Vormittagssitzung.

[623] DR. NELTE: Ich habe Sie gestern zuletzt nach den Befehlsverhältnissen im Kriegsgefangenenwesen befragt. Dieser Befehlsweg ging nach Ihrer Antwort von dem Lagerkommandanten über den Wehrkreiskommandeur, über den Befehlshaber des Ersatzheeres zum Oberkommando des Heeres. Ich möchte nun von Ihnen wissen, wie die Verantwortlichkeit war, wenn in einem Kriegsgefangenenlager etwas passierte, was gegen die Genfer Konvention verstieß oder gegen allgemein anerkannte Regeln des Völkerrechtes. Waren Sie hierfür zuständig; ist das OKW verantwortlich gewesen?

KEITEL: Das OKW war dann verantwortlich, wenn es sich um Vorkommnisse handelte, die gegen allgemeine Anordnungen, also die grundlegenden Anordnungen, verstießen, die vom OKW erlassen waren. Oder wenn es mit der Nichtausübung des Inspizierungsrechtes im Zusammenhang stand. Unter dieser Voraussetzung halte ich das OKW für verantwortlich.


DR. NELTE: Wie übte das OKW die Inspektion, das Kontrollrecht über die Lager aus?


KEITEL: Zunächst und in der ersten Zeit des Krieges durch einen Inspekteur des Kriegsgefangenenwesens, der aber gleichzeitig der Amts- oder Abteilungschef der Abteilung Kriegsgefangenenwesen im allgemeinen Wehrmachtsamt war, also in gewisser Beziehung eine Doppelfunktion ausübte. Und in späterer Zeit, es war wohl von 1942 ab, durch Einsetzung eines Generalinspekteurs, der mit dem ganzen Schriftverkehr und den amtlichen Aufgaben ministerieller Art nichts zu tun hatte.


DR. NELTE: Wie war es nun mit der Kontrolle der Schutzmächte und des Internationalen Roten Kreuzes?


KEITEL: Wenn eine Schutzmacht durch eine Delegation Lager zu besichtigen wünschte, regelte dies das Amt beziehungsweise der Inspekteur für Kriegsgefangenenwesen, und er begleitete auch diese Delegation. Es mag vielleicht zu bemerken sein, daß für die Franzosen der Botschafter Scapini diese Tätigkeit persönlich ausübte und eine Schutzmacht in dieser Form nicht bestand.


DR. NELTE: Konnten die Vertreter der Schutzmächte und des Roten Kreuzes die Kriegsgefangenen frei sprechen oder nur in Gegenwart von Offizieren der Deutschen Wehrmacht?


KEITEL: Ich weiß nicht, ob grundsätzlich und in allen Lagern stets so verfahren wurde, wie es grundsätzlich angeordnet war, [623] nämlich einen direkten Gedankenaustausch zwischen Kriegsgefangenen und Besuchern ihres Landes zu ermöglichen. In der Regel ist es so gewesen, daß dies ermöglicht und gestattet wurde.


DR. NELTE: Haben Sie sich als Chef des OKW mit den allgemeinen Anordnungen für das Kriegsgefangenenwesen selbst befaßt?


KEITEL: Ja, mit den allgemeinen Anordnungen habe ich mich schon befaßt. Im übrigen war ich durch meine Bindung an den Führer und das Hauptquartier natürlich nicht in einer ständigen direkten Berührung mit meinen Dienststellen. Dafür waren die Amtsstellen für Kriegsgefangenenwesen, der Inspekteur, da, und letzten Endes der Amtschef des allgemeinen Wehrmachtsamtes, der ja überdies mir gegenüber die verantwortliche Stelle war. In diesen drei Stellen fand die laufende und praktische Bearbeitung statt, und ich bin eingeschaltet worden, wenn Entscheidung notwendig wurde, und wenn der Führer, wie es sehr häufig vorkam, selbst in diese Fragen eingriff und Anordnungen gab.


DR. NELTE: Es scheint nach den Dokumenten, die hier vorgelegt worden sind, eine unterschiedliche Behandlung der sowjetrussischen Kriegsgefangenen und der anderen Kriegsgefangenen stattgefunden zu haben. Was können Sie hierzu sagen?


KEITEL: Es ist richtig, daß in dieser Beziehung eine unterschiedliche Behandlung stattgefunden hat. Sie beruhte auf der Auffassung, die der Führer mehrfach hierbei in den Vordergrund stellte, daß die Sowjetunion die Genfer Konvention ihrerseits nicht ratifiziert hätte, und sie beruhte zum andern auch darauf, daß ja hier der Komplex »weltanschauliche Auffassung über die Kriegführung« eine Rolle gespielt hat. Der Führer betonte, daß wir auf diesem Gebiet freie Hand hätten.


DR. NELTE: Ich lasse Ihnen jetzt ein Dokument, EC-338, USSR-356 vorlegen. Es ist datiert vom 15. September 1941.

Teil 1 ist eine Vortragsnotiz des Amtes Ausland/Abwehr im OKW, Teil 2 ist eine Anordnung des OKW, vom 8. September 1941, über die Behandlung sowjetrussischer Kriegsgefangener, Teil 3 ist ein Merkblatt für die Bewachung sowjetrussischer Kriegsgefangener, und als letztes Dokument ist beigefügt eine Abschrift des Erlasses des Rates der Volkskommissare über Kriegsgefangenenwesen vom 1. Juli 1941.

[Dem Zeugen wird das Dokument überreicht.]


KEITEL: Ich kann vielleicht einleitend sagen, daß diese Anordnungen ja erst im September erlassen wurden, was darauf zurückzuführen war, daß zunächst eine Anordnung Hitlers bestand, daß [624] russische Kriegsgefangene in das deutsche Reichsgebiet nicht zurückgeführt werden sollten. Diese Anordnung ist dann später aufgehoben worden.

Nun die Anordnung vom 8. September 1941, die mir im Wortlaut vorliegt. Dazu ist zu sagen, daß die Grundlage dieser ganzen Anordnungen ebenfalls in dem Gesichtspunkte ihre Ursache findet, daß es sich hier um einen Volkstumskampf handelte, denn der erste Satz beginnt damit: »Der Bolschewismus ist der Todfeind des nationalsozialistischen Deutschlands.« Das drückt meines Erachtens schon von vornherein aus, auf welcher Grundlage diese Anordnungen beruhen und auf welcher Vorstellung und aus welchen Motiven sie entstanden sind. Es ist eben so, daß Hitler, wie ich gestern schon ausführte, diesen Kampf und diesen Krieg nicht auf der Basis der völkerrechtlich auszutragenden Kämpfe zwischen zwei Staaten, sondern zwischen zwei Weltanschauungen betrachtete. Es ist dann darin Näheres gesagt worden, auch über die Aussonderung, und zwar nach zwei Richtungen hin, Aussonderung solcher, die für uns als ungefährlich, wenn ich mich so ausdrücken soll, erscheinen, und solcher, die als politische Aktivisten und Fanatiker ausgesondert werden sollten, als dem Nationalsozialismus besonders bedrohlich und gefährlich.

Wenn ich dann zu dem einleitenden Schreiben komme, so ist das ja hier schon vorgelegt worden von dem Herrn Anklagevertreter der Sowjetunion. Es ist ein Schreiben des Chefs Ausland/Abwehr, Admiral Canaris, in dem er diesen Grundbefehl, den ich eben erörterte, nochmals mir zur Kenntnis bringt mit einer Reihe von Ausführungen, die seine Bedenken und seine Einwände gegen diesen Erlaß besonders herausstellen und betonen. Gleichzeitig beigefügt ist das Merkblatt, über das ich nichts mehr zu sagen brauche; es ist ein Auszug, und die von der Sowjetunion unter dem 1. Juli, glaube ich, ihrerseits herausgegebenen Anweisungen für Kriegsgefangenenbehandlung, das heißt Behandlung deutscher Kriegsgefangener. Ich bekam dieses am 15. September, während der andere Befehl etwa eine Woche vorher bereits herausgegangen war und nach Studium dieser Vorlage Canaris muß ich einräumen, daß ich seine Bedenken teilte. Ich bin deswegen mit der gesamten Vorlage zu Hitler gegangen und habe ihn gebeten, diese zu stornieren und sich selbst darüber nochmals zu äußern. Der Führer sagte mir dann, wir können nicht erwarten, daß die deutschen Kriegsgefangenen auf der anderen Seite völkerrechtlich beziehungsweise der Genfer Konvention entsprechend behandelt würden. Wir könnten es auch nicht prüfen und er sehe keinen Anlaß, aus diesem Motiv seine gegebenen Direktiven zu ändern, und er lehnte letzten Endes schlechthin ab, so daß ich die Notizen mit meinen Randbemerkungen an Admiral[625] Canaris zurückgab. Der Befehl ist dann also aufrechterhalten worden und bestehen geblieben.


DR. NELTE: Wie war dann die Behandlung der sowjetrussischen Kriegsgefangenen in der Praxis? Hielt man sich an diese Vorschriften oder wurden sie in der Praxis anders gehandhabt?


KEITEL: Nach meinen persönlichen Beobachtungen und den mir vorgelegten Berichten war die Praxis wesentlich, wenn ich mich so ausdrücken soll, besser und günstiger, als diese schroffen Bestimmungen, die als erste Willensmeinung nach der Zustimmung der Überführung der Kriegsgefangenen nach Deutschland herausgegeben sind. Ich habe jedenfalls zahlreiche Berichte darüber gesehen, daß im Arbeitseinsatz, besonders in der Landwirtschaft, aber auch in der Kriegswirtschaft, besonders bei den allgemeinen Einrichtungen der Kriegswirtschaft wie Reichsbahn, Straßenbau und ähnlichem, die Verhältnisse in der Praxis wesentlich besser gewesen sind, als es nach diesen harten Worten, die hier in dieser Vorschrift stehen, er scheinen muß.


DR. NELTE: Herr Präsident, ich darf bei dieser Gelegenheit auf das Dokument 6 in dem Dokumentenbuch hinweisen.


VORSITZENDER: Welches Dokumentenbuch meinen Sie?


DR. NELTE: Dokument 6, in dem Dokumentenbuch 1, in meinem Dokumentenbuch 6: Die Einsatzbedingungen der Ostarbeiter sowie der sowjetrussischen Kriegsgefangenen. In diesem Buch habe ich nur diejenigen Teile dieses Buches, das ich Ihnen überreiche, aufgenommen, die sich mit den Einsatzbedingungen der sowjetrussischen Kriegsgefangenen befassen. Ich überreiche dieses Buch als Beweisstück K-6 und bitte es als Beweismittel anzunehmen, ohne daß ich hieraus zu verlesen brauche. Es ist in den Bestimmungen genau auf diejenigen Punkte hingewiesen, die Anordnungen enthalten, welche ergeben, daß in der späteren Zeit die sowjetrussischen Kriegsgefangenen nach dem Willen des OKW als Verordnungsinstanz gemäß der Genfer Konvention behandelt werden sollen.

Kann ich fortfahren?


VORSITZENDER: Ja, bitte. Sie wollen nicht daraus verlesen?


