Nachmittagssitzung.

[226] M. JEAN JACQUES LANOIRE, HILFSANKLÄGER FÜR DIE FRANZÖSISCHE REPUBLIK: Herr Vorsitzender! Gestatten Sie mir bitte, eine ganz kurze Erklärung im Namen der Französischen Anklagevertretung abzugeben. Obwohl es nicht üblich ist, daß die Anklagevertretung während der Verlesung einer Verteidigungsrede einschreitet, erscheint es mir jedoch erforderlich, auf einige heute vormittag gemachte Erklärungen der Verteidigung Speers einzugehen und den Gerichtshof zu bitten, diese zurückzuweisen.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof glaubt nicht, daß es richtig ist, wenn die Verteidigungsreden durch die Anklagevertreter unterbrochen werden. Die Anklagevertreter werden später sprechen und werden dabei reichlich Gelegenheit haben, die Reden der Verteidiger zu beantworten.


M. LANOIRE: Ich werde mich Ihrem Wunsche fügen, Herr Vorsitzender.


VORSITZENDER: Dr. Flächsner! Wollen Sie bitte einen Augenblick warten, ich habe etwas bekanntzugeben. Der Gerichtshof beruft sich auf Paragraph 8 seiner Anordnung vom 23. Februar 1946, der sich auf die Erklärungen bezieht, die die Angeklagten gemäß Artikel 24 des Statuts machen können.

Im Hinblick auf die weitgehenden Erklärungen, die die Angeklagten und ihre Verteidiger bereits gemacht haben, nimmt der Gerichtshof an, daß, wenn die Angeklagten weitere Erklärungen abzugeben wünschen, diese nur solche Angelegenheiten behandeln werden, die vorher übergangen wurden. Die Angeklagten dürfen keine weiteren Reden halten oder das wiederholen, was sie selbst oder ihre Verteidiger bereits gesagt haben. Sie müssen sich vielmehr auf kurze Erklärungen von einigen Minuten beschränken und dürfen nur solche Dinge behandeln, die bisher weder in ihren Zeugenaussagen noch in den Argumentationen der Verteidiger behandelt wurden.

Das ist alles.


DR. FLÄCHSNER: Herr Präsident, meine Herren Richter!

Ich darf in meinen Ausführungen weiter fortfahren:

Ein weiterer Vorwurf der Anklage bezieht sich auf die Verletzung des Artikels 32 des Genfer Kriegsgefangenenabkommens, wonach Kriegsgefangene mit unzuträglichen Arbeiten beschäftigt worden seien, insofern als die Kriegsgefangenen im Bergbau Beschäftigung gefunden hätten. Es wird hierfür auf ein Sitzungsprotokoll der Zentralen Planung verwiesen, worin die Beschäftigung von russischen Kriegsgefangenen im Bergbau erörtert wird. Die Beschäftigung Kriegsgefangener im Bergbau ist nicht ohne weiteres[226] als verboten anzusehen und ist in allen Industriestaaten geübt worden. Die Beschäftigung russischer Kriegsgefangener im Bergbau ist daher dann nicht zu beanstanden, sofern sich die betreffenden Kriegsgefangenen in einem körperlichen Zustand befanden, der ihnen die schwere bergmännische Arbeit auszuüben ermöglichte. Es ist von der Anklage nicht dargetan und bewiesen worden, daß diese Kriegsgefangenen für die ihnen übertragene Arbeit körperlich nicht imstande gewesen seien. Aus der Tatsache allein, daß in der Zentralen Planung die Beschäftigung Kriegsgefangener im Bergbau erörtert und gutgeheißen worden ist, kann auf eine Verletzung des Artikels 32 des Kriegsgefangenenabkommens nicht geschlossen werden. Die Behandlung Kriegsgefangener ist überhaupt rechtlich unter verschiedenen Gesichtspunkten zu prüfen. Die Deutsche Regierung hat den Standpunkt vertreten, daß für die sowjetischen Kriegsgefangenen eine andere rechtliche Grundlage Platz greifen müßte als bei der Behandlung der Angehörigen der westlichen Staaten, die sämtlich Vertragspartner der Genfer Kriegsgefangenenkonvention von 1929 waren, während die Sowjetunion dieses Abkommen nicht mitunterzeichnet hat. Die Sowjetische Anklage hat nun mit der Urkunde EC-338, USSR-356, eine völkerrechtliche Untersuchung des Amtes Ausland/Abwehr im OKW über die Rechtmäßigkeit der über die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener erlassenen Vorschriften überreicht und an diesen scharfe Kritik geübt. Wesentlich ist nun, daß in diesem Vortragsbericht der Standpunkt zum Ausdruck kommt, daß die sowjetischen Kriegsgefangenen grundsätzlich nicht nach den Vorschriften des Genfer Kriegsgefangenenabkommens behandelt werden können, da die Sowjetunion diesem nicht beigetreten sei, und daß diese Vortragsnotiz Bezug nimmt auf den Erlaß der Sowjetunion über die Behandlung Kriegsgefangener vom 1. Juli 1941, von welchem das Gutachten des Amtes Ausland/Abwehr im OKW feststellt, daß dieser Beschluß in wesentlichen Punkten den Bestimmungen des Genfer Kriegsgefangenenabkommens entspricht. Charakteristisch ist nun, daß in diesem Erlaß angeordnet ist, daß kriegsgefangene Unteroffiziere und Mannschaften im Lager und außerhalb desselben in der Industrie und in der Landwirtschaft zu Arbeiten herangezogen werden können und daß als Beschränkung nur angeordnet ist, daß die Ausnutzung der Arbeitskraft der Kriegsgefangenen verboten ist

  • a) im Gebiet der Kampfhandlungen,

  • b) für persönliche Bedürfnisse der Verwaltung, sowie Bedürfnisse anderer Kriegsgefangener, sogenannte Burschendienste – siehe Seite 12/13 des Dokumentenbuches.

Eine Anordnung, die entsprechend den Bestimmungen des Artikels 31 und 32 des Genfer Kriegsgefangenenabkommens die verwendete Arbeitskraft der Kriegsgefangenen einschränkt, ist dem [227] zitierten Befehl nicht zu entnehmen. Es bleibt nun aber weiter zu untersuchen, ob die Bestimmung der Artikel 31 und 32 des Genfer Kriegsgefangenenabkommens einen Ausfluß der allgemeinen Regeln des Völkerrechts darstellen, welche zu beachten wären, auch wenn es eine besondere vertragliche Regelung, wie sie das Genfer Kriegsgefangenenabkommen darstellt, nicht gäbe. Dies wird aber generell nicht gesagt werden können. Die vorgenannten Vertragsbestimmungen können nicht als vertragliche Stipulierung eines allgemein gültigen Rechtsgedankens betrachtet werden, wenn ein so wesentliches Mitglied der Völkerrechtsfamilie wie die Sowjetunion eine derartige Regelung nicht akzeptiert.

Von diesem Gedanken ausgehend wäre eine Beschäftigung sowjetischer Kriegsgefangener mit Arbeiten, die nach Artikel 31 des Kriegsgefangenenabkommens verboten waren, nicht zu beanstanden. Die nach dem Abfall Italiens in Deutschland internierten italienischen Militärpersonen fallen nicht unter die Bestimmung des Genfer Kriegsgefangenenabkommens, da kein Kriegszustand zwischen Italien und Deutschland bestanden hat. Auch diese Militärinternierten unterlagen bei ihrem Einsatz als Arbeitskräfte nicht den Beschränkungen des Artikels 31. Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß in der Aufzählung des Mr. Deuss als Kriegsgefangene, die in der Rüstungswirtschaft beschäftigt worden seien, diese Militärinternierten mit aufgeführt sind.

