzt erzählt er auf Seite 6:

»... Bis Ende 1944 war das Beförderungsverfahren für Deportierte erträglich... Wer sich zur Arbeitsmobilisierung im Jahre 1945 meldete, hatte verbesserte Transportmöglichkeiten, nämlich fast die ganze Reise per Eisenbahn, wenn auch nur im Güterwagen...«


SEYSS-INQUART: Andere Wagen haben wir damals selbst nicht mehr gehabt. Ich möchte noch darauf verweisen, daß ich auch niederländische Arbeiter aufgerufen habe, um die mir vom Führer aufgetragenen Ausbauten der Widerstandslinien östlich der Yssel[722] durchzuführen. Ich habe von den Transporten, die von Rotterdam und so weiter kamen, einen Teil dafür abgezweigt und dadurch verhindert, daß diese Leute ins Reich hinausgebracht wurden. Auf die Behandlung im Reich hatte ich keinen Einfluß, ich habe nur den weiteren Transport in den Gau Essen verboten, weil mir gemeldet wurde, daß im Lager Rees die Behandlung eine sehr schlechte sein soll, daß einige Niederländer gestorben waren.

DR. STEINBAUER: Ich komme nun zum nächsten Kapitel der Anklage, das heißt zur Judenfrage. Im niederländischen Regierungsbericht, US-195, ist eine Zusammenstellung aller Verordnungen von der Anklagebehörde vorgelegt worden. Ich möchte zur Gedächtnishilfe diese Urkunde 1726 meinem Klienten zur Einsichtnahme geben, damit er sich an die Gesetze erinnert. Es liegt schon dem Gericht vor.

Was haben Sie als Reichskommissar in der Judenfrage veranlaßt?


SEYSS-INQUART: Als ich die Funktion des Reichskommissars übernahm, war es mir natürlich klar, daß ich irgendwie auch Stellung nehmen muß und Maßnahmen werde treffen müssen rücksichtlich der in den Niederlanden befindlichen Juden. Amsterdam ist ja in Westeuropa vielleicht der bekannteste, einer der ältesten Sitze jüdischer Gemeinden. Dazu kam, daß in den Niederlanden sehr viele deutsche jüdische Emigranten waren. Ich will ganz offen sagen, daß ich aus dem ersten Weltkrieg und aus der Nachkriegszeit heraus als ein Antisemit nach Holland gegangen bin. Ich brauche das hier nicht weiter ausführen, ich habe das alles in meinen Reden gesagt, und ich darf dann darauf verweisen. Ich hatte den Eindruck – der wird mir überall bestätigt werden –, daß die Juden natürlich gegen das nationalsozialistische Deutschland sein müssen. Eine Schuldfrage war für mich nicht zu erörtern, sondern ich mußte als Chef eines besetzten Gebietes nur mit der Tatsache rechnen. Ich mußte mir sagen, daß ich aus den jüdischen Kreisen besonders mit Widerstand, Defaitismus und so weiter zu rechnen habe.

Ich habe mit Generaloberst von Brauchitsch als Oberkommandierenden des Heeres besprochen, daß ich in den Niederlanden die Juden aus den führenden Stellungen der Wirtschaft, Presse und dann weiter aus den Staatsstellungen entfernen werde. Auf diese Maßnahmen haben sich meine Eingriffe vom Mai 1940 bis März 1941 auch beschränkt. Die jüdischen Beamten wurden entlassen, aber mit Pension. Die jüdischen Firmen wurden registriert und die Firmenleiter entlassen. Im Frühjahr 1941 kam Heydrich zu mir in die Niederlande. Er setzte mir auseinander, daß wir damit rechnen müssen, daß der größte Widerstand aus den jüdischen Kreisen kommt, und er erklärte mir, daß man die Juden doch wenigstens [723] so behandeln müßte wie feindliche Ausländer. Es wurden zum Beispiel die Engländer in den Niederlanden konfiniert und deren Vermögen konfisziert. Bei der großen Zahl der hier in Frage kommenden Personen, etwa 140000, war das nicht so einfach. Ich gestehe offen, daß ich mich diesem Argument Heydrichs nicht entzogen habe. Ich habe es auch für notwendig gehalten in einem Krieg, den ich absolut als einen Kampf auf Leben und Tod des deutschen Volkes betrachtet habe; ich habe daher die Registrierung der Juden in den Niederlanden im März 1941 angeordnet.

Nun ist es Schritt für Schritt weitergegangen. Ich will nicht sagen, daß das endgültige Ergebnis, soweit es in den Niederlanden gesetzt wurde, von Haus aus beabsichtigt war, aber es wurde dieser Weg gegangen. Die Verordnungen, die hier angeführt sind, wenn sie im niederländischen Verordnungsblatt erschienen sind, sind zumeist von mir selbst unterschrieben worden, jedenfalls mit meiner ausdrücklichen Zustimmung veröffentlicht worden. Einzelmaßnahmen, die hier erwähnt sind, lagen außerhalb meines Willens. Zum Beispiel sollen im Februar 1000 Juden verhaftet und nach Buchenwald und Mauthausen gebracht worden sein. Davon weiß ich soviel: Im Amsterdamer Ghetto ist ein Nationalsozialist...


VORSITZENDER: Im Februar welchen Jahres?