DR. NELTE: Nein, das möchte ich nicht.


[Zum Zeugen gewandt:]


Ich bitte Sie mir darzulegen, welche Beziehungen zwischen der Polizei beziehungsweise Himmler einerseits und dem Kriegsgefangenenwesen andererseits bestanden?

[626] KEITEL: Ich darf vorausschicken, daß ein ununterbrochener und ständiger Reibungspunkt zwischen Himmler und den entsprechenden Polizeidienststellen und den Wehrmachtsdienststellen auf diesem Gebiete bestanden hat und niemals zur Ruhe gekommen ist. Von Anfang an war erkennbar, daß zumindest Himmler selbst die Führung bei sich haben wollte und keinen Versuch unterlassen hat, Einnuß auf das Kriegsgefangenenwesen in irgendeiner Form zu gewinnen. Die natürlichen Umstände der Fluchten, der Wiederergreifung durch die polizeilichen Nachsuchungen und Fahndungen, die Beanstandungen über die mangelhafte Bewachung, die mangelhaften Sicherungsmaßnahmen in den Lagern, das mangelhafte Bewachungspersonal und seine Unzulänglichkeit, alle diese Dinge waren geeignet und wurden von ihm ausgenutzt bei Hitler, in dieser Frage fortgesetzt der Wehrmacht, ich möchte sagen, in den Rücken zu fallen, sie aller möglichen Unzulänglichkeiten und Mängel in ihrer Tätigkeit zu verdächtigen. Die Folge war, daß eigentlich auch laufend Eingriffe, deren Ursachen mir meistens nicht erkennbar waren, von Seiten Hitlers erfolgten. Er machte sich die Vorwürfe zu eigen und griff in die Dinge unentwegt ein, so daß auf diesem Wege die Dienststellen der Wehrmacht in ständiger, ich möchte sagen, Unruhe gehalten wurden. Ich war dann gezwungen, in dieser Beziehung, da ich es selbst nicht prüfen konnte, Anweisungen an meine Dienststellen im OKW weiterzugeben.

DR. NELTE: Was war denn die tiefere Ursache und der eigentliche Zweck, den Himmler damit erreichen wollte?


KEITEL: Er wollte nicht nur Einfluß gewinnen, sondern er wollte nach Möglichkeit das Kriegsgefangenenwesen, als Polizeichef in Deutschland, an sich ziehen und damit selbst in diesen Dingen regieren können, wenn ich mich so ausdrücken darf.


DR. NELTE: Spielte in dieser Frage nicht auch die Gewinnung von Arbeitskräften eine Rolle?


KEITEL: Das wurde in späterer Zeit schon erkennbar. Ich glaube, daß ich darauf später noch zurückkommen muß. Ich kann das hier vorausschicken, daß jedenfalls eine Beobachtung untrüglich war, daß nach solchen Fahndungen, die in bestimmten Zeitintervallen in Deutschland überhaupt stattfanden, nach flüchtigen Personen offensichtlich die Mehrzahl dieser Kriegsgefangenen in die Lager, aus denen sie entflohen waren, nicht zurückgekehrt sind, also offenbar dann doch von den Polizeistellen zurückgehalten und wohl für den Arbeitseinsatz im eigenen Bereich Himmlers verwendet wurden. Das Flüchtlingswesen steigerte sich natürlich von Jahr zu Jahr und wurde immer umfangreicher. Dafür liegen ja ganz plausible Gründe vor.


[627] DR. NELTE: Das Kriegsgefangenenwesen hängt ja mit der Frage des Arbeitsproblems ziemlich eng zusammen. Welche Stelle war nun für den Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen zuständig?


KEITEL: Die bearbeitenden Stellen waren die Landesarbeitsämter in der sogenannten Reichs-Arbeitseinsatz-Verwaltung, ursprünglich in den Händen des Reichsarbeitsministers, später in den Händen des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, und in der Praxis spielte sich das so ab, daß die Landesarbeitsämter bei den Wehrkreiskommandos, denen ja die Lager unterstanden, Arbeitskräfte anforderten und ihnen Arbeitskräfte zugeteilt wurden, sofern das auf Grund der allgemeinen Richtlinien zulässig war.


DR. NELTE: Was hatte das OKW mit dem Problem Arbeitseinsatz zu tun?


KEITEL: Im großen an sich natürlich die Überwachung, daß der Arbeitseinsatz nach den generellen grundsätzlichen Anweisungen erfolgte, wobei es natürlich nicht möglich war, auch der Inspekteur nicht in der Lage war, jeden einzelnen Arbeitseinsatz zu kontrollieren; dafür waren ja auch die Wehrkreisbefehlshaber und ihre Generale für das Kriegsgefangenenwesen verantwortlich und die geeigneten Persönlichkeiten. Der eigentliche, ich möchte sagen, Kampf um Arbeitskräfte aus dem Kriegsgefangenenbereich setzte etwa im Jahre 1942 ein. Bis dahin war wohl der Hauptträger von Arbeitseinsatz und Arbeitskräften die Landwirtschaft, die Reichsbahn und eine Reihe von allgemeinen Institutionen; aber nicht die Industrie und insbesondere nicht für die sowjetischen Kriegsgefangenen, die ja im großen und ganzen aus der Landbevölkerung stammten.


DR. NELTE: Was war die eigentliche Ursache dieses Bedarfs?


KEITEL: Im Winter 1941/1942 entstand das Problem, die Soldaten, die insbesondere auf dem östlichen Kriegsschauplatz ausgefallen waren, zu ersetzen. Ein großer Bedarf war zu decken an einsatzfähigen Soldaten für die Front und für die Truppe. In Zahlen ausgedrückt sind sie mir gegenwärtig: Das Heer allein hatte einen jährlichen Anspruch auf zwei bis zweieinhalb Millionen Ersatz. Wenn man hiervon etwa eine Million aus der normalen Rekrutierung des Rekrutenjahrgangs und eine halbe Million rund als Ersatz aus den Wiedergenesenden, also ausgeheilten Verwundeten und Kranken entnimmt, so blieben rund anderthalb Millionen, die alljährlich ersetzt werden mußten. Diese konnten aus der Kriegswirtschaft herausgezogen werden und dem Wehrdienst zugeführt werden. Aus dieser Tatsache ergab sich die enge Wechselwirkung zwischen der Aushebung dieser Männer aus der Kriegswirtschaft und dem Ersatz dieser Männer durch neue Arbeitskräfte. Arbeitskräfte, die auf der [628] einen Seite gedeckt werden sollten aus Kriegsgefangenen, auf der anderen Seite aus der Tätigkeit des Generalbevollmächtigten Sauckel, Arbeitskräfte zu beschaffen. Diese Wechselwirkungen brachten auch mich, da ich das Ersatzwesen für die gesamte Wehrmacht, Heer, Luftwaffe, Marine unter mir hatte, also die Rekrutierung, ständig in diese Dinge hinein und war auch der Anlaß, daß ich bei Erörterungen, die der Führer mit Sauckel abhielt, in Bezug auf Soldatenersatz, und Beschaffung der Ersatzkräfte anwesend war.


DR. NELTE: Was können Sie mir über den Einsatz der Kriegsgefangenen in der Industrie und der Rüstungsindustrie sagen?


KEITEL: Wir haben in der Zeit wohl bis 1942 keine Kriegsgefangenen in industriellen Betrieben, die auch nur mittelbar der Rüstung dienten, verwendet, und zwar auf Grund eines ausdrücklichen Verbotes von Hitler, das allerdings von ihm begründet wurde, er befürchte, daß Sabotage an Maschinen, Produktionsmitteln und so weiter vorgenommen werden würden. Derartige Dinge hielt er für naheliegend und gefährlich. Erst als die Not zwang, jede Arbeitskraft in den heimischen Produktionsprozeß in irgendeiner Form einzugliedern, wurde dieser Grundsatz aufgegeben und ist nicht mehr erörtert worden. Es sind dann selbstverständlich auch Kriegsgefangene in die allgemeine Kriegsproduktion hineingekommen, wobei nach meiner Auffassung und nach den grundlegenden Anordnungen, die in dieser Zeit von mir aus ergingen, also OKW, der Einsatz in Rüstungsbetrieben verboten war, das heißt Kriegsgefangene in ausgesprochene Rüstungsbetriebe einzusetzen, nämlich in solche, die Kriegsgerät, Waffen und Munition herstellten.

Ich muß allerdings, vielleicht der Vollständigkeit halber, hinzufügen, daß zu einem späteren Zeitpunkt ein Führerbefehl auch hier weitere Lockerungen der Beschränkungen, die bis dahin bestanden haben, angeordnet hat. Ich glaube, es ist ja auch hier schon von der Anklagebehörde erwähnt worden, daß Minister Speer von soundsoviel Tausenden Kriegsgefangenen gesprochen haben soll, die in der Kriegswirtschaft beschäftigt waren. Ich darf aber auch bemerken, daß in Rüstungsbetrieben viele Arbeiten zu verrichten waren, die nichts mit der eigentlichen Produktion von Waffen und Munition zu tun hatten.


DR. NELTE: Die Anklagebehörde hat mehrfach darauf hingewiesen, daß sich Kriegsgefangene in Gewahrsam, der Polizei, und sogar in Konzentrationslagern befunden haben. Können Sie hierfür eine Erklärung geben?


KEITEL: Für mich erklärt sich dieser Umstand dadurch, daß ja die eingangs heute schon erörterten Aussonderungen von Kriegsgefangenen in den Lagern erfolgt sind, ferner, was auch aus [629] Dokumenten bekannt ist, daß Kriegsgefangene, denen gegenüber die Disziplinarbefugnis der Kommandeure kein ausreichendes Mittel mehr darstellte, ausgesondert und der Geheimen Staatspolizei übergeben wurden; und schließlich habe ich bereits das Gebiet der Geflüchteten und Wiederergriffenen dargestellt, von denen eine erhebliche Zahl, wenn nicht die Mehrzahl, nicht in ihre Lager zurückkehrten. Vom OKW beziehungsweise dem Chef des Kriegsgefangenenwesens sind mir in dieser Richtung, der Übergabe in die KZ, Befehle nicht bekannt und sind auch niemals gegeben worden. Aber der Tatbestand ist ja hier auf verschiedenen Wegen durch Zeugen und Dokumente belegt worden, daß der Weg über die Überweisung an die Polizei in vielen Fällen in den KZ-Lagern geendet hat. Das ist meine Erklärung.


DR. NELTE: Die Französische Anklagebehörde hat ein Dokument vorgelegt, 1650-PS. Es ist dies ein Befehl, ich sage ein angeblicher Befehl des OKW, der die Überstellung entflohener, nicht arbeitender Kriegsgefangener an den SD anordnete. Nach dem, was Sie eben gesagt haben, werden Sie hierfür eine Erklärung geben müssen. Ich gebe Ihnen außerdem das Dokument 1514-PS, ein Befehl des Wehrkreiskommandos VI, aus welchem Sie die Vorgänge ersehen können, welche das OKW im Zusammenhang mit der Überstellung von Kriegsgefangenen an die Geheime Staatspolizei anwendete.