Zusammenfassend ist zu diesem Punkt zu sagen:

Die Vermittlung der Kriegsgefangenen an die Betriebe erfolgte ausschließlich durch die Dienststellen des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz. Die Kontrolle über den nach dem Kriegsgefangenenabkommen richtigen Einsatz der Kriegsgefangenen oblag dem Arbeitseinsatzoffizier des Stalags, welcher wiederum letzten Endes dem General für das Kriegsgefangenenwesen im OKW verantwortlich war. Auf die Verteilung der Kriegsgefangenen und ihre Beschäftigung irgendeinen Druck zu unternehmen, war dem Angeklagten Speer nicht möglich. Die Anklage ist auch nicht in der Lage gewesen, irgendeinen Beweis dafür zu erbringen, aus dem eine Beteiligung des Angeklagten Speer bei rechtswidriger Beschäftigung der Kriegsgefangenen sich folgern ließe. Diese Behauptungen der Anklage sind beweislos geblieben.

Die Anklage hat nun dem Angeklagten weiterhin zum Vorwurf gemacht, daß die Organisation Todt, an deren Spitze Speer nach dem Ableben Dt. Todts im Februar 1942 gestellt wurde, einheimische Arbeitskräfte verwendet hätte, um Befestigungsarbeiten in den französischen Küstengebieten auszuführen. Was die OT anlangt, so ist sie eine reine zivile Einrichtung des Generalbauinspekteurs für das Straßenwesen. Sie arbeitete auf privatwirtschaftlicher Grundlage, das heißt, sie vergab die Bauten, die sie [228] auszuführen beabsichtigte, an private Firmen, auch an ausländische Firmen, die im betreffenden Lande ansässig waren, und überwachte lediglich die Ausführung der Arbeiten. Die privaten Firmen kannten die Beschaffung der notwendigen Materialien und Arbeitskräfte selbst vornehmen. Gerade durch die Einschaltung einheimischer Bauunternehmen war die Möglichkeit gegeben, die Schwierigkeiten, die sich sonst der Ausführung der Arbeit entgegenstellten, zu beheben. Die Baustellen der OT erfreuten sich bei den Einheimischen um deswillen einer gewissen Beliebtheit, weil die Sicherheit dafür gegeben war, daß diese Arbeiter nicht gezwungen werden konnten, nach Deutschland zu gehen, um dort in der Industrie zu arbeiten, da die Baustellen der OT für vordringlich wichtig erachtet wurden. Die Arbeiter gingen freiwillig zu den Firmen, welche für die OT tätig waren, um diese Gewähr zu erhalten. Das vom Angeklagten Speer im Kreuzverhör gezeigte Beispiel zeigt, wie einmal zur Behebung von Schäden, die durch Luftangriffe auf zwei westdeutsche Talsperren entstanden waren, 50000 OT-Arbeiter aus Frank reich nach Deutschland gebracht wurden, und wie dies auf die bei den übrigen Baustellen der OT beschäftigten Arbeiter ein so ungünstiges Ergebnis zeitigte, daß nichts anderes übrig blieb, als diese 50000 OT-Arbeiter wieder nach Frankreich zurückzuschaffen. In der Zwischenzeit waren nämlich von den übrigen Baustellen der OT in Frankreich viele Arbeiter verschwunden, weil sie sich fürchteten, früher oder später gegen ihren Willen nach Deutschland gebracht zu werden, während sie bis dahin die Beschäftigung, für die OT zu arbeiten, als Sicherheit gegen eine derartige Verbringung nach Deutschland betrachtet hatten. Erst der Rücktransport der vorerwähnten 50000 Arbeiter nach Frankreich, der vom Angeklagten Speer veranlaßt wurde, als sich diese ungünstigen Folgen zeigten, stellte das bisherige Vertrauensverhältnis wieder her.

Hier sei auch noch das Moment betont, daß sich aus den geschilderten Vorgängen die Tatsache ergibt, daß die OT-Arbeiter in Frankreich freizügig waren. Jedenfalls wurde gegen sie kein Zwang ausgeübt. Die Folge davon war, daß bei Einrichtung der Sperrbetriebe in Frankreich alle Unternehmungen, die für die OT tätig waren, zu Sperrbetrieben erklärt und damit anderweitigen Einsatzmöglichkeiten entzogen wurden. Dieses Beispiel zeigt, daß die Ansicht der Anklage, diese Arbeiter der OT seien gegen ihren Willen in die OT-Betriebe gezwungen worden, eine unrichtige Auffassung ist.

Nachdem feststeht, daß die Französische Regierung mit Verwendung französischer Arbeiter sowohl bei den Bauarbeiten und der Regie der OT als auch in sonstigen Rüstungsbetrieben in Deutschland und in den besetzten Gebieten einverstanden war, ist jede Rechtswidrigkeit in dieser Hinsicht ausgeschlossen. Es sei nicht [229] unerwähnt gelassen, daß nach Abschluß des Waffenstillstandsabkommens mit Frankreich dies aus der kriegerischen Auseinandersetzung ausgeschieden war. Der Waffenstillstandsvertrag bedeutete ja nicht eine Vereinbarung einer Waffenruhe, sondern de facto die endgültige Beendigung der Feindseligkeiten und sollte als Vorbereitung des Friedensschlusses dienen. Es war ein Zustand, der nicht mehr Krieg, aber auch noch nicht die endgültige Rückkehr zu friedensmäßig vertraglich geregelten Beziehungen bedeutete. Ein Wiederaufleben der Feindseligkeiten war nach der Überzeugung der beiden Waffenstillstandspartner jedenfalls außerhalb jeder Betrachtung. Der Waffenstillstand sollte ausschließlich die Verhältnisse bis zum endgültigen Friedensschluß regeln. Vorschriften, wie sie sowohl die HLO als auch das Kriegsgefangenenabkommen hinsichtlich der Beschränkung, daß Dienstleistungen nicht gegen die Treupflicht, gegen das eigene im Kampf stehende Land verletzen dürfen, entfallen somit, denn das eigene Land führt hier ja gar nicht mehr Krieg. Nach dem allgemeinen Waffenstillstand kann sich die Waffen- und Munitionsherstellung nicht mehr gegen den aus den Feindseligkeiten ausgeschiedenen Teil, sondern nur noch gegen andere im Felde stehende Kriegspartner richten. Der vorerwähnte Grundsatz der Respektierung der Treupflicht dem eigenen Lande gegenüber hat in solchen Fällen keine Anwendung mehr zu finden.

Im übrigen ist auch noch hervorzuheben, daß die OT nicht etwa eine para-militärische Organisation war, wie auch dies fälschlicherweise behauptet wurde. Offenbar wurde fälschlich diese Auffassung gestärkt durch die Tatsache, daß die deutschen Angehörigen der OT-Verwaltung im Ausland eine Uniform trugen. Diese Leute galten als Wehrmachtsgefolge; dagegen standen die von den Firmen angeworbenen Arbeitskräfte und die Bauarbeiter der Firmen sowie das technische Personal in keinerlei derartigen Verhältnissen. Es kann also auch nicht der Vorwurf erhoben werden, als seien mittelbar diese einheimischen Arbeitskräfte einer Wehrmachtsorganisation eingegliedert worden.