SEYSS-INQUART: Im Februar 1941. Im Amsterdamer Ghetto ist ein Nationalsozialist von Juden erschlagen worden. Reichsführer Himmler hat darauf die Überführung von 400 jungen Juden nach Mauthausen befohlen. Ich befand mich damals nicht in den Niederlanden. Das war übrigens der Anlaß zum Generalstreik in Amsterdam im März 1941. Nach meiner Rückkehr nach den Niederlanden habe ich gegen diese Maßnahme protestiert und meines Wissens kam eine solche Massenverschickung nach Mauthausen nicht mehr vor.

Es kam auch zur Verbrennung von Synagogen. Da hat offenbar jemand den Ehrgeiz des 8. November 1938 gehabt. Ich bin sofort eingeschritten. Die Fälle vermehrten sich nicht; hingegen wollte die Polizei den alten Tempel in Amsterdam niederreißen. Generalsekretär van Damm hat mich darauf aufmerksam gemacht, und ich habe das verhindert.

Ich habe früher angedeutet, daß das Motiv der Maßnahmen in der Erwägung zu suchen ist, die Juden wie feindliche Ausländer zu behandeln. In der weiteren Durchführung wurde diese Basis bestimmt verlassen. Es war weiter nichts wie die Durchführung der Maßnahmen gegen die Juden, wie sie. eben auch im Reich vorgekommen sind. Vielleicht ist in dem, einen oder in dem anderen Fall sogar mehr geschehen; denn ich weiß, daß zum Beispiel in den Niederlanden auch eine Aktion war, die Juden zu veranlassen, sich sterilisieren zu lassen. Das Ziel, das wir hatten, war, die Juden in [724] den Niederlanden selbst au behalten, und zwar an zwei Bezirken von Amsterdam und dann im Lager Westerborg und im Lager Vught. Wir hatten uns auch vorbereitet, hier entsprechende Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen.

Ich habe dem Generalsekretär für Erziehung den Auftrag gegeben, aus dem holländischen Haushalt jene Mittel für die Erziehung der Juden zur Verfügung zu stellen, die nach der Kopfquote auf die jüdische Bevölkerung entfallen. Es wird sicher sein, daß schon bei dieser Maßnahme der Konzentration der Juden auf zwei Bezirke und zwei Lager, verschiedene Härten vorgekommen sind, die vielleicht nicht zu umgehen waren, vielleicht auch schon Exzesse darstellen können.

Schließlich verlangte die Sicherheitspolizei die Einführung des sogenannten Judensterns. Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Juden war nicht in den Konfinierungsstellen. Die Sicherheitspolizei verlangte deren Kennzeichnung, um kontrollieren zu können, ob sich die Juden an die sonstigen Beschränkungen halten. Dieser Stern ist in den Augen der Deutschen sicherlich als eine gewisse Diffamierung anzusehen. Von den Niederländern wurde er nicht so aufgefaßt, und es hat so manche Niederländer gegeben, die aus Protest selbst so einen Stern getragen haben.

Es dürfte im Jahre 1942 gewesen sein, als Heydrich neuerlich Forderungen stellte, und zwar kam er jetzt mit der Forderung der Evakuierung der Juden. Er begründete die Forderung damit, daß Holland über kurz oder lang Kriegsgebiet sein werde, daß man dann eine so feindselige Bevölkerung nicht im Kriegsgebiet haben dürfe. Er verwies darauf, daß er für die Sicherheit des Reiches im polizeilichen Sinne verantwortlich sei, und daß er diese Verantwortung nicht tragen könne, wenn die Juden in Holland bleiben. Ich glaube, es hat drei oder vier Monate gedauert, in denen wir in den Niederlanden gegen diese Evakuierung Stellung genommen und den Versuch gemacht haben, andere Auswege zu finden.

Zum Schluß hat mir Heydrich einen Befehl des Führers vorlegen lassen, laut welchem er unbeschränkte Vollmachten zur Durchführung aller Maßnahmen hatte, auch in den besetzten Gebieten. Ich habe über Bormann rückgefragt, welche Bewandtnis es damit hätte, und dieser Befehl wurde mir bestätigt. Daraufhin wurde mit der Evakuierung der Juden begonnen.

Ich habe damals versucht, mich über das Schicksal der Juden zu vergewissern, und es fällt mir etwas schwer, darüber jetzt zu Sprechen, weil es wie ein Hohn klingt. Man sagte mir, daß die Juden nach Auschwitz kommen. Ich habe veranlaßt, daß von uns aus den Niederlanden Leute nach Auschwitz geschickt werden. Dieselben kamen mit dem Bericht zurück, dort wäre ein Lager für 80000 Menschen genügend geräumig. Diesen Leuten ginge es [725] verhältnismäßig gut; sie hätten zum Beispiel eine hundert Mann starke Musikkapelle. Als ein Zeuge hier bestätigte, daß diese Musikkapelle spielte, wenn die Opfer in Auschwitz eingetroffen sind, habe ich mich an diese Meldung erinnert.


VORSITZENDER: Herr Dr. Steinbauer! Sie werden wohl heute abend nicht mehr fertig werden?

DR. STEINBAUER: Nein.


VORSITZENDER: Wie lange werden Sie voraussichtlich noch brauchen?


DR. STEINBAUER: Ich hoffe, morgen spätestens bis zur Mittagspause fertig zu sein, vielleicht schon in einer Stunde. Ich habe noch über die Fragen der Plünderung, wirtschaftlicher Maßnahmen und der Zerstörung au sprechen. Dann wäre das Thema für mich erschöpft.


VORSITZENDER: Wir vertagen uns nunmehr.


[Das Gericht vertagt sich bis

11. Juni 1946, 10.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 16.
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