KEITEL: Ich möchte mich zunächst zu dem Dokument 1650-PS äußern. Zunächst muß ich erklären, daß ich diesen Befehl nicht gekannt habe, daß er mir niemals in die Hände gekommen ist, und daß es mir auch bisher nicht möglich war, aufzuklären, wie er zustande gekommen ist.


DR. NELTE: Wollen Sie nicht bitte zuerst sagen, daß das Dokument als solches kein Dokument des Oberkommandos der Wehrmacht ist?


KEITEL: Ich komme darauf.


DR. NELTE: Bitte, damit müssen Sie beginnen, um es klarzustellen.


KEITEL: Das Dokument beginnt als ein Schriftstück, das bei einer Polizeidienststelle beschlagnahmt wurde, mit den Worten: »Das OKW hat folgendes angeordnet:« – es kommen dann 1, 2, 3 Ziffern, es fährt dann fort: »Hierzu befehle ich«, das heißt der Oberste Polizeichef des Reichssicherheitshauptamtes, unterschrieben mit Müller, nicht etwa mit Kaltenbrunner, sondern mit Müller. Ich habe bestimmt diesen Befehl OKW 1 bis 3 nicht unterschrieben, nicht gesehen; darüber besteht kein Zweifel. Schon allein aus der Tatsache, daß dort von technischen Ausdrücken »Stufe 3 b« und [630] ähnlichem die Rede ist – das sind mir unbekannte Polizeibegriffe –, muß ich feststellen, daß ich mir im Zweifel darüber bin, wie dieses Dokument zustande gekommen ist. Ich kann es bisher nicht aufklären. Es gibt Vermutungen, Möglichkeiten, ich möchte sie kurz erwähnen, weil ich mir darüber sehr viel Gedanken gemacht habe:

Erstens: Ich glaube nicht, daß eine Dienststelle des OKW, also der Chef des Kriegsgefangenenwesens oder der Chef des Allgemeinen Wehrmachtsamtes, diesen Befehl selbständig ohne Anweisung herausgegeben hätte, das halte ich für ausgeschlossen, da er der Gesamttendenz auf das schärfste widersprach. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals selbst eine entsprechende Anweisung von Hitler erhalten oder weitergegeben zu haben und schließlich, wenn es auch nach einer Ausrede aussieht, so gab es natürlich Nebenwege, deren sich der Führer ohne Rücksicht auf Zuständigkeiten bediente. Wenn ich eine Erklärung finden soll, so gab es den Adjutantenweg, der vielleicht etwas Derartiges weitergegeben hat, ohne daß ich das erfahren habe. Ich betone, daß das nur eine Vermutung von mir ist und keine Entlastung für mich sein kann.

Nur eines möchte ich bemerken, nämlich, der Tatbestand, daß das Dokument 1514-PS ein erbeuteter Befehl vom Wehrkreiskommando VI, Münster, ist, datiert vom 27. Juli 1944, also vom Hochsommer 1944 ist, und beschäftigt sich mit den entflohenen Kriegsgefangenen, was mit ihnen zu geschehen habe, und es heißt da: »Bezug« und führt sieben verschiedene Befehle aus dem Jahre 1942 bis Anfang Juli 1944 auf; und dieser Befehl, der nach der Tatsache, daß es sich hier um die Frage entflohener Kriegsgefangener handelt, in dieses Dokument hineingehört hätte, wenn die militärische Dienststelle des Wehrkreises VI einen solchen OKW-Befehl in Händen gehabt hätte, ist immerhin bemerkenswert und hat mich zu der Auffassung geführt, daß ein schriftlicher Befehl bestimmt nicht vorlag, und daß die militärische Dienststelle einen solchen Befehl überhaupt nicht erhalten hat. Mehr kann Ich zur Entlastung nicht sagen, da ich es nicht beweisen kann.


DR. NELTE: Es ist Ihnen bekannt, daß die Anklage einen Befehl vorgelegt hat, wonach sowjetrussische Kriegsgefangene ein durch Ritzen der Haut verursachtes Kennzeichen erhalten sollten. Wollen Sie sich zu diesem Sachverhalt bitte äußern?


KEITEL: Der Vorgang war folgender: Im Sommer 1942 hatte der Führer sich den Generalquartiermeister des Heeres zu einem mehrstündigen Vortrag ins Hauptquartier bestellt und sich von ihm die Verhältnisse in den rückwärtigen Heeresgebieten des Ostens eingehend berichten lassen. Ich wurde plötzlich hinzugezogen und es wird mir gesagt, der Generalquartiermeister berichte, daß zu vielen Tausenden allmonatlich die Kriegsgefangenen in Rußland flüchteten, in der Bevölkerung untertauchten, sofort die Uniform[631] ablegten, Zivilkleider sich besorgten und demnach nicht mehr zu identifizieren seien. Ich bekam den Befehl, zu prüfen, eine eventuelle Kenntlichmachung vorzubereiten, die auch nach Anlegung der Zivilkleidung die Tatsache erkennen ließ, daß es sich um Kriegsgefangene handelte. Ich habe dann eine Anweisung nach Berlin gegeben, es solle ein solcher Befehl vorbereitet werden, es sollte aber zunächst geprüft werden von der völkerrechtlichen Abteilung des Auswärtigen Amtes, ob man einen solchen Befehl über haupt geben könne, und ob es technisch überhaupt durchführbar sei.

Ich möchte sagen, daß man hier an eine Tätowierung dachte, wie das in Deutschland auch von vielen Bauarbeitern und Seeleuten getragen wird. Aber ich habe nichts mehr davon erfahren, ich traf eines Tages im Hauptquartier den Außenminister und sprach ihn auf diese Frage an. Außenminister von Ribbentrop kannte die Anfrage an das Auswärtige Amt und er hielt diese Maßnahme für außerordentlich bedenklich. Das war die erste Mitteilung, die ich auf diesem Gebiet erhielt. Ich habe sofort dann Anweisung gegeben, ob ich selbst oder durch den Adjutanten, der diese Frage behandelte, weiß ich nicht mehr, daß der Befehl nicht hinausgehen solle. Vorgelegt wurde mir weder ein Entwurf, noch habe ich etwas unterschrieben. Ich habe dann jedenfalls eindeutig angeordnet: »Der Befehl geht auf gar keinen Fall hinaus«; nähere Mitteilungen sind mir damals nicht zugegangen, ich habe auch nichts mehr davon gehört; ich war überzeugt, daß der Befehl nicht hinausgegangen sei.

In dieser Form habe ich auch in der Voruntersuchung meine Aussagen gemacht; mir ist aber jetzt bekannt geworden, und zwar durch meinen Verteidiger, daß die Sekretärin des Chefs für Kriegsgefangenenwesen aus eigener Initiative sich erboten hat, Zeugnis abzulegen, daß der Befehl zurückgezogen wurde und nicht hinausgehen sollte. Sie habe es persönlich entgegengenommen, allerdings habe sie mit ihrer Zeugenbekundung gesagt, daß das erst geschehen sei einige Tage, nachdem der Befehl schon ausgegeben gewesen sei, und nur so sei es erklärlich, daß bei der Polizeistelle dieser Befehl als nicht rückgängig gemacht vorgefunden worden ist.


DR. NELTE: Herr Präsident, ich werde diese eidesstattliche Versicherung der Zeugin, die inzwischen eingegangen ist, zu gegebener Zeit vorlegen.


[Zum Zeugen gewandt:]


Wir kommen jetzt zu dem Fall Sagan. Die Anklagebehörde hat Ihnen ursprünglich zur Last gelegt, daß Sie den Befehl der Tötung von fünfzig Royal Air Force-Offizieren gegeben haben sollten, die aus dem Stalag Luft III in Sagan geflüchtet waren.

Es ist mir nicht mehr klar, ob auch heute noch die Anklagebehörde diesen schweren Vorwurf aufrechterhalten will, nachdem [632] der Reichsmarschall Göring und der Zeuge Westhoff außerhalb des Gerichts vernommen worden sind. Ich habe das Vernehmungsprotokoll Westhoff von der Anklagebehörde erhalten und es Ihnen auch vorgelegt, und ich möchte Sie nur bitten, mir in Ergänzung dessen, was der Zeuge Westhoff zunächst im Vorverfahren und demnächst hier sagen wird, das au bekunden, was Sie selbst über diesen außerordentlich schwerwiegenden Vorfall wissen. Bitte.

KEITEL: Der Vorgang war der, daß ich eines Morgens die Meldung bekam über die Flucht; zugleich auch die Mitteilung, daß etwa fünfzehn von den flüchtigen Offizieren in der Umgebung des Lagers wieder ergriffen seien. Beim Mittags-Lagevortrag in Berchtesgaden oder vielmehr auf dem Berghof hatte ich die Absicht, diesen an sich sehr unangenehmen, weil in kürzester Zeit dritten Vorfall einer solchen Massenflucht nicht zu melden in der Hoffnung, daß im Laufe des Tages – es waren erst zehn, zwölf Stunden her – der größte Teil wieder eingefangen sein würde, und damit die Angelegenheit vielleicht eine glückliche Lösung finden könnte.

Im Laufe des Lagevortrags erschien Himmler; es war wohl gegen Ende des Lagevortrags, als er in meiner Gegenwart diesen Sachverhalt meldete, da er wie üblich die Großfahndung bereits eingesetzt hatte zur Suche nach den Flüchtigen. Es kam dann zu einer ungeheuer erregten Erörterung, zu schwerem Zusammenstoß zwischen Hitler und mir, da er mir sofort die unerhörtesten Vorwürfe machte wegen dieses Vorfalls.

In dem Bericht von Westhoff sind die Dinge zum Teil nicht korrekt wiedergegeben. Deswegen führe ich dieses noch näher aus. Bei diesem Zusammenstoß erklärte der Führer in größter Erregung: »Diese Kriegsgefangenen werden nicht an die Wehrmacht zurückgegeben; sie bleiben bei der Polizei!« Ich erhob schärfsten Einspruch, da es ein unmögliches Verfahren sei. Die erregte Situation führte dazu, daß Hitler erneut und betont erklärt: »Ich befehle, die bleiben bei Ihnen, Himmler. Die geben Sie nicht heraus!« Ich kämpfte nunmehr um die Zurückgekehrten, die nach dem ersten Befehl aus dem Lager wieder heraus der Polizei übergeben werden sollten. Dies setzte ich durch. Mehr habe ich nicht durchgesetzt. Nach diesem außerordentlich ernsten Auftritt verließ...


DR. NELTE: Sagen Sie mir doch, wer war bei diesem Auftritt zugegen?


KEITEL: Zugegen war nach meiner Erinnerung bestimmt, wenigstens teilweise, der Generaloberst Jodl, der einen Teil dieser Dinge mit angehört hat, wenn auch nicht jedes Wort, da er zunächst im Nebenraum war. Jedenfalls begaben sich Jodl und ich gemeinsam zurück ins Quartier, und wir haben den Fall noch besprochen, die äußerst unangenehmen Konsequenzen, die dieser ganze Vorfall [633] hatte, und ich habe dann nach Rückkehr in das Quartier sofort den General von Graevenitz zu mir bestellt, der sich am nächsten Morgen bei mir melden sollte wegen dieser Vorfälle.