Ein weiterer Vorwurf gegen den Angeklagten Speer besteht darin, daß in dem von ihm kontrollierten Wirtschaftssektor Häftlinge aus KZ-Lagern beschäftigt worden sind. Der Angeklagte hat dies zugegeben. Eine Haftung strafrechtlicher Art wegen dieser Tatsache hält aber einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Beschäftigung von Strafgefangenen zu wirtschaftlichen Arbeiten ist in Deutschland von jeher üblich gewesen. Sie konnte sich vollziehen in verschiedener Form, teils durch Beschäftigung innerhalb der Strafanstalt selbst, teils außerhalb derselben. Bei dem Mangel an Arbeitskräften, der durch die Verschärfung des Wirtschaftskrieges sich herausstellte, war es notwendig, auch auf die Arbeitskräftereserven zurückzugreifen, die sich in den KZ-Lagern befanden. Die Anklagebehörde hat Dokumente vorgelegt, aus denen hervorgeht, [230] wie sehr sich die dem Reichsminister Himmler unterstellten Dienststellen bemühten, die in den KZ-Lagern enthaltenen Reserven an Arbeitskräften zum Aufbau eigener SS-Betriebe zu verwenden, und der Angeklagte Speer hat bei seiner Vernehmung am 20./21. Juni vor dem Gericht über die Bestrebungen Himmlers Aufschluß gegeben, die darauf abzielten, eine eigene lediglich ihm unterstellte Rüstungsindustrie aufzubauen, welche dazu geführt hätte, daß jegliche Kontrolle über die Waffenproduktion in diesen beabsichtigten SS-Betrieben unmöglich gewesen wäre, so daß die SS sich hätte mit Waffen versehen können, ohne daß eine Kontrolle von Heeres- oder sonstigen Dienststellen darüber möglich gewesen wäre.

Dem hat sich der Angeklagte Speer Hitler gegen über erfolgreich durchgesetzt. Es wurde erreicht, daß Himmler von den KZ-Lagerhäftlingen einen Teil für die Beschäftigung in den Rüstungsindustrien freigab. Dadurch erlangten die Häftlinge eine Besserung ihrer Lage; denn sie kamen einmal in den Besitz der für die Arbeiter beziehungsweise Lang- und Schwerarbeiter ausgesetzten höheren Lebensmittelrationen, wie der Zeuge Riecke bekundet hat, sie kamen ferner aus den großen Konzentrationslagern heraus, sie unterstanden während der Arbeitszeit nicht der SS-Lagerkontrolle, sondern in den Betrieben unterstanden sie den Meistern und Vorarbeitern. Allerdings wurden, um lange Transport- und Anmarschwege zu vermeiden, in der Nähe der Betriebs- und Arbeitsstätten, in denen sie eingesetzt waren, Sonderlager errichtet, die weder der Kontrolle des Betriebsführers noch der Dienststelle des Angeklagten Speer zugänglich waren, sondern ausschließlich unter Kontrolle der für die Konzentrationslager zuständigen Dienststellen lagen. Es können also für die Zustände in derartigen Lagern weder der Betriebsführer noch die Dienststellen des Angeklagten Speer verantwortlich gemacht werden, wenn dort Mißstände auftraten. Im allgemeinen wurde, wie aus dem Schreiben des Amtschefs Schieber vom 7. Mai 1944 an den Angeklagten Speer hervorgeht – Dokumentenbuch 2, Seite 88 –, von den Häftlingen die Arbeit in derartigen Betrieben vor einer Beschäftigung durch die KZ-Lagerverwaltung selbst vorgezogen, und Schieber sagt in diesem Schreiben ganz deutlich, daß man aus diesen Gründen der Beschäftigung von KZ-Lagerhäftlingen einen größeren Raum einräumen sollte, um diesen ihr Los zu erleichtern. Er erklärt aber weiterhin, daß die Zahl der in den Rüstungsindustrien beschäftigten KZ-Lagerhäftlinge 36000 betragen habe und daß diese Zahl geringer werde. Demgegenüber ist die Angabe des Angeklagten bei seiner Vernehmung, die Zahl der in der Rüstungsindustrie beschäftigt gewesenen KZ-Häftlinge halbe ein Prozent betragen von den insgesamt in der Rüstungsindustrie beschäftigten Arbeitern, zu hoch gegriffen. Bei 4,9 Millionen in der Rüstungsendfertigung beschäftigten Arbeitern macht die Zahl von 36000 nur sieben pro Tausend [231] aus. Die Zahl der in der Rüstungsindustrie beschäftigten KZ-Lagerhäftlinge stellt daher nur einen ganz geringen Teil aller Arbeitskräfte in der Rüstungsendfertigung dar, das heißt aller Arbeitskräfte, die in Betrieben tätig waren, die Fertigprodukte herstellten.

Diese Ziffern zeigen, wie abwegig die Annahme der Anklage ist, die Beschäftigung solcher Häftlinge in der Rüstungsindustrie hätte zur Folge gehabt, die Nachforderung an solchen Arbeitskräften zu steigern und diese Nachforderung sei dadurch befriedigt worden, daß man in die KZ-Lager Personen geschickt hätte, die unter normalen Umständen niemals dorthin gekommen wären. Die Auffassung, daß durch die Tatsache der Beschäftigung von Häftlingen aus KZ-Lagern in der Rüstungsindustrie es zu einer Vermehrung der KZ-Lagerinsassen gekommen sei, wird durch den bereits erwähnten Brief Schiebers – das ist Exhibit 6, Seite 88 des Dokumentenbuches – und durch dessen ebenfalls als Exhibit Nummer 37, Dokumentenbuch Nummer 51, eingereichten Zeugenaussagen widerlegt. Danach ist die Beschäftigung von KZ-Lagerinsassen in der Rüstungsindustrie im Herbst 1943 erstmalig erfolgt, und die Zahl der dort beschäftigten Häftlinge hat mit der Höchstzahl von 36000 im März 1944 ihren Höchststand erreicht und ist von diesem Zeitpunkt an nicht nur nicht mehr angewachsen, sondern im Gegenteil abgesunken.

Die Schlußfolgerung der Anklage hält somit in keiner Weise der Nachprüfung stand. Es ist nicht einmal der Beweis erbracht worden, daß Speer Versuche unternommen hätte, Leute ins KZ-Lager zu bringen.

Bei seiner Vernehmung hat der Angeklagte zugegeben, daß allgemein in Deutschland die Verbringung in ein KZ-Lager gefürchtet wurde. Die Furcht in der Bevölkerung vor dem KZ-Lager war auch berechtigt, weil das einmal völlig in das Ermessen der von Himmler geleiteten Polizeibehörden gelegt war, ob jemand in ein KZ-Lager verbracht wurde, weil ferner keine richterliche Instanz vorhanden war, welche eine Nachprüfung der Vorwürfe ermöglicht hätte, wegen deren die Verbringung in das KZ-Lager erfolgt war, und endlich, und das ist der Hauptgrund, weil es völlig in das Belieben der KZ-Behörden gelegt war, auf wie lange Zeit man in das Lager gesteckt wurde.

Die Anklagebehörde hat weiterhin geltend gemacht, Speer habe den Einsatz von KZ-Häftlingen in der Rüstung fortgesetzt, nachdem er sich durch einen Besuch im Lager Mauthausen von den dort herrschenden Zuständen Kenntnis verschafft hätte. Daß dies nicht der Fall war, ist durch die Aussage des Angeklagten über diesen Punkt erwiesen. Da es sich nur um einen flüchtigen Besuch handelte, dessen Zweck lediglich war, die Lagerverwaltung anzuweisen, [232] von ihr verbotswidrig unternommene Arbeiten, die reinen Friedenszwecken dienten, einzustellen und die Arbeitskräfte statt dessen für die Rüstungsindustrie zur Verfügung zu stellen, konnte der Angeklagte Speer nur einen oberflächlichen Einblick in die Lebensbedingungen im Lager gewinnen. Es kann insofern auf seine Bekundungen darüber verwiesen werden.

Durch Zeugen der Anklage ist ferner eingehend darauf hingewiesen worden, daß bei derartigen Besuchen hochgestellter Persönlichkeiten in KZ-Lagern diese nur von der besten Seite gezeigt wurden und daß irgendwelche Anzeichen von Grausamkeiten und so weiter sorgfältig entfernt wurden, damit der Besuch keinen ungünstigen Eindruck von dem Lager erhielt. – Vergleiche die Aussage des Zeugen Blaha vom 14. Januar 1946.