Ich muß hier klarstellen, daß der Reichsmarschall Göring nicht anwesend war, und wenn ich in meinem Verhör hier etwas unsicher war in dieser Behauptung, so deswegen, weil mir gesagt wurde, es sei durch Zeugen bestätigt, daß Göring anwesend gewesen sei. Ich habe das im vorhinein als nicht wahrscheinlich und zweifelhaft gehalten. Es ist infolgedessen auch nicht zutreffend, daß ich von Göring irgendwelche Vorwürfe damals bekommen hätte. Es hat auch keine Besprechung in Berlin stattgefunden. Es sind Irrtümer, die, ich glaube, damit zu erklären sind, daß bei der Meldung Graevenitz, den der General Westhoff mitgebracht hatte, und der mich damals zum erstenmal sah, eine Szene erlebt hat, wie sie nicht leicht im militärischen Leben in der Härte vorkommt – wie ich da gesprochen habe wegen dieses Vorfalls!

Soll ich über die Graevenitz-Besprechung noch etwas sagen?


DR. NELTE: Mich interessiert hierbei nur, ob Sie den Befehl, der von Hitler gegeben wurde, in der Weise gegenüber Graevenitz zum Ausdruck gebracht haben, daß dieser und Westhoff, der dabei war, der Meinung sein konnten, Sie hätten einen Befehl zum Erschießen der flüchtigen Offiziere gegeben.


KEITEL: Nach dem Protokoll Westhoff, das ich gesehen habe, kann ich das wie folgt, glaube ich, aufklären: Ich habe zunächst die schwersten Vorwürfe erhoben, ich war persönlich ungeheuer erregt, denn ich muß sagen, daß selbst der Befehl, daß diese Kriegsgefangenen in Gewahrsam der Polizei verblieben, mich bezüglich ihres Schicksals mit Sorge erfüllte. Ich muß es aufrichtig sagen, denn diese Möglichkeit von Erschießungen auf der Flucht war natürlich in meinem Unterbewußtsein gegeben. Ich habe damals sicherlich in äußerster Erregung gesprochen und bestimmt nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt und habe sicher auch die Worte Hitlers wiederholt: »Hier wird ein Exempel statuiert«, weil ich fürchtete, es kämen auch noch schwere Eingriffe in das Kriegsgefangenenwesen, auch sonst noch in anderer Form als dieser Einzelfall der Nichtrückgabe an die Wehrmacht, und nachdem ich das Protokoll gelesen habe, die Behauptung von Graevenitz oder vielmehr von Westhoff, ich hätte gesagt: »Die werden erschossen, die meisten sind wohl schon tot«. Ähnliche Worte werde ich auch gesprochen haben wie: »Sie werden sehen, was das für ein Unglück bedeutet; womöglich sind schon soundso viele erschossen.«

Von der Tatsache, daß schon Erschießungen erfolgt waren, wußte ich nichts, und ich muß hier bekennen, daß in meiner Gegenwart Hitler von irgendeinem Erschießen kein Wort gesagt hat. Er hat nur gesagt zu Himmler: »Die behalten Sie, die geben Sie nicht [634] wie der raus!« Die Tatsache, daß Erschießungen stattgefunden haben, habe ich erst mehrere Tage später erfahren. Ich habe aus den übrigen Akten darüber auch den Regierungsbericht der Britischen Regierung gesehen, da ja überhaupt erst am 31. – die Flucht war am 25. – am 31. die ersten Erschießungen stattgefunden haben.

Insofern ist auch Westhoff in einem Irrtum, wenn er glaubt, damals sei schon ein Befehl ergangen, in dem Lager bekanntzumachen, Namenslisten aufzuhängen, daß die und die Leute dabei erschossen worden seien oder nicht zurückkehrten. Dieser Befehl ist erst, später gekommen; daran erinnere ich mich, und zwar an folgenden Vorgang:

An einem der nächsten Tage, um den 31. herum wird es gewesen sein, sagte mir einer der Adjutanten vor der Lagebesprechung, es sei eine Meldung da, daß Erschießungen stattgefunden hätten. Ich bat um eine Aussprache unter vier Augen mit Hitler und sagte ihm, ich hätte die Meldung erfahren, es seien Erschießungen vorgekommen durch die Polizei, und er sagte nur darauf: das habe er auch bekommen; es sei ja seine Meldung. Ich äußerte mich in höchster Entrüstung darüber. Damals sagte er, es sei im Lager bekanntzugeben, zur Abschreckung. Erst daraufhin ist diese Bekanntmachung im Lager dann angeordnet worden. Jedenfalls sind die zum Teil von Westhoff bekundeten beeidigten Erinnerungen in seiner Vorstellung nicht zutreffend, wenn auch Ausdrücke, wie sie von ihm wiedergegeben und von mir hier erklärt worden sind, gefallen sein werden. Darüber werden wir ihn noch selber hören.


DR. NELTE: Hat Ihnen Hitler zu irgendeiner Zeit gesagt, daß er die Erschießung angeordnet hatte?


KEITEL: Nein, das hat er nie gesagt, das habe ich nie von ihm erfahren, sondern ich habe es erst wesentlich später, meines Wissens durch Herrn Reichsmarschall Göring, erfahren, mit dem natürlich dieser ganze Vorfall noch Gegenstand von Unterhaltungen und Aussprachen gewesen ist, zumal es sich ja um ein Luftwaffenlager handelte.


DR. NELTE: Für Sie abschließend möchte ich jetzt sagen, Sie erklären also hier unter Ihrem Eid, daß Sie weder selbst einen solchen Befehl zur Tötung der Royal Air Force-Offiziere je gegeben haben, noch auch, daß Sie einen solchen Befehl erhielten und weitergeleitet haben, noch daß Sie selbst erfahren haben, wer diesen Befehl gegeben hat.


KEITEL: Das ist richtig, ich habe weder den Befehl erhalten, noch habe ich ihn erfahren, noch gewußt, noch habe ich einen solchen Befehl weitergegeben. Das kann ich hiermit unter meinem Eid erneut bekunden.


[635] DR. NELTE: Wir kommen nun zu den Fragen der Deportationen. Unter Deportationen der Arbeitskräfte, wie Sie das hier gehört haben, versteht die Anklagebehörde die Verschleppung dienstfähiger Bürger besetzter Länder nach Deutschland oder nach anderen besetzten Gebieten, um sie zur »Sklavenarbeit« in Verteidigungswerken oder für andere Arbeit im deutschen Kriegseinsatz und damit verbundene Aufgaben zu verwenden. Das ist die Anklage, die ich Ihnen vorgelesen habe.

Die Anklagebehörde hat nun mit diesem Tatbestand Ihren Namen wiederholt in Verbindung gebracht, und zwar in dem Sinn, daß Sie für die Beschaffung von Arbeitskräften in der deutschen Kriegswirtschaft mitgewirkt haben, das heißt das OKW. Sie wissen, daß an und für sich der Angeklagte Sauckel der Generalbevollmächtigte in diesem Sektor war. Ich möchte Sie nun fragen: Sind schon vor der Beauftragung des Generalbevollmächtigten Sauckel Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten nach Deutschland gekommen?


KEITEL: Nach meiner Kenntnis sind schon vorher aus den besetzten Gebieten, insbesondere also dem Westen, Belgien, Holland – von Holland weiß ich nicht, aber von Frankreich, Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen, so wie mir damals bekannt wurde, auf dem Wege freiwilliger Werbung. Ich glaube mich zu erinnern, daß mir mal Herr General von Stülpnagel, Militärbefehlshaber in Paris, in Berlin bei einem Zusammentreffen gesagt hat, daß sich bereits über 200000 Freiwillige gemeldet hätten. Zu welchem Zeitpunkt, das weiß ich nicht mehr.


DR. NELTE: War das OKW zuständigkeitsgemäß mit dieser Frage befaßt?


KEITEL: Nein, das OKW hatte damit gar nichts zu tun. Die Dinge vollzogen sich auf dem bekannten Wege Oberkommando des Heeres, Militärbefehlshaber in Frankreich und in Belgien-Nordfrankreich, mit den zuständigen zentralen Behörden des Reiches in der Heimat. Das OKW hat hiermit nie etwas zu tun gehabt.


DR. NELTE: Wie war es denn in den besetzten Gebieten mit Zivilverwaltung?


KEITEL: In den besetzten Gebieten mit Zivilverwaltung war ja die Wehrmacht überhaupt aus jeder verwaltungsmäßigen Exekutive ausgeschaltet, also in diesen Gebieten hatte die Wehrmacht und die Wehrmachtsdienststellen jedenfalls nichts damit zu tun. Lediglich in den Gebieten, die noch Operationsgebiet des Heeres waren, hatten ja die vollziehende Gewalt die militärischen Truppen, höchste Befehlshaber, Armee-Oberkommandeure und so weiter. Das OKW war auch hier nicht in den Dienstgang eingeschaltet.


DR. NELTE: Der Angeklagte Sauckel hatte ausweislich eines Vernehmungsprotokolles, das hier vorgelegt wurde, gesagt, daß es [636] Ihre beziehungsweise OKW-Sache gewesen sei, die Militärkommandanten der besetzten Gebiete anzuweisen und er, Sauckel selber, sei bei seinen Werbeaktionen zur Einhaltung der Quoten zu unterstützen. Was können Sie dazu sagen?


KEITEL: Diese Auffassung des Generalbevollmächtigten Sauckel findet ihre Erklärung offensichtlich darin, daß ihm weder der Zuständigkeitsbereich noch der Dienstweg in diesen Fragen im Bereich der Wehrmacht bekannt war und darin, daß er mich ja ein- oder zweimal bei solchen Besprechungen der Arbeiterbeschaffung als anwesend gesehen hat, und drittens, daß er auch gelegentlich bei mir war, wenn er allein Vortrag gehalten und seine Befehle erhalten hatte. Es war wohl auftragsgemäß, wie es Hitler zu tun pflegte: Gehen Sie zum Chef OKW, der wird das Weitere machen. Zu tun hatte das OKW nichts. Anzuordnen hatte das OKW nicht, wohl aber habe ich es übernommen, Sauckel gegenüber, dann das Oberkommando des Heeres beziehungsweise die sachbearbeitenden Stellen beim Generalquartiermeister zu informieren. Eigene Befehle oder Anweisungen an die Militärbefehlshaber oder sonstigen Dienststellen in den besetzten Gebieten habe ich niemals gegeben. Es gehörte nicht in den Bereich der Aufgaben des OKW.


DR. NELTE: Es ist hier ein Dokument vorgelegt worden, wonach die Generale Stapf und Nagel darin einig waren, Sie zu ersuchen, bei den Werbeaktionen im Osten Druck oder Zwang anzuwenden. So lautet die Behauptung der Anklage. Kennen Sie diesen Vorgang?


KEITEL: Er ist mir durch die Vorlage dieses Dokuments in Erinnerung gebracht und es war offensichtlich der Versuch von Stapf, der ein langjähriger Mitarbeiter bei mir früher im Heer gewesen war, über mich eine Unterstützung oder eine Hilfe des Führers herbeizuführen. Insofern war der Versuch hier offenbar gemacht worden von Stapf, der damals den Wirtschaftsstab Ost leitete, und der General Nagel war glaube ich noch dabei genannt, der eine Wirtschaftsinspektion im Osten leitete, meine Person in die Frage einzuschalten und, wie es darin hieß, in dem Dokument, es müsse von oben her noch ein Druck ausgeübt werden. Ich habe daraufhin überhaupt nichts veranlaßt, weil ich mit den Dingen nichts zu tun hatte.


DR. NELTE: Ich komme jetzt zu dem Kapitel der Plünderung von Kunstschätzen.

VORSITZENDER: Vielleicht machen wir jetzt Pause.


[Pause von 10 Minute]


DR. NELTE: Die Französische Anklagebehörde hat unter anderem auch gegen Sie den Vorwurf erhoben, daß Sie Anweisungen hinsichtlich der Sicherstellung und Beschlagnahmung von Kunstschätzen, Bibliotheken und dergleichen gegeben haben. Bestanden [637] vor dem Feldzug nach dem Westen oder Osten irgendwelche militärischen Befehle, Anweisungen, Richtlinien, wie Kunstwerke oder Büchereien in den eventuell besetzten Gebieten zu behandeln seien?

KEITEL: Nein, meines Wissens hat darüber gar nichts bestanden, auch bei dem sonst gründlichen Bedenken aller Dinge, die in einem Kriege auftreten können. Mir ist nichts bekannt, daß dafür irgendwelche vorsorglichen Anweisungen bestanden hätten.


DR. NELTE: Ich werde Ihnen drei Dokumente, die die Französische Anklagebehörde überreichte, überbringen, in welchen Sie in Verbindung mit dem Einsatzstab Rosenberg gebracht sind, von dem ja hier schon mehrfach die Rede war. Es sind dies die Dokumente 137-PS, 138-PS und 140-PS, gleichartige Schreiben des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht an den Oberbefehlshaber des Heeres in Frank reich und in den Niederlanden.


KEITEL: Die ersten beiden Dokumente 137-PS und 138-PS sind aus dem Hauptquartier, beziehungsweise von mir zum Teil selbst diktierte Schreiben an Dienststellen des Heeres, es heißt da: »An den Oberbefehlshaber des Heeres«, das andere Mal: »Oberbefehlshaber des Heeres für das besetzte Frankreich«, und »An den Wehrmachtsbefehlshaber in den Niederlanden«. Entstanden sind die Dinge teils durch Rückfragen der militärischen Dienststellen, die sich für verantwortlich hielten für die Bewachung oder Sicherung dessen, was in dem besetzten Gebiet sich befand, und von Dienststellen, die offenbar sammeln, sichten, registrieren und sonst irgendwie diese Kunstschätze, Bibliotheken und so weiter durchsuchen und beschlagnahmen wollten. In einem Falle bin ich, ich glaube vom Oberbefehlshaber des Heeres, der dagegen Protest erhob, angerufen worden, in anderen Fällen auch vom Reichsleiter Rosenberg. Der Führer gab mir die Direktive, ich sollte die militärischen Dienststellen anweisen, sich damit zufrieden zu geben und einverstanden zu erklären. Es handele sich um Anweisungen, die er selbst gegeben habe und die er billige. Rein formell kann man schon sehen, das ist nicht von einer Dienststelle des OKW, sondern mein Adjutant hat die Schriftsätze gezeichnet. Ich selbst habe diese diktiert auf Befehl des Führers und abgesandt. Viel leicht kamen diese Fragen gerade deshalb, weil ja dafür nichts vorgesehen und nichts angeordnet war. Was mit diesen Kunstschätzen und so weiter zu geschehen hatte, wußte ich nicht, habe mich jedoch selbstverständlich auf den Standpunkt gestellt, daß das sich um eine Sicherstellung handle. Von Transporten oder Beschlagnahme oder Enteignung ist nicht die Rede gewesen, die Frage ist auch damals nicht bei mir entstanden, sondern ich habe ganz kurz diese Anweisungen gegeben, und sonst habe ich mich um die Dinge nicht gekümmert. Ich habe sie für vorsorgliche Maßnahmen gehalten und hielt sie nicht für unberechtigt.


[638] DR. NELTE: Sie wollten sagen, zuständigkeitsmäßig hatte das OKW nichts damit zu tun?


KEITEL: Nein.


DR. NELTE: Es handelte sich also um Weitergabe von Briefen an die militärischen Stellen zur Bekanntgabe des Willens Hitlers, den Einsatzstab Rosenberg in seiner Aufgabe zu unterstützen?


KEITEL: Ja, das ist richtig.


DR. NELTE: In diesem Zusammenhang möchte ich eine persönliche Frage stellen. Haben Sie sich jemals aus dem Kunstbesitz der besetzten Länder, sei es aus öffentlichem oder privatem Besitz, etwas angeeignet, oder hat eine Stelle, welche es auch sei, Ihnen ein Kunstwerk zugewiesen?


KEITEL: Nein, ich habe niemals mit diesen Dingen zu tun gehabt.


DR. NELTE: Wir kommen nun zu der sogenannten wirtschaftlichen Ausbeutung der besetzten Gebiete. Es wird Ihnen hier im Zusammenhang mit Ihrer Stellung als Chef OKW zum Vorwurf gemacht, daß Sie an der wirtschaftlichen Ausnützung sowohl des besetzten Ostraumes als auch der westlich besetzten Gebiete mitgewirkt haben. Die Frage ist schon bei der Vernehmung des Reichsmarschalls Göring erörtert worden. Ich kann deshalb diesen Fragenkomplex verhältnismäßig kurz behandeln. Es bedarf aber auch Ihrerseits der Klarstellung, inwieweit das OKW und Sie überhaupt mit diesen Dingen in Berührung standen, denn Ihr Name sowohl das OKW als auch Sie persönlich, werden in diesem Zusammenhang genannt. Ferner das Wirtschaftsrüstungsamt, eine Abteilung des OKW, dessen General Thomas auch über diese Frage ein Werk vorbereitet hatte, das von der Anklage vorgelegt worden ist. Was können Sie zu dieser Frage sagen, wenn ich Ihnen die Urkunden 1157-PS und USSR-80 übergeben lasse.


KEITEL: 1157-PS behandelt den Plan Barbarossa-Oldenburg. Ich kann dazu ergänzend folgendes sagen: Das Wehrwirtschaftsamt, damals schon nicht mehr Wirtschafts- und Rüstungsamt, unter General Thomas, hat aus der heimatlichen im Reich befindlichen Wehrwirtschaftsorganisation, die bei allen Wehrkreiskommandos je eine Dienststelle hatte, für den Westfeldzug erstmalig und später nachher für den Feldzug Barbarossa im Osten organisatorisch gewisse Vorbereitungen dahin getroffen, daß den hohen Kommandostellen, Armee-Oberkommandos, Berater, etwas Fachpersonal für kriegswirtschaftliche und Versorgungsfragen und einige kleine Kommandos, genannt Feldwirtschaftskommandos, zugeteilt wurden.

Diese beim AOK in den Quartiermeisterstäben eingegliederten Personen hatten die Aufgabe, die in den besetzten oder eroberten Gebieten vorgefundenen Versorgungsmittel, Treibstoffe, Lebensmittel und sonstige für den Truppengebrauch sofort geeignete und [639] brauchbare Dinge zu erfassen, zu sichern oder ihre Sicherstellung zu bewirken und sie dann im Zusammenwirken mit dem Oberquartiermeister, der die Armee versorgte und einem Intendanten, der den Lebensmittelnachschub bewirkte, der kämpfenden Truppe zur Versorgung zur Verfügung zu stellen. Soweit im westlichen Raum, Frankreich und Belgien, gewisse Feststellungen auch in kriegswirtschaftlicher Hinsicht getroffen worden sind, wurden diese Unterlagen für spätere Zwecke zur Verwertung bewahrt. Der Osten nun, ich glaube das hat der Reichsmarschall Göring schon eingehend dargelegt, war auf völlig andere Basis gestellt, das heißt auf die Basis nicht nur der Truppenversorgung, sondern auch der Ausnützung dieses eroberten Gebietes. Es war eine hinziehende Organisation aufgebaut worden, die sich dann Wirtschaftsorganisation Ost-Oldenburg genannt hat oder bezeichnet wurde. Die Verbindung zum OKW ist dahin zu finden, aber auch zu begrenzen, daß die organisatorischen Vorbereitungen des Aufbaues der dafür notwendigen Fachorgane und Fachstellen zusammen mit dem Wirtschaftsministerium, Vierjahresplan und Ernährungsministerium vorbereitet wurden: Wirtschaftsorganisation Oldenburg. Eine befehlsgebende, anordnende und im Einsatz, das heißt in ihrer Tätigkeit beeinflussende Aufgabe hat das OKW und der Chef, also ich, nicht gehabt, sondern die Organisation war geschaffen und war nun zum Einsatz dem zur Verfügung gestellt, der den Auftrag hatte, dieses Instrument einzusetzen, ihm die Aufträge zu geben und mit ihm zu arbeiten. Wenn also der General Thomas in seinem, hier auch als Dokument vorliegenden großen Buch geschrieben hat über diese...


DR. NELTE: 2353-PS, Seite 386. Vielleicht verlesen Sie das, so können Sie zusammenfassend alles sagen.


KEITEL: Ja. Dies ist ein Auszug aus dem Buch des Generals Thomas, der die Tätigkeit seiner Person und der Organisation, die er seinerzeit im OKW geleitet hat, im einzelnen von der Entstehung bis tief in den Krieg hinein beschrieb. Er sagt hier:

»Die Tätigkeit des WiRü-Amtes während der Durchführung des Ostfeldzuges lag in der Hauptsache in der organisatorischen Steuerung des eingesetzten wehrwirtschaftlichen Apparates und in der Beratung des wirtschaftlichen Führungsstabes Ost.«

DR. NELTE: Sie brauchen nur den Absatz 4 zu lesen, um zusammenzufassen.

KEITEL: Für die wirtschaftliche Gesamtleitung des ganzen Ostraumes war der Wirtschaftsführungsstab Ost, der dem Vierjahresplan als Barbarossa-Oldenburg angehörte, verantwortlich, und zwar für die Fachweisungen die Staatssekretäre in diesem Wirtschaftsführungsstab, verantwortlich für die Organisation das Rüstungswirtschaftsamt Thomas, verantwortlich für die Durchführung aller [640] Maßnahmen der Wirtschaftsführungsstab Ost unter Leitung und Befehl des Reichsmarschalls.


DR. NELTE: Wie waren die Verhältnisse im Westen?