Im Anschluß an diese Frage soll der weitere Vorwurf der Anklage behandelt werden, der sich damit befaßt, Speer habe für von Hitler angeordnete Bauten von bombenfesten Flugzeugfabriken die Verwendung ungarischer Juden als Arbeitskräfte gebilligt. Hierzu ist auf die Bekundung des Zeugen Milch und des Zeugen Frank zu verweisen. Milch hat ausgesagt, daß Speer, der in dieser Zeit krank war, sich diesem Bau heftigst widersetzt hat, daß aber Hitler, der die Vornahme dieser Bauten forderte, mit ihren Ausführungen den Leiter der OT, Dorsch, vorerst unmittelbar beauftragte. Um nach außen hin die Kontroverse zwischen Hitler und Speer nicht in Erscheinung treten zu lassen, blieb Dorsch formell Speer unterstellt, in der Sache aber hatte er nur mit Hitler unmittelbar zu verhandeln und war ihm direkt unterstellt Daß et zu einer praktischen Durchführung dieser Bauabsichten nicht gekommen ist, hat Milch gleichfalls bekundet. Ich habe den Befehl Hitlers an Speer vom 21. April 1944 als Exhibit 34 eingereicht und auf Seite 52 meines Dokumentenbuches wiedergegeben.

Dieser Befehl zeigt deutlich, daß Hitler Dorsch als ihm unmittelbar Verantwortlichen bezeichnet, da die Nennung Speers, dem dir Abstimmung dieser Bauaufgaben mit den ihm unterstellten Bauplanungen zur Pflicht gemacht wird, rein formeller Natur war. Die Aussage des Feldmarschalls Milch wird weiter durch dieses Schreiben bestätigt. Zur Stützung der Ansicht der Anklage, daß der Angeklagte Speer mitgewirkt habe, daß Leute ins KZ-Lager kamen, wird eine Äußerung in einer Sitzung der Zentralen Planung vom 30. Oktober 1942 über die Bummelantenfrage herangezogen. In diesem Zusammenhang muß die Aussage des Angeklagten Speer als Zeuge betrachtet werden, worin er erklärt hat, daß auf diese Äußerung weder seitens der Zentralen Planung noch von ihm ein Schritt beim Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz unternommen worden ist, um diesem Übel abzuhelfen. Tatsächlich ist auch nichts erfolgt; erst im November 1943 hat Sauckel einen Erlaß[233] gegen die Bummelanten erlassen. Unter Bummelanten versteht man diejenigen Arbeiter, die, um sich der Erfüllung ihrer Arbeitspflicht zu entziehen, Krankheit vorschützen oder die unter Vortäuschung von nicht stichhaltigen Gründen oder sogar ohne jeden Vorwand der Arbeitsstelle fernbleiben. Es kann hierbei nicht unerwähnt bleiben, daß die wirtschaftliche Kriegführung auch dieses Gebiet nicht außer acht ließ. Es wurde auf die verschiedenste Art und Weise versucht, die Arbeitsfreudigkeit der Arbeiter zu untergraben. Durch Flugblattabwurf und andere Nachrichtenmittel wurden den Arbeitern Ratschläge gegeben, wie sie sich krank stellen könnten, welche Mittel sie anwenden sollten, um bei ärztlicher Untersuchung erfolgreich Krankheiten vortäuschen zu können und anderes mehr; sie wurden aufgefordert, langsamer zu arbeiten und anderes mehr.

Zunächst hatte diese Propaganda nur vereinzelt Erfolg. Da solche Einzelfälle aber leicht auf die Arbeitsdisziplin einer ganzen Belegschaft ungünstigen Einfluß haben, wurde vom Angeklagten Speer die Möglichkeit eines polizeilichen Eingriffs besprochen. Irgendwelche Initiative, welche die Polizei zum praktischen Vorgehen veranlassen sollte, hat Speer nicht ergriffen. Es ist erst ein Jahr später vom Generalbevollmächtigten eine Verordnung erlassen worden, die dem Arbeitgeber zur Pflicht machte, zunächst Disziplinarstrafen anzuwenden. In besonders schweren Fällen konnte allerdings durch den Treuhänder der Arbeit Strafantrag gestellt werden. Auf Grund dieser Verordnung konnte auch Überweisung in ein Arbeitserziehungslager auf die Dauer von 56 Tagen ausgesprochen werden. Nur für ganz besonders schwere Fälle der Arbeitspflichtverletzung sah die Verordnung des GBA Überweisung in ein KZ-Lager vor. Es muß hier erwähnt werden, daß diese Verordnung für in- und ausländische Arbeiter in gleicher Weise galt, da keines falls die inländischen Arbeiter eine andere Behandlung erfahren sollten. Im Kreuzverhör des Angeklagten Sauckel hat die Französische Anklage das Dokument vorgebracht über eine Sitzung der Arbeitsbehörden Sauckels auf der Wartburg. Auf dieser Sitzung ist von dem Referenten für Arbeitsrechtsfragen beim GBA, Dr. Sturm, ein Vortrag über die Bestrafung von Arbeitern gehalten worden und dabei festgestellt worden, daß nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Arbeiter zu Strafen hätten verurteilt werden müssen. Daraus ergibt sich nun aber wieder, daß die Anklage keinen Beweis für die Behauptung erbracht hat, daß auf Grund der Sauckelschen Verordnung über die Bummelanten die KZ-Lager gefüllt worden wären, so daß es an dem schlüssigen Beweis dafür fehlt, daß Sauckel beziehungsweise der Angeklagte Speer durch ihre Maßnahmen dazu beigetragen hatten, die KZ-Lager zu füllen. In seiner Bemerkung vor der Zentralen Planung vom 22. Mai 1944 – Seite 49 meines Dokumentenbuches, Exhibit [234] US-179 – hat Speer darauf hingewiesen, daß die entflohenen Kriegsgefangenen, die von der Polizei festgenommen werden, alsbald ihrer Arbeit wieder zugeführt werden mußten. Aus dieser Bemerkung ergibt sich die Grundeinstellung des Angeklagten Speer, der eben nicht diese entwichenen Kriegsgefangenen in ein KZ-Lager gesteckt wissen wollte, sondern verlangte, daß sie alsbald wieder in den Arbeitsprozeß eingeschaltet wurden. Einen stichhaltigen Beweis für die Behauptung, daß Speer die KZ-Lager habe füllen lassen, um von ihnen Arbeitskräfte zu bekommen, hat die Anklage nicht erbringen können.

Herr Präsident! Ich darf vielleicht jetzt auf die Frage eingehen, die zu Eingang meines Plädoyers von Ihnen an mich gerichtet wurde, nämlich die Bestimmung des Paragraphen 6 a des Statuts in Bezug auf den Angeklagten Speer in Bezug auf die Terminologie: »Führung eines Angriffskrieges«.

Ich möchte dazu folgendes bemerken: Das Statut stellt unter 6 a und als strafbaren Tatbestand unter anderem die Durchführung eines Angriffskrieges dar. Über die Definierung eines Angriffskrieges brauche ich mich hier ja nicht zu äußern, das hat bereits Professor Jahrreiss ausführlich getan. Es kommt hier wohl nur die Stellungnahme auf den Begriff der Durchführung eines Angriffskrieges an. Und da vertrat ich die Ansicht, daß einen Angriffskrieg nur durchführen kann der Inhaber der obersten Kommandogewalt. Alle anderen Beteiligten sind nur Geführte, mag auch die Beteiligung am Kriege einen wesentlichen Beitrag ausmachen. Infolgedessen kann im Falle des Angeklagten Speer der Tatbestand der Durchführung des Angriffskrieges nicht zur Anwendung kommen.

Ich möchte aber noch auf folgendes hinweisen:

In einer Sitzung – es mag am 28. Februar oder 1. März gewesen sein – wurde von einem der Herren Richter der Herr Oberrichter Jackson darauf hingewiesen, daß die Anklage seinerzeit die Ansicht vertreten habe, das Delikt des Angriffskrieges sei mit dessen Ausbruch für abgeschlossen zu erklären. Dieser Auffassung kann ich mich nur anschließen.