KEITEL: Ich schilderte kurz die kleine Fachberaterschaft, die im Westen und in den Oberkommandos in den Quartierabteilungen eingegliedert waren. Soweit es in einem späteren Stadium der besetzten Gebiete über die laufende Versorgung mit den täglichen Bedarfsmitteln, Treibstoff und so weiter hinausging, war durch eine besondere Bestimmung, die der Reichsmarschall schon genannt hat, Anfang Juni, wie ich schon sagte, die gesamtwirtschaftliche Leitung dem Vierjahresplan und den Bevollmächtigten für den Vierjahresplan übergeben. Das war ein Führererlaß.


DR. NELTE: Das ist in dem schon erwähnten Dokument 2353-PS, vom General Thomas, auf Seite 304, ausgeführt. Ich brauche es nicht zu verlesen und bitte den Gerichtshof, zu gestatten, daß ich, um weitere Fragen auf dem Gebiete zu vermeiden, das Affidavit des Angeklagten im Dokumentenbuch 2, für das Wirtschaftsrüstungsamt im OKW als Dokument K-11, als Beweisstück überreiche. Ich nehme an, daß die Anklagebehörde damit einverstanden ist.


VORSITZENDER: Welche Nummer hat es im Dokumentenbuch 2?


DR. NELTE: Nummer 4 in diesem Dokumentenbuch Nummer 2. Es ist Seite 27 und folgende in dem Ihnen überreichten Dokumentenbuch 2. Das Dokument ist datiert vom 29. März 1946.


VORSITZENDER: Welches Datum sagten Sie?

DR. NELTE: Der 29. März 1946. Ich glaube in dem Dokumentenbuch ist kein Datum. Ich habe das Original, das ich überreichen werde, hier.


VORSITZENDER: Wie wird es im Dokument selbst bezeichnet? Wir haben hier ein Dokument, das das Datum 4. März 1946 trägt: »Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt im Oberkommando der Wehrmacht«. Ist das richtig?


DR. NELTE: Das Dokument ist geschrieben worden am 4. März 1946, aber die eidesstattliche Versicherung ist am 29. März unter das Dokument gesetzt worden.


VORSITZENDER: Aber das scheint am 8. März gewesen zu sein. Handelt es sich um dieses Dokument?


DR. NELTE: »Das Wirtschaftsrüstungsamt im OKW«. Es ist möglich, Herr Präsident.


VORSITZENDER: Das ist hier.


DR. NELTE: Jedenfalls ist an der Identität kein Zweifel.


[Zum Zeugen gewandt:]


Ich komme nun zu einem Thema, das immer und immer wieder hier vorgetragen wird, und das deswegen so schwierig ist, weil so wenig Verständnis besteht dafür, daß diese Fragen gestellt werden.

[641] Aber Ihnen ist der Vorwurf gemacht worden, daß Sie in Ihrer amtlichen Stellung als Mitglied der Regierung, wie die Anklagebehörde behauptet, Kenntnis hatten oder Kenntnis gehabt haben müssen von den Dingen, die in den Konzentrationslagern vorgegangen sind, und deswegen muß ich diese Frage an Sie stellen, was Sie von der Existenz der Konzentrationslager wußten, wieviel Sie wußten, und in welcher Weise Sie damit in Berührung gekommen sind. Kannten Sie die Existenz, wußten Sie, daß Konzentrationslager existierten?

KEITEL: Ja, ich habe schon vor dem Krieg gewußt, daß es Konzentrationslager gab, wenn mir damals auch nur zwei Lager namentlich bekannt waren, und ich habe vermutet oder angenommen, daß es außer diesen beiden bekannten noch weitere Konzentrationslager gegeben hat oder gab. Weitere Einzelheiten habe ich über die Existenz nicht gehabt; über die Häftlinge in solchen Lagern war mir bekannt, sogenannte Gewohnheitsverbrecher und politische Gegner, das war wohl, wie Reichsmarschall Göring hier gesagt hat, die Basis der Institution selbst.

DR. NELTE: Haben Sie etwas darüber gehört, wie diese Leute in den Konzentrationslagern behandelt wurden?


KEITEL: Nein, Näheres habe ich darüber nicht gehört. Ich bin davon ausgegangen, daß es eine verschärfte oder zu verschärfenden Maßnahmen führende Haft war, unter gewissen Voraussetzungen. Über die Zustände, die hier gefunden wurden, insbesondere über Mißhandlung der Häftlinge, Folter und ähnliches, habe ich nichts gewußt.

Ich habe in zwei Fällen den Versuch gemacht, Persönlichkeiten aus dem Konzentrationslager, die sich darin befanden, herauszuhelfen. Das eine war im Zusammenhang mit Großadmiral Raeder, es handelte sich hier um den Pfarrer Niemöller. Ich habe damals mit Hilfe von Canaris auf Wunsch des Großadmirals Raeder hin den Versuch gemacht, Niemöller aus dem Konzentrationslager herauszuholen. Der Versuch ist mißglückt. Ich habe einen zweiten unternommen auf Wunsch der Familie meines Heimatdorfes, wo ein Bauer im Konzentrationslager war wegen politischer Angelegenheiten. In diesem Fall habe ich Glück gehabt, der Betreffende wurde entlassen. Das war im Herbst 1940. Ich habe ihn auch gesprochen, und auf die Frage, wie es denn da wäre, hat er eine nichtssagende Antwort gegeben. Es habe ihm nichts gefehlt. Näheres habe ich von ihm nicht erfahren. Sonst ist mir von solchen Fällen nichts bekannt.


DR. NELTE: Hatten Sie bei dieser Unterredung den Eindruck, daß dem Mann nichts geschehen sei?


[642] KEITEL: Zweifellos, der Mann machte nicht den Eindruck. Ich habe ihn nicht unmittelbar nach seiner Entlassung gesehen, erst später bei meiner Anwesenheit in meiner Heimat. Ich habe mit ihm dann gesprochen, weil er sich bei mir bedankte. Er hat aber nichts darüber gesagt, daß er eine schlechte Behandlung oder ähnliches erfahren habe.


DR. NELTE: Es ist hier gesagt worden, daß in solchen Lagern hier und da Besucher gewesen seien, die der Wehrmacht angehörten, auch Offiziere und höhere Offiziere. Wie erklären Sie sich das?


KEITEL: Ich bin davon überzeugt, daß das auf Grund von Einladungen seitens Himmlers geschehen ist; denn mir persönlich hat er eine solche Einladung auch einmal zugehen lassen, ich möchte mir von München aus das Lager Dachau ansehen, und er möchte mir das gern zeigen lassen. Ich weiß auch, daß Offiziere und Kommissionen in größerem und in kleinerem Rahmen in Konzentrationslagern zur Besichtigung herumgeführt worden sind. Ich glaube, ich brauche hier nicht zu erörtern, wie das gehandhabt wurde in Bezug auf das, was gezeigt wurde. Ich will noch ergänzend sagen, daß es nun nicht so war, daß man nicht mal hörte, im KZ-Lager wirst du enden, oder da passieren alle möglichen Dinge. Ich weiß aber, daß, wenn man mir gegenüber mit solchen Gerüchten oder Erörterungen kam, und man gesagt hätte, was wissen Sie, und woher, und von wem wissen Sie das, dann würde diese Person immer sagen, ich weiß es nicht, ich habe es selber nur gehört, so daß man sich wohl Gedanken gemacht haben kann, aber niemals eine Realität über diese Dinge, eine Realität darüber erfahren hat und erfahren konnte.


DR. NELTE: Sie haben auch gehört, daß an KZ-Häftlingen medizinische Versuche gemacht worden sind, und daß das auch in Verbindung mit hohen Stellen geschehen ist. Ich frage Sie, ob Sie davon persönlich oder vom Oberkommando der Wehrmacht Kenntnis erhalten haben?


KEITEL: Nein, weder dienstlich noch auch sonst habe ich von diesen Dingen, die hier ja eingehend erörtert worden sind, also die medizinischen Versuche an Häftlingen, je gehört; nichts davon.


DR. NELTE: Ich komme nun zu dem Schlußkomplex, der sich mit der Behauptung der Anklage befaßt, daß Sie beabsichtigt hätten, oder jedenfalls beteiligt gewesen seien an Bestrebungen, den General Weygand und den General Giraud zu ermorden. Sie wissen, daß der Zeuge Lahousen am 30. November 1945 als Zeuge hier ausgesagt hat, Admiral Canaris werde seit einiger Zeit – November-Dezember 1940 – von Ihnen bedrängt, den General Weygand, den französischen Generalstabschef, zu beseitigen. Lahousen sagte dann, Canaris habe seinen Abteilungsleitern das nach einer Rücksprache mit Ihnen eröffnet. Haben Sie mit Canaris über den Fall General Weygand gesprochen?


[643] KEITEL: Das dürfte sicher zutreffen, und zwar aus dem Grunde, weil damals Nachrichten vorlagen, daß der General Weygand sich in Nordafrika auf Reisen aufhalte, dort Truppenbesuche vornehme und eine Inspektion der nordafrikanischen Kolonialtruppen durchführe. Ich halte es für ganz selbstverständlich, daß ich dem Nachrichtenchef Canaris damals sagte, es müßte doch möglich sein, festzustellen, mit welchen Reiseabsichten und auf welchen Reisestationen sich General Weygand in Nordafrika aufhalte und ob das irgendwie eine militärische Bedeutung im Sinne der Aktivierung oder sonstiger Maßnahmen in Bezug auf die Kolonialtruppen in Nordafrika, also den Auftrag in der Richtung, nachrichtendienstlich das zu versuchen, das zu ermitteln, wird gegeben sein.


DR. NELTE: Ich entnehme, auch zu beobachten?


KEITEL: Jawohl.


DR. NELTE: Konnte das Amt Ausland/Abwehr seine Leute auch nach Nordafrika schicken?


KEITEL: Ich glaube schon, daß auch auf dem Wege über Spanisch-Marokko ein gewisser Kanal der nachrichtendienstlichen Verbindungen bestand, da Canaris, wie mir bekannt war, Verbindungen über Spanien nach Marokko hin nachrichtendienstlich pflegte.


DR. NELTE: Meine Frage zielt dahin, ob nach den Vereinbarungen mit Frankreich eine offizielle Möglichkeit bestand, nach Nordafrika zu gehen?


KEITEL: Selbstverständlich war das möglich; seit dem Waffenstillstand waren Abrüstungskommissionen genau wie in Frankreich auch in Nordafrika. Wir hatten dort mehrere Dienststellen des Heeres im Zusammenhang mit der Kontrolle der Bewaffnung der nordafrikanischen Truppen.


DR. NELTE: Welches Interesse hätte nun daran bestehen können, oder hätte überhaupt ein Interesse bestehen können, dem General Weygand übel zu wollen? War er ein ausgesprochener Gegner Deutschlands im Rahmen der erstrebten Politik oder aus welchem Grund?