In der Beweisaufnahme habe ich ausführlich Gelegenheit erhalten, die Tätigkeit des Angeklagten Speer in der letzten Phase des Krieges ab Juni 1944 darzustellen.

Ich kann mich daher darauf beschränken, zu dieser ausführlicher chronologischen Schilderung jetzt den Nachweis zu erbringen, daß die gesamte Aussage Speers fast lückenlos durch Aussagen anderer Zeugen und durch Dokumente belegt ist. Die schriftlichen Zeugenaussagen, auf deren Verlesung vor Gericht ich verzichtet habe, sind völlig gleichlautend, obwohl die Zeugen aus den verschiedensten Lagern stammen und sich völlig unbeeinflußt geäußert haben.

[235] Der Angeklagte Speer hat von Juni 1944 an eine einwandfreie Unterrichtung Hitlers über seine Produktionslage durchgeführt und hat dabei eindringlich darauf hingewiesen, daß der Krieg bei weiterem Fortschreiten im Produktionsrückgang verloren sei. Das beweisen die unter Speer-Exhibit Nummer 14, 15, 20, 21, 22, 23 und 24 eingereichten Denkschriften an Hitler. Wie der Zeuge, Generaloberst Guderian, der Chef des Generalstabs des Heeres, aussagte – Frage 6, Seite 179 meines Dokumentenbuches –, hat Hitler ab Ende Januar 1945 jede derartige Unterrichtung als Landesverrat bezeichnet und unter entsprechende Strafe gestellt. Trotzdem hat Speer, wie ebenfalls aus der Aussage von Guderian hervorgeht, immer wieder sowohl Hitler als auch ihm selbst gegenüber seine Ansicht über die Kriegsaussichten klar vorgetragen.

Hitler hatte es insbesondere untersagt, dritte Personen über die wahre Kriegslage zu unterrichten. Trotzdem gab Speer nach dem Erlaß der scharfen Zerstörungsbefehle Hitlers den Gauleitern und den Oberbefehlshabern verschiedener Heeresgruppen die Auskunft, daß der Krieg verloren sei und erreichte damit, daß wenigstens zum Teil die Zerstörungspolitik Hitlers aufgehalten wurde. Dies geht aus den Aussagen der Zeugen Hupfauer, Kempf und von Poser hervor.

Am 29. März 1945 erklärte Hitler Speer gegenüber, daß er an ihm die Konsequenzen zu vollziehen habe, die in diesen Fällen üblich seien, falls er weiter fortfahre, den Krieg für verloren zu erklären. Dieses Gespräch ist in der Aussage der Zeugin Kempf enthalten. Trotzdem fuhr Speer schon zwei Tage danach zu Seyß-Inquart, am 1. April 1945, um auch diesem zu erklären, daß der Krieg verloren sei. – Der Zeuge Seyß-Inquart und der Zeuge Schwebel haben bei ihrer Vernehmung am 11. Juni 1946 und am 14. Juni übereinstimmend ausgesagt, daß diese Besprechung mit Speer vom 1. April 1945 die Verhandlungen Seyß-Inquarts mit dem Generalstabschef des Generals Eisenhower, General Smith, ausgelöst habe. Dies führte schließlich zur unzerstörten Übergabe Hollands an die Alliierten.

Am 24. April 1945 flog Speer nochmals nach Berlin, das bereits belagert war, um Hitler davon zu überzeugen, daß der sinnlose Kampf aufgegeben werden müsse, wie dies aus der Aussage des Zeugen von Poser hervorgeht. Am 29. April 1945 hat Hitler Speer in seinem Testament abgesetzt – Dokument 3569-PS, Seite 87 des Dokumentenbuches Speer. Der amerikanische Hauptanklagevertreter, Herr Oberrichter Jackson, mußte daher dem Angeklagten Speer in seinem Kreuzverhör bestätigen, daß er wohl der einzige Mann gewesen sei, der Hitler uneingeschränkt die Wahrheit gesagt habe.

Für die Industrien Polens, des Balkans, der Tschechoslowakei, Frankreichs, Belgiens, Hollands hat die Anklagevertretung kein [236] Material vorgelegt, daß in diesen Ländern bei dem deutschen Rückzug Zerstörungen vorgenommen wurden. Dies ist in erster Linie ein Verdienst des Angeklagten Speer, der die von Hitler angeordnete Zerstörung der Industrie dieser Länder verhinderte, zum Teil sogar durch fälschliche Auslegung vorhandener Befehle. Daß Speer bereits im Sommer 1944 der Überzeugung war, daß diese Zerstörung aus den gesamteuropäischen Interessen heraus verhindert werden mußte, geht aus der Aussage des Zeugen von Poser hervor. Es wäre bei sachgemäßer Durchführung leicht gewesen, die hochentwickelten Industrien der Länder Mittel- und des besetzten Westeuropas auf zwei bis drei Jahre völlig lahmzulegen und damit die gesamte industrielle Produktion und das zivilisatorische Leben dieser Völker, ja den Wiederaufbau aus eigener Kraft auf Jahre hinaus unmöglich zu machen.

Der Zeuge Seyß-Inquart hat bei seiner Vernehmung am 11. Juni 1946 ausgesagt, daß die vorbereitete Zerstörung von nur vierzehn Punkten in Holland die Lebensmöglichkeiten dieses Landes restlos zerstört haben würde. Die Zerstörung zum Beispiel aller Kraftwerke in diesen Ländern hätte eine ähnliche Wirkung hervorgerufen, wie die Zerstörung der zwei bis drei Kraftwerke im Donezgebiet durch die Sowjets im Jahre 1941 zeigte. Erst im Sommer 1943 konnte dort wieder trotz aller Bemühungen eine notdürftige Produktion beginnen.

Ähnliche und noch weitergehende Folgen standen bei Durchführung der Hitlerschen Befehle dem europäischen Kontinent bevor. Speer gab nach dem Gelingen der Invasion in diese besetzten Gebiete die Ermächtigung, keine Zerstörungen vorzunehmen, wie dies von den Zeugen von Poser, Kempf, Schieber, Kehrl, Rohland, Seyß-Inquart, Hirschfeld und durch Speer-Exhibit Nummer 16 bestätigt wird, Frage 12, Seite 112; Schieber für Oberitalien, Frage 25, Seite 119; Rohland für Luxemburg und Lothringen, Frage 5, Seite 157; Kempf für Balkan, Tschechoslowakei, Polnisch-Oberschlesien, Frankreich, Belgien, Holland, Luxemburg; Seyß-Inquart für Holland, Band XVI, Seite 19 des deutschen Protokolls; Hirschfeld für Frankreich, Belgien, Tschechoslowakei, Oberitalien, Ungarn, Balkan, Polen.

Sofort nach der Ernennung des Mitangeklagten Dönitz zum Nachfolger Hitlers hat er diesem Befehle vorgelegt, die jegliche Zerstörung in den noch besetzten Gebieten Norwegens, der Tschechoslowakei und Hollands untersagten, sowie ein Verbot der Werwolftätigkeit aussprachen, wie aus den Aussagen der Zeugen von Poser und Kempf hervorgeht.

Während in den besetzten Gebieten keine unmittelbare Zuständigkeit Speers für die Durchführung von Zerstörungen in der Industrie gegeben war, hatte er diese Aufgaben innerhalb der [237] Grenzen des sogenannten Großdeutschen Reiches in eigener Verantwortung mit seinen Dienststellen durchzuführen.

Er mußte hier eine besondere Tätigkeit entfalten, um die von Hitler hartnäckig geforderte vollständige Zerstörung aller Sachwerte zu verhindern. Über diesen Vernichtungswillen Hitlers und seiner Gauleiter geben die Aussagen der Zeugen Guderian, Rohland, Hupfauer, von Poser, Stahl und Kempf Auskunft.

Das wichtigste Dokument hierzu ist das unter Speer-Exhibit Nummer 24 eingereichte Schreiben Speers an Hitler vom 29. März 1945, in dem Speer die Bemerkungen Hitlers bei der Unterredung am 18. März 1945 nochmals wiedergibt. – Dieses Dokument zeigt mit Deutlichkeit, daß Hitler sich die vollständige Zerstörung der Lebensgrundlagen des deutschen Volkes vorgenommen hatte. Dies Dokument dürfte für eine künftige Historiographie der Hitler-Zeit besonders aufschlußreich sein.

Im Zusammenhang hierzu ist die Zeugenaussage des Generaloberst Guderian zu lesen, der bestätigt, daß Hitler im Februar 1945

erstens: sein unvermeidliches Schicksal mit dem des deutschen Volkes verwechselte,

zweitens: den sinnlosen Kampf mit allen Mitteln fortsetzen wollte, und daß er dabei

drittens: die rücksichtslose Zerstörung aller Sachwerte befahl.

Guderian Seite 177, Seite 179 meines Dokumentenbuches.

Gleichzeitig konnten aber auch die Zerstörungs-und Räumungsbefehle Hitlers und Bormanns, die diese am Tage nach der Besprechung mit Speer folgen ließen und die von eindringlicher Deutlichkeit sind, dem Gericht als Dokument unter Speer-Exhibit Nummer 25 bis 28 vorgelegt werden.

Speer war bereits seit Mitte März 1944 dazu entschlossen, alles zu tun, um dem deutschen Volk bei dem unvermeidlich verlorenen Krieg die notwendigsten Lebensgrundlagen zu erhalten, wie es der Zeuge Rohland bestätigt. Er wiederholte diesen Entschluß mit steigender Gefahr seinen Mitarbeitern gegenüber immer dringlicher, wie die Zeugin Kempf, die Zeugen von Poser und Stahl für Juli/August 1944, und die Zeugen Stahl, Kempf und von Poser, Rohland und Hupfauer für die kritische Zeit ab 1945 bestätigen.

Unzählige Erlasse Speers, die sich mit der Erhaltung industrieller Anlagen befassen, herausgegeben zwischen September 1944 bis Ende März 1945, konnten dem Gericht lückenlos vorgelegt werden.

Sie waren zunächst ohne Autorisierung Hitlers herausgegeben, fanden aber durch geschickt vorgebrachte Illusion, daß das Gebiet wieder zurückerobert werden könnte, teilweise seine Billigung.

Daß Speer diese Illusion Hitlers bewußt dazu ausnützte, die Zerstörungen zu verhindern, ohne diese aber selbst zu teilen, beweisen [238] die Aussagen Rohlands, Kempfs und von Posers und seine zahlreichen Denkschriften über die Kriegslage. Ab Anfang Februar 1945 ließ Hitler sich auf eine derartige Argumentation nicht mehr ein. Die Einleitung zu seinen Zerstörungsbefehlen vom 19. März 1945 zeigt im Gegenteil, daß er es für notwendig hielt, einer derartigen Argumentation entgegenzuwirken. Speer gab durch Gegenbefehle, so vom 30. März 1945 – Speer-Exhibit Nummer 29, Seite 81 des Dokumentenbuches – für alle Industrieanlagen, sowie vom 4. April 1945 für alle Schleusen und Talsperren Weisungen, entgegen den Absichten vorliegender Befehle Hitlers die Zerstörungen in der Industrie nicht vorzunehmen. Das bestätigen im übrigen die Zeugen Kempf, von Poser und Rohland.

Im Monat März ging vorübergehend die Befehlsgewalt zur Durchführung von Zerstörungen an Industrieanlagen und anderen Sachwerten von Speer an die Gauleiter über.

In dieser Periode hat Speer in offener Widersetzlichkeit gehandelt und durch Fahren in die gefährdeten Gebiete für eine Sabotage dieser Befehle gesorgt. So hat er zum Beispiel die vorhandenen Sprengstoffvorräte dem Zugriff der Gauleiter planmäßig entzogen, wie durch die Zeugen von Poser, Kempf und Rohland ausgesagt wurde, und hat ferner angeordnet, daß die sogenannten Industriesprengstoffe, die für Sprengungen verwandt wurden, nicht mehr hergestellt wurden, wie aus der Aussage des Zeugen Kehrl, des Chefs des Rohstoffamtes seines Ministeriums, hervorgeht.

Wichtig erscheint, daß Hitler von Speer eindringlich schriftlich auf die Folgen von Zerstörungen für die Zukunft des deutschen Volkes aufmerksam gemacht wurde, wie aus der unter Speer-Exhibit Nummer 23 eingereichten Denkschrift Speers vom 15. März 1945 hervorgeht. Hierin hat Speer festgestellt, daß mit den geplanten Zerstörungen von Industrieanlagen und Brücken, zum Beispiel des Ruhrgebietes, der Wiederaufbau Deutschlands aus eigener Kraft nach dem Kriege unmöglich gemacht würde. So hat Speer zweifelsohne das Hauptverdienst daran, daß heute der industrielle Wiederaufbau West- und Mitteleuropas schneller fortschreiten kann und daß in den Ländern Frankreich, Belgien und Holland nach deren neuesten Angaben bereits die Friedensproduktion des Jahres 1938 fast wieder erreicht werden konnte.

Speer war der für die Produktionsmittel, das heißt für die Fabriken und deren Einrichtungen verantwortliche Minister. Er saß damit an der Schaltstelle, durch die die Hitlerschen Absichten, die Zerstörungen durchzuführen, durchlaufen mußten. Wir haben in diesem Prozeß gesehen, wie sehr derartige Schaltstellen im autoritären System in der Lage sind, den Willen des Staatsoberhauptes in größter Breite durchzuführen. Es war eine glückliche Fügung, daß in der entscheidenden Zeit ein klardenkender Mann [239] wie Speer die Stelle, von der die Industriezerstörungen ausgehen mußten, leitete.

Speer hat jedoch auch außerhalb dieses seines Aufgabenkreises mit zunehmender Verschärfung Maßnahmen ergriffen, um dem deutschen Volk den Übergang zu erleichtern und gleichzeitig den Krieg abzukürzen.

So versuchte Speer, die Zerstörung der Brücken zu verhindern. Jeder Deutsche weiß, daß bis in die letzten Tage des Krieges und bis in den letzten Winkel des Deutschen Reiches in unsinniger Weise Brücken zerstört wurden.

Trotzdem hatten seine Bemühungen zweifellos einen Teilerfolg. Die zahlreichen Besprechungen, die Speer hierüber mit den verschiedensten militärischen Befehlshabern hatte, werden von den Zeugen Kempf und Oberstleutnant von Poser bestätigt. Dieser Zeuge war Verbindungsoffizier Speers zum Heer und bei allen Frontreisen anwesend. Diese Besprechungen hatten einen teilweisen Erfolg. Schließlich versuchten der Chef des Generalstabs des Heeres, Generaloberst Guderian, und Speer, auf des letzteren Vorschlag hin, bei Hitler eine Abänderung seiner Zerstörungsbefehle für Brücken Mitte März 1945 zu erreichen, wie es der Zeuge Generaloberst Guderian bestätigt, jedoch ohne Erfolg.

Weil Speer wußte, welch unabsehbare Folgen diese Brückenzerstörungen haben mußten, gab er schließlich am 6. April 1945 unter dem Namen des Generals Winter vom OKW sechs Befehle heraus, die die Schonung von Brücken wichtiger Bahnlinien im Reich und des gesamten Ruhrgebietes veranlassen sollten. Diese eigenmächtigen Befehle wurden durch die Aussagen der Zeugen von Poser und Kempf bestätigt.