KEITEL: Also für eine Beurteilung dieser Verhältnisse irgendwie geartete Auffassung, der General Weygand sei etwa – sagen wir mal – unbequem, lagen gar keine Anlässe vor. Durch die Ende September-Anfang Oktober desselben Jahres eingeleitete Verbindung zum Marschall Pétain und der bekannten Kollaborationspolitik, die wohl damals im Winter 1940/41 auf dem Höhepunkt ihrer Betätigung sich befand, war es absurd, daran zu denken, den Chef des Generalstabes des Marschalls beseitigen zu wollen, und es war auch gar nicht in der gesamtpolitischen Behandlung des Problems Nordafrika gelegen. Wir haben eine große Zahl von Offizieren, Berufssoldaten der französischen Kolonialarmee im Winter 1940/41 aus der [644] Kriegsgefangenschaft der französischen Heeresleitung zur Verwendung im Kolonialdienst freigegeben. Es waren darunter auch Generale – und wie ich mich erinnere, insbesondere General Juin, der nach unserem damaligen Wissen jahrelang in Nordafrika Chef des Generalstabes gewesen war. Dieser wurde auf meinen Vorschlag damals von Hitler dem Marschall zur Verfügung gestellt, offensichtlich auch zur Verwendung im kolonialen Dienst. Also es lag auch nicht das geringste Motiv vor, dem General Weygand übel zu wollen oder an so etwas zu denken.


DR. NELTE: Ist es richtig, daß sogar Besprechungen mit dem französischen Generalstab und Laval über gemeinsame Operationen in Afrika und Verstärkung von Westafrika stattgefunden haben?


KEITEL: Jawohl, es müßte unter den Dokumenten der Französischen Waffenstillstandsdelegation eine große Zahl von Dokumenten sein, in denen alle möglichen Zugeständnisse für Nordafrika und insbesondere auch für Mittel- und Westafrika erbeten wurden, im Hinblick auf die Tatsache, daß schon im Winter 1940/41 in Französisch-Zentralafrika Aufstände entstanden, gegen die die Französische Regierung Maßnahmen treffen wollte. Und es hat damals, wohl im Frühling 1941, in Paris eine mehrtägige Besprechung mit dem französischen Generalstab stattgefunden zur Vorbereitung von Unternehmungen, an denen sich die Deutsche Wehrmacht, die ja schon in Tripolis mit Truppen stand, im italienischen Bereich, zu beteiligen gedachte.


DR. NELTE: Also, es ist zunächst kein Motiv zu erkennen?


KEITEL: Nein.


DR. NELTE: Aber es muß doch in der Unterredung mit Canaris irgend etwas besprochen worden sein, was dann zu dem Mißverständnis führen konnte. Können Sie mir irgend etwas sagen, was dieses Mißverständnis herbeiführen konnte?


KEITEL: Das kann nach den sehr eingehenden Darstellungen von Lahousen hier beim Verhör sich nur darauf beziehen, daß bei einem späteren Vortrag ich nur gefragt habe: Wie steht es-so äußerte sich Lahousen – mit Weygand? Und daß daraus vielleicht der General Lahousen den Schluß gezogen hat, daß irgendwie in dem Sinne, wie er es darstellte – er sagte immer nur »dem Sinne nach« – beseitigen und auf die Frage, was das ist – »töten« sagte er dann; also nur auf diese Dinge ist es zurückzuführen, oder möglicherweise zurückzuführen. Ich muß bemerken, daß Canaris oft bei mir allein war, häufig seine Abteilungsleiter auch mitbrachte und in den Besprechungen allein immer, wie ich glaubte, in voller Offenheit seine Ansichten sagte. Wenn er also mich mißverstanden hätte, dann wäre es da zur Sprache gekommen. Er hat es aber nie gesagt.


[645] DR. NELTE: Sind Sie sich darüber klar, daß, wenn man eine Beseitigung von Weygand überhaupt in Betracht ziehen will, dies doch zweifellos ein ganz hochpolitischer Akt gewesen wäre?


KEITEL: Ja, ganz selbstverständlich. In diesem Zusammenspiel des Führers Adolf Hitler mit Marschall Pétain wäre das wohl einer der höchstpolitischen Akte in dieser Zeit gewesen, die überhaupt denkbar waren.


DR. NELTE: Sie glauben also noch, daß, wenn das geschehen wäre, das den Bruch der von Hitler eingeleiteten Politik bedeutet hätte?

KEITEL: Sicherlich, unbedingt war damit zu rechnen.


DR. NELTE: Allein mit Rücksicht auf die große Bedeutung der Persönlichkeit des Generals Weygand?


KEITEL: Jawohl.


DR. NELTE: Können Sie noch sonst irgendeine Aufklärung oder einen Grund geben, der dafür spricht, daß das, was Ihnen unterschoben worden ist, was ja Gott sei Dank niemals Wirklichkeit geworden ist, nicht auf Wahrheit beruht?


KEITEL: Wenn auch die Tatsache sehr weit zeitlich später liegt, nämlich die Überführung des Generals Weygand nach Deutschland aus Anlaß der Besetzung des bisher unbesetzten Südfrankreichs, so weiß ich nur vom Führer selbst, daß er angeordnet hatte, es solle eine Internierung in seinem eigenen Hause stattfinden ohne Störung des Generals durch die Bewachung, eine Ehrenhaft und keine Kriegsgefangenschaft. Das war allerdings im Jahre 1942.


DR. NELTE: Also Sie bestreiten abschließend und wiederholt unter Ihrem Eid, jemals einen Befehl erteilt zu haben oder sich in irgendeiner Weise so geäußert zu haben, daß daraus der Schluß gezogen werden könnte, Sie beabsichtigten oder Sie möchten, daß der General Weygand beseitigt wird?


KEITEL: Ja, das kann ich ausdrücklich erneut bestätigen.


DR. NELTE: Nun hat der Zeuge Lahousen auch über den Fall Giraud gesprochen und hat eine Darstellung gegeben, ähnlich wie beim Fall Weygand. In beiden Fällen war er nicht aus eigener Wissenschaft in der Lage zu sagen, daß Sie das befohlen hätten, sondern er teilte mit, was Canaris gesagt habe und illustrierte das lediglich durch spätere Rückfragen. Ich bitte Sie, den Fall Giraud, der ja großes Aufsehen damals und auch hier erregt hat, so darzulegen, wie Sie ihn kennen und Ihren Anteil an den Gesprächen, die auf Giraud bezogen worden sind.


KEITEL: Die gelungene Flucht des Generals Giraud von der Festung Königstein bei Dresden am 19. April 1942 war aufsehenerregend und trug mir allerdings auch schwerste Vorwürfe in Bezug [646] auf die Bewachung dieses Generalslagers, eine Militärfestung, ein. Die Flucht ist gelungen trotz aller Bemühungen, den General noch auf dem Wege von dort nach Frankreich zu ergreifen, sowohl auf dem Polizei-, wie auf dem militärischen Weg. Canaris hatte von mir Anweisung, besonders die Grenzübergänge nach Frankreich, Elsaß-Lothringen, äußerst überwachen zu lassen, um den General auf der Flucht zu ergreifen. Auch die Polizei war eingesetzt. Acht bis zehn Tage nach der Flucht wurde bekannt, daß der General unversehrt in Frankreich eingetroffen sei. Wenn in dieser Periode der Wiederergreifung von mir Anordnungen gegeben waren, so habe ich hier, seinerzeit schon, beim Verhör gesagt, es werden schon die Worte gefallen sein: »Den Mann, den General müssen wir wieder haben, tot oder lebendig.« So etwas werde ich schon gesagt haben. Er war geflüchtet und in Frankreich.

Zweite Phase: Die Bemühungen, auf dem Wege über die Botschaft – Abetz – Reichsaußenminister von Ribbentrop, den General zu bewegen, freiwillig in Kriegsgefangenschaft zurückzukehren, schienen nicht ohne Erfolg, oder nicht unmöglich, da der General sich bereit erklärt hatte, nach dem besetzten Gebiet zu kommen und darüber zu sprechen. Meine Auffassung war, daß es möglich wäre, der General würde es tun, auf Grund des großen Entgegenkommens, das der Marschall Pétain bisher erfahren hatte bei allen persönlichen Wünschen auf Freilassung von französischen Generalen aus der Kriegsgefangenschaft. Es ereignete sich dann im besetzten Gebiet, und zwar in einem Stabsquartier eines deutschen Korpsstabes, Armeekorpsstabes, das Zusammentreffen mit General Giraud, wo die Beprechung über seine Rückkehr stattfand. Ich wurde telephonisch über den Militärbefehlshaber informiert, über die Anwesenheit des Generals im besetzten Gebiet und in diesem Hotel, in dem die deutschen Offiziere wohnten.

Vorschlag des kommandierenden Generals: Wenn der General nicht freiwillig in die Kriegsgefangenschaft zurückkehre, sei es eine Kleinigkeit ihn festzunehmen, Genehmigung dazu. Ich habe das sofort kategorisch abgelehnt, weil ich es für einen Vertrauensbruch hielt, da der General im Vertrauen auf eine entsprechende Behandlung gekommen war. Er ist unversehrt und unbehelligt zurückgekehrt.

Dritte Phase: Der Versuch, der Wunsch, in irgendeiner Weise den General vielleicht doch noch einmal in militärischen Gewahrsam zu bekommen, ergab sich daraus, das Canaris mir berichtete, die Familie des Generals wohne im besetzten Gebiet, im von deutschen Truppen besetzten Gebiet, und es sei wohl selbstverständlich, daß der General versuchen werde, dort seine Familie zu besuchen, wenn auch erst nach bestimmter Zeit, wenn Ruhe eingetreten sei über den Vorfall. Er schlug mir vor, das Entsprechende vorzubereiten, [647] den General, wenn er einen solchen Besuch im besetzten Gebiet mache, ihn bei der Gelegenheit wieder gefangenzunehmen. Die Vorbereitungen würde er persönlich treffen und einleiten, in Paris durch seine Abwehrstelle und durch die nötigen Dienststellen, die er dafür hatte. In der Folgezeit ereignete sich nichts, und es ist wohl naturgemäß, daß ich mehrfach gefragt habe, ganz gleich, wer Canaris begleitete, ob Lahousen ihn begleitete: »Was ist aus der Angelegenheit Giraud geworden?« oder ähnlich: »Wie steht es in der Frage Giraud?« Worauf die Worte von Herrn Lahousen gefallen sind: »Es ist sehr schwer, aber wir werden ja alles machen«, hätte er geantwortet. Canaris hat gar nicht geantwortet, was mir heute erst auffällig ist, damals nicht.

Dritte Phase. In einem späteren Stadium... Soll ich weiter fortsetzen?


DR. NELTE: Viertes Stadium.


KEITEL: Viertes Stadium trat nun ein dadurch, daß Hitler mir sagte: »Das ist alles Unfug, das führt zu keinem Ziel. Die Abwehr ist dafür nicht befähigt, sie kann so etwas nicht. Ich werde das Himmler auftragen und die Abwehr soll sich aus diesem heraushalten, sie wird den General niemals wieder festnehmen.« Admiral Canaris hatte allerdings seinerzeit mir auch gesagt, daß er damit rechne, wenn der General Giraud in das besetzte Gebiet sich begeben würde, würde er die nötigen Sicherheitsmaßnahmen durch französische geheime Polizei schon getroffen haben; und es könne dabei natürlich zu einem Kampf kommen, da man ja auch wußte, daß der General ein sehr beherzter Soldat sein muß. Wenn jemand mit sechzig Jahren sich mit einem Strick 45 Meter eine Felswand heruntergleiten läßt – so ist die Flucht in Königstein entstanden.