Als Speer Ende Januar 1945 feststellte, daß die Ernährungssicherung des deutschen Volkes auf weite Sicht und insbesondere die Frühjahrsbestellung für die Ernte 1945 gefährdet war, ließ er die Forderungen der von ihm vertretenen Rüstung und Produktion hinter die Interessen der Ernährung zurückstellen.

Daß dies nicht nur für die laufende Ernährung geschah, sondern um gerade nach der Besetzung durch die alliierten Truppen den Übergang zu erleichtern, geht aus den Aussagen der Zeugen Hupfauer, Kehrl, Rohland, von Poser, Riecke, des Staatssekretärs im Ernährungsministerium, Milch, Kempf und Seyß-Inquart hervor.

Als Speer erneut Grund für die Befürchtung zu haben glaubte, daß Hitler, veranlaßt durch engste Mitarbeiter aus Parteikreisen, im Herbst 1944 und dann im Frühjahr 1945 das moderne Giftgas anwenden würde, stellte er sich dem entschieden entgegen, wie aus seinem Kreuzverhör durch den amerikanischen Anklagevertreter, Herrn Oberrichter Jackson, und aus der Aussage des Zeugen Brandt hervorgeht. Die Aussage Speers, daß aus dieser Befürchtung heraus [240] bereits im November 1944 auf seine Veranlassung die deutsche Giftgasproduktion stillgelegt wurde, wird durch den Zeugen Schieber bestätigt. Speer hat gleichzeitig festgestellt, daß aber auch die militärischen Stellen einmütig gegen einen derartigen Plan eingestellt waren.

Schließlich hat der Angeklagte Speer ab Ende Februar 1945 durch Planung von Komplotten versucht, dem Krieg ein schnelleres Ende zu bereiten.

Sowohl aus den Aussagen des Zeugen Stahl wie auch aus denen des Zeugen von Poser geht hervor, daß Speer noch andere Gewaltmaßnahmen plante. Oberrichter Jackson hat ebenfalls im Kreuzverhör Speers festgestellt, daß der Anklage noch weitere Pläne, die unter Führung Speers durchgeführt werden sollten, bekannt seien.

Die politische Haltung Speers wird neben allen diesen Handlungen durch zwei Tatsachen beleuchtet:

Erstens: In der Denkschrift Speers an Hitler, die unter Exhibit 1 eingereicht wurde, stellt dieser fest, daß er von Bormann und Goebbels als parteifremd und parteifeindlich bezeichnet werde und daß ihm eine Weiterarbeit nicht möglich sei, wenn er und seine Mitarbeiter mit parteipolitischen Maßstäben gemessen werden.

Zweitens: Am 20. Juli 1944 wurde Speer von den Putschisten in der Regierungsliste weiter als Rüstungsminister aufgeführt, und zwar als einziger Minister des hitlerischen Systems, wie die Zeugen Ohlendorf, Kempf und Stahl aussagen.

Ist es möglich, daß diese Kreise Speer als Minister vorgesehen hätten, wenn er nicht seit langem als anständiger, unpolitischer Fachmann im In- und Ausland gegolten hätte? Ist nicht gerade die Tatsache, daß er als einer der engsten Mitarbeiter Hitlers zu dieser Tätigkeit vorgesehen war, weiter ein Zeichen für die Hochachtung, die ihm die Opposition entgegenbrachte?

Meine Herren Richter!

Lassen Sie mich noch einige grundsätzliche Worte zu dem Fall Speer sagen. Als der Angeklagte mit 36 Jahren das Amt des Ministers übernahm, befand sich sein Land in einem Kampf auf Leben und Tod. Der ihm übertragenen Aufgabe konnte er sich nicht entziehen. Er setzte seine ganze Energie zur Lösung der Aufgabe ein, die fast unlösbar schien. Die Erfolge, die er dabei erzielte, trübten nicht seinen Blick für die wirkliche Lage der Dinge. Zu spät erkannte er, daß Hitler nicht an sein Volk, sondern nur an sich selbst dachte. In seinem Buch »Mein Kampf« hat Hitler geschrieben, daß eine Regierung eines Volkes sich stets bewußt bleiben müsse, daß sie das Volk nicht in das Verderben reißen dürfte. Sie hätte dann vielmehr die Pflicht, so rechtzeitig abzutreten, daß das Volk weiterleben könne. Derartige Grundsätze galten bei Herrn Hitler [241] natürlich nur für Regierungen, an denen er nicht beteiligt war. Für sich selbst aber vertrat er den Standpunkt, daß, wenn das deutsche Volk diesen Krieg verliere, hätte es sich als das schwächere erwiesen und keine Lebensberechtigung mehr. Gegenüber dieser brutalen Ichsucht hatte Speer auch das Gefühl bewahrt, daß er Diener seines Volkes und Staates sei. Ohne Rücksicht auf seine Person, ohne Bedacht auf seine Sicherheit, handelte Speer so, wie er es seinem Volke gegenüber für seine Pflicht hielt.

Speer mußte Hitler verraten, um seinem Volk die Treue zu halten. Der Tragik, die in diesem Schicksal liegt, wird niemand seine Achtung versagen können.

VORSITZENDER: Ich rufe jetzt Dr. von Lüdinghausen auf, den Verteidiger des Angeklagten von Neurath.

DR. OTTO FREIHERR VON LÜDINGHAUSEN, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN VON NEURATH: Euer Lordschaft, meine Herren Richter! »Noch nie ist mir der Krieg so verabscheuungswürdig erschienen.« Dieses Wort schrieb Napoleon Bonaparte im Jahre 1799 an das Direktorium in Paris nach der siegreichen Einnahme von Jaffa, wo er 2000 gefangene Türken hatte erschießen lassen. Dieses Wort eines der größten Kriegsmänner aller Völker enthielt die absolute Verurteilung nicht nur des Krieges an sich, sondern auch aller seiner damals noch für unvermeidlich, aber erlaubt gehaltenen Mittel der Kriegführung. Und die in diesem Wort liegende Erkenntnis seiner ethischen Verurteilung des Krieges ist nicht umsonst gesprochen worden. Schon in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts setzten die Bestrebungen moralisch und ethisch hochstehender Persönlichkeiten ein, um wenigstens etwas die Furchtbarkeiten des Krieges zu mildern und auszuscheiden. Die Gründung des Roten Kreuzes in Genf war der erste sichtbare und weithin leuchtende Erfolg dieser Bestrebungen, die erste Frucht des Napoleonischen Wortes. Dieses Wort ist aber auch, ich möchte sagen, die eigentliche Geburtsstunde des heutigen Gerichtsverfahrens. Auch dieses ist ja verursacht und diktiert von dem Bestreben, nicht nur den Krieg in der Art seiner Führung, in der Freiheit der Anwendung seiner Mittel und Handlungen zu beschränken, sondern darüber hinaus Mittel und Wege zu finden, den Krieg überhaupt aus den Beziehungen der Völker zueinander als ein Mittel der Politik auszuschalten. Es erstrebt das gleiche hohe Ziel, auch im Völkerleben, im Neben- und Miteinanderleben der Staaten, ein internationales Recht zu schaffen, dem sich alle Staaten und Völker, soweit sie als Kulturstaaten angesprochen zu werden wünschen, unterwerfen, an das sie ebenso gebunden sind, wie der einzelne Staatsangehörige an das von seinem Staate für das Zusammenleben seiner Angehörigen gegebene Gesetz. Und wenn Sie alle, meine Herren Richter, wenn die ganze Welt es verstehen wird, wie unsagbar[242] schmerzvoll es für uns Deutsche ist, daß gerade ein von unserem deutschen Staat und Volk geführter Krieg diesen Versuch, ein solches internationales Recht zu schaffen, ins Leben gerufen hat, so haben mein Klient, der Angeklagte Freiherr von Neurath, und ich doch nicht anders gekonnt, als diesen in diesem Gerichtsverfahren liegenden Versuch zu begrüßen, denn der oberste Leitfaden für die ganze amtliche Tätigkeit meines Klienten vom ersten bis zum letzten Tage war das Bestreben, Kriege zu verhindern, dem Frieden zu dienen. Und ich stehe nicht an, diese Tatsache besonders zu betonen, trotzdem mein Klient auf Grund eines völlig neuen Rechtssatzes heute vor diesem Gericht steht. Denn zum ersten Male in der Geschichte soll ja hier der Gedanke verwirklicht werden, daß der oder die Staatsmänner eines Volkes für die von ihnen verursachter Angriffskriege und die in einem solchen zur Anwendung gelangten inhumanen und grausamen Mittel persönlich verantwortlich und strafbar sind. Dieser durch dieses Hohe Gericht zu verwirklichende Gedanke ist als Rechtssatz ein absolutes Novum in der Geschichte des Völkerrechts. Aber wenn das heutige Gerichtsverfahren und das ihm zugrunde liegende Statut nicht nur ein einmaliges, nur auf diesen einen Fall, das heißt den soeben beendeten Krieg berechnetes und bestimmtes Verfahren ist, wenn es nicht nur aus dem Gedanken der Vergeltung für den Siegerstaaten angetane Übel und Schäden geboren und deren Befriedigung zu dienen bestimmt, sondern wenn es wirklich aus dem Willen und dem Entschluß entsprungen ist, durch die Stipulierung der persönlichen Verantwortlichkeit der Staatsmänner der Völker den Krieg an sich und seine Grausamkeiten überhaupt auszuschalten, dann bedeutet es wirklich eine von jedem Friedensfreunde aus ehrlichster Überzeugung zu begrüßende Tat. Zudem enthält es zwei Momente, die geeignet erscheinen, die ganze bisherige Handhabung und Führung der Außenpolitik der Staaten der Erde zu revolutionieren und auf eine neue, ethisch zweifellos höhere Basis zu stellen.