Fünftes Stadium: Nach Darstellung von Lahousen, Berlin: Der Wunsch von Canaris auf Abgabe des Auftrags an die Geheime Staatspolizei – wie Lahousen behauptet, auf Vorstellungen der Abteilungsleiter, da ich erneut gefragt hätte, wie es mit Giraud stehe und er diese unbequeme Aufgabe los sein wollte. Canaris war bei mir, fragte mich, ob er es abgeben könne –, an das Reichssicherheitshauptamt oder an die Polizei. Ich sagte ihm ja, weil der Führer mir mehrfach bereits gesagt hatte, er würde es Himmler übertragen.

Nächstes Stadium. Ich wollte Canaris einige Zeit später warnen – als Himmler zu mir kam und mir bestätigte, er habe Befehl von Hitler bekommen, Giraud und seine Familie unauffällig zu bewachen, und ich möchte verhindern und abstellen, daß auch Canaris sich mit dem Fall befaßt – er sei darüber unterrichtet, daß Canaris im gleichen Sinne tätig sei. Ich sagte sofort zu.

[648] Nun kommt das Stadium, das Lahousen ja eingehend beschrieben hat: Ich hätte nach »Gustav« und ähnlichem gefragt. Ich wollte sofort Canaris anweisen, seine Betätigung auf diesem Gebiet einzustellen, nachdem der Befehl dazu von Hitler bestätigt war. Was sich dann nach den gesamten Darstellungen von Lahousen in Paris ereignet hat, daß nach Ausreden gesucht worden ist und ähnliches mehr, daß die Dinge als sehr mystisch angesehen wurden, wie Gustav als Abkürzung des Buchstaben »G« für Giraud und ähnliches, sind alles mehr Phantasien als Realitäten. Ich habe dann Canaris sofort zu mir bestellt, weil er nicht in Berlin, sondern in Paris war. Er hatte nichts gemacht, von Anfang überhaupt nichts gemacht. Deswegen fühlte er sich mir gegenüber in einer sehr unangenehmen Situation, denn er hatte mich belogen. Als er zu mir kam, sagte ich ihm nur: »Sie haben in der Sache nichts mehr zu tun und nun lassen Sie Ihre Finger daraus.«

Dann kam das nächste Stadium. Die ohne jede Schwierigkeit gelungene Flucht des Generals nach Nordafrika, im Flugzeug, die plötzlich gemeldet wurde, meines Wissens vor der Besetzung Nordafrikas durch die anglo-amerikanischen Truppen. Und damit war der Fall abgeschlossen. Weder die von mir mit Überwachung beauftragte Abwehr noch die Polizeistellen waren jemals in Aktion getreten und niemals war von mir auch nur das Wort gefallen, den General zu beseitigen. Nie!

Das letzte Stadium in diesem ganzen Vorgang klingt vielleicht märchenhaft und ist doch wahr; nämlich, daß der General 1944, etwa im Februar oder März, ein Flugzeug von Nordafrika nach Südfrankreich in die Gegend von Lyon schickte mit einem Verbindungsmann, der sich dort bei einer Dienststelle des Geheimen Nachrichtendienstes, also des Amtes Ausland/Abwehr, gemeldet hat und die Frage gestellt hat, ob der General nach Frankreich zurückkehren könne und was mit ihm geschehen würde, wenn er in Frankreich lande. Diese Frage ist an mich gestellt worden. Der Generaloberst Jodl ist der Zeuge, daß diese Dinge sich so ereignet haben. Der betreffende Chef der Abteilung Nachrichtendienst war bei mir. Die Antwort war die: »Genau die gleiche Behandlung wie die von General Weygand, der bereits in Deutschland ist. Kein Zweifel, daß der Führer damit einverstanden sein wird.«

Geschehen ist nachher nichts und Näheres habe ich auch nicht mehr darüber erfahren. Aber dieser Vorgang hat sich tatsächlich ereignet.


DR. NELTE: Ich muß zur Ergänzung noch einige Fragen stellen, weil die Französische Anklagebehörde davon gesprochen hat, daß später, in einem späteren Stadium einmal die Familie des Generals Giraud irgendwelche Nachteile, Unannehmlichkeiten schwerer Art, [649] erlitten hatte. Haben Sie im Zusammenhang mit den Nachforschungen nach Giraud auch der Familie, die ja im besetzten Gebiet Frankreichs war, irgendwelche Schwierigkeiten gemacht, Anordnungen getroffen, die eine Beschränkung, eine Benachteiligung oder irgend etwas bedeuten konnten?


KEITEL: Nein, ich habe lediglich eine unauffällige Überwachung des Wohnortes der Familie damals vorgesehen, um seinen eventuellen Besuch bei der Familie zu erfahren. Niemals ist gegen die Familie selbst irgendeine Maßnahme getroffen worden. Sie wäre in diesem Falle auch sehr töricht gewesen.


DR. NELTE: Von Ihnen?


KEITEL: Ja.


DR. NELTE: Um das klarzustellen: Sie hatten auch von späteren eventuellen Vorkommnissen keine Kenntnis?


KEITEL: Nichts, gar nichts.


DR. NELTE: Nun, General Giraud lebt ja, und ich habe nur noch abschließend Sie, unter Berufung auf den von Ihnen geleisteten Eid, nochmals zu fragen: Können Sie bestätigen, daß Sie zu keiner Zeit irgendeinen Befehl erteilt oder irgendeine Anordnung gegeben haben, die so ausgelegt werden könnte, als solle der General getötet werden?


KEITEL: Nein, ich habe einen solchen Befehl nie gegeben, wenn nicht ein Wort wie das »wir müssen ihn wieder haben, tot oder lebendig«, irgendwie in dieser Richtung ein Gewicht besitzt. Dann habe ich niemals eine Anordnung gegeben, den General zu beseitigen oder zu töten oder irgend etwas ähnliches. Nie.


DR. NELTE: Ich bin mit der Vernehmung des Angeklagten Keitel zu Ende. Ich möchte Sie nur noch bitten, mir zu gestatten, daß ich das letzte Affidavit in dem Dokumentenbuch 2, Nummer 6, als Beweisstück überreiche. Es ist im Dokumentenbuch Seite 51 und folgende und soll das Beweisstück K-...


VORSITZENDER: Haben Sie das nicht gestern als Beweisstück K-12 eingereicht?


DR. NELTE: Ja, ich habe heute K-13...


VORSITZENDER: Welches Datum trägt das Affidavit, das Sie jetzt einzureichen wünschen, und wo ist es zu finden?


DR. NELTE: Es ist Seite 51 und folgende und trägt das Datum vom 9. März 1946.


VORSITZENDER: Ja, ich habe es gefunden.


DR. NELTE: Dieses Affidavit ist auch von dem Generaloberst Jodl eidesstattlich versichert. Ich bitte darum, ihn, wenn er selbst [650] auf den Zeugenstand kommt, darüber zu befragen, beziehungsweise ihm dieses Dokument zur Bestätigung vorlegen zu dürfen.


VORSITZENDER: Ja, gut.


MR. DODD: Hoher Gerichtshof! Wir haben die Angelegenheit des angeblichen Verhörs des Generals von Falkenhorst, auf das Dr. Nelte gestern hingewiesen hat, geprüft. Soweit wir feststellen konnten, wurde diese Urkunde von keinem Mitglied der Anklagebehörde als Beweisstück vorgelegt. Herr Dubost hat sich darauf berufen, das heißt, er hat sich nicht darauf berufen, aber es war in seinem Schriftsatz enthalten. Ich habe mich nicht darauf bezogen und es auch nicht als Beweisstück vorgelegt. So ist es in Dr. Neltes Hände gekommen, freilich nicht als Beweisstück.


VORSITZENDER: Will Dr. Nelte es jetzt als Beweisstück einreichen?


DR. NELTE: Ich bitte es als Dokument K-14 als Beweis entgegenzunehmen.


VORSITZENDER: Hat es eine PS-Nummer oder irgendeine andere Nummer?


DR. NELTE: Nein, Herr Präsident, es hat gar keine Nummer.


VORSITZENDER: Danke.

Wünscht einer der anderen Verteidiger Fragen an den Zeugen zu richten?


DR. STAHMER: Herr Zeuge! Nachdem Sie in Berichtigung Ihrer früheren Aussage vorhin auf die Frage Ihres Verteidigers bereits erklärt haben, daß der Reichsmarschall Göring nicht zugegen war bei der Lagebesprechung, in der Hitler das Verbleiben der aus dem Lager Sagan geflohenen Flieger bei ihrer Wiederergreifung bei der Polizei anordnete, und nachdem Sie ferner versichert haben, daß auch eine Besprechung mit dem Reichsmarschall Göring in Berlin nicht stattgefunden hat, habe ich zu diesem Komplex nur noch folgende Fragen: Haben Sie einige Wochen nach dieser erwähnten Flucht von dem Generalstab der Luftwaffe, und zwar von dem Generalquartiermeister, ein Schreiben erhalten, in dem die Luftwaffe erklärte, daß sie ihre Gefangenenlager abgeben wolle und um Übernahme durch das OKW ersuchte?


KEITEL: Jawohl, das trifft zu. Dieses Schreiben ist auch bei mir eingegangen und dann auch, nach Vortrag bei Hitler, von mir abgelehnt worden.


DR. STAHMER: Ich habe keine weiteren Fragen mehr.


DR. SEIDL: Herr Zeuge! Der Angeklagte Dr. Frank war zu Beginn des Krieges Leutnant im 9. Infanterieregiment. Ist das richtig?


[651] KEITEL: Jawohl, das stimmt.


DR. SEIDL: Erinnern Sie sich, im Jahre 1942 einen Brief des damaligen Generalgouverneurs Dr. Frank erhalten zu haben, in dem dieser Sie um die Wiedereinberufung zur Wehrmacht gebeten hat? Der Zweck dieses Schreibens war natürlich, auf diese Weise von seinem Amt als Generalgouverneur entbunden zu werden. Ist das richtig?


KEITEL: Ja, einen solchen Brief habe ich damals erhalten. Ich habe ihn dann dem Führer vorgelegt, der nur mit einer Handbewegung sagte, »das kommt überhaupt nicht in Frage«. Das habe ich dann durch den Offizier, der beim Generalgouverneur Frank damals zeitweise war, ihm mitteilen lassen.


DR. SEIDL: Das ist alles.


DR. DIX: Euer Lordschaft! Es ist drei Minuten vor 13.00 Uhr. Ich habe nicht lange, aber es könnte nach 13.00 Uhr werden. Ist es nicht vielleicht besser, wenn wir jetzt Pause machen und ich dann mit meinen Fragen nach der Mittagspause beginne?


VORSITZENDER: Gut. Wir vertagen die Sitzung nunmehr bis 2.00 Uhr.


[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 10, S. 623-653.
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