Seit altersher, schon seit Perikles berühmter Rede und Platos Lehre vom Staat, war und ist es das oberste, fast möchte ich sagen, einzigste Postulat für die Politik eines Staatsmannes und seiner Beurteilung in der Geschichte, alles daran zu setzen, seinem Volk den seiner Führung anvertrauten Staat, das für seine Existenz, für die Erhaltung und Verbesserung seiner Lebensbedingungen, seiner Machtstellung unter den Völkern Höchstmögliche zu erreichen, gleichgültig mit welchen Mitteln. Jedes Volk der Erde hat in seiner Geschichte Staatsmänner, die von diesem Standpunkt aus als Heroen, als leuchtende Vorbilder, gefeiert und geehrt, als solche in die Geschichte eingegangen sind, nur weil sie Erfolg gehabt haben, ohne zu prüfen, ob die von ihnen zur Erreichung des Erfolges angewandten Mittel mit den ethischen Grundsätzen nicht nur der christlichen, sondern aller hochstehenden Sittenlehren im Einklang [243] standen oder nicht. Dieser Maxime stellt das Statut dieses Hohen Gerichtshofs eine neue Maxime entgegen, in dem es schlechthin jeden Angriffskrieg in der Person des für ihn verantwortlichen Staatsmannes für strafbar erklärt, ganz ohne Rücksicht darauf, ob dieser Angriffskrieg erfolgreich war oder nicht. Das bedeutet aber nichts anderes als die Unterwerfung jeder, auch der erfolgreichsten und sieghaftesten Staatsführung unter das Sittengesetz der Verwerflichkeit jeder Gewaltanwendung als Mittel der Politik. Es bedeutet aber auch gleichzeitig, wenn dies einen praktischen Sinn und Erfolg haben soll, die Unterwerfung jeder Staatsführung unter die Nachprüfung und Verurteilung seitens der übrigen Kulturstaaten der Erde, wobei nach dem Statut dieses Hohen Gerichts dieser Nachprüfung und eventuellen Verurteilung auch innerpolitische Maßnahmen unterliegen, in denen nachträglich Vorbereitungshandlungen für diesen Krieg erblickt werden. Es würde zu weit führen, die sich hieraus ergebenden Konsequenzen zu erörtern, es muß dies vielmehr den Staatsrechtlern und der weiteren Entwicklung überlassen bleiben, und ich möchte mich daher beschränken, nur auf eine Konsequenz hinzuweisen, nämlich die, daß diesem Urteil eines künftigen Völkergerichtshofs und damit der Möglichkeit der Bestrafung des oder der für den Angriffskrieg verantwortlichen Staatsmänner wegen der Planung, Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges auch dann unterliegen, wenn dieser siegreich war. Vielleicht liegt hierin das Hauptgewicht, die größte Ethik der neuen in dem Statut niedergelegten Bestimmungen und Grundsätze. Wenn ich dieses Moment besonders hervorhebe, so geschieht dies nicht etwa, weil mein Klient oder ich daran zweifeln, daß die Verfasser dieses Statuts sich dieser Konsequenzen ebenfalls voll und ganz bewußt gewesen sind. Daß aber dieser neue Gedanke im internationalen Recht und von den alliierten Regierungen erstmalig nicht durch ein Machtdiktat, sondern in einem mit allen Kautelen der Objektivität und Unparteilichkeit ausgestatteten Gerichtsverfahren vor der Weltöffentlichkeit zur Anwendung gebracht werden soll, darin sehen mein Klient und ich den Beweis dafür, daß dieses Verfahren geboren ist und getragen wird von den idealen Bestrebungen, die Menschheit von der Geißel des Krieges zu befreien. Und wenn auch von seiten meines Klienten und mir selbst keineswegs verkannt wird, daß das Statut und dieses auf ihm beruhende Gerichtsverfahren in dem wichtigen Punkte, daß Hier über mancherlei Handlungen abgeurteilt und gestraft werden soll, die zur Zeit ihrer Begehung unstreitig durch kein Gesetz, auch keinen Präjudizfall unter Strafe gestellt waren, in schroffem Gegensatz zu den Rechtsgrundsätzen aller demokratischen Staaten, zu jedem demokratisch-liberalen Rechtsprinzip steht, werden mein Klient und ich doch getragen von der Überzeugung, daß dieses Hohe Gericht seiner Urteilsfindung nicht nur zusammenhanglose, [244] aneinandergereihte einzelne Handlungen, einzelne nackte Tatsachen zugrunde legen, sondern mit ganz besonderer Gewissenhaftigkeit die ihnen zugrunde liegenden Motive und Absichten jedes einzelnen Angeklagten untersuchen und prüfen werde. Und wenn Sie dann, meine Herren Richter, wovon ich überzeugt bin, werden feststellen müssen, daß mein Klient vom ersten bis zum letzten Tage seiner amtlichen Tätigkeit, sei es als Reichsaußenminister, sei es als Reichsprotektor, nur von dem einen Wunsch erfüllt, sein ganzes Tun und Handeln nur von dem Bestreben diktiert war, einen Krieg und seine Grausamkeiten zu verhindern, den Frieden zu erhalten, daß er gerade durch sein Verbleiben im Amt lediglich diesem seinem Bemühen diente, durch seinen Einfluß den Krieg und seine Unmenschlichkeiten zu verhindern und er erst dann von seinem Posten zurücktrat, als er einsehen mußte, daß alle seine Bemühungen vergeblich blieben, daß der Wille und Entschluß des Obersten Staatslenkers, das heißt Hitlers, zum Kriege stärker war als er, dann kann unmöglich in der Tatsache seiner Zugehörigkeit und seines Verbleibens in der Reichsregierung bis zu diesem Moment eine Billigung, geschweige denn Mitwirkung und Mittäterschaft bei der Planung, Vorbereitung oder Führung des Krieges erblickt und ihm die Mitverantwortung für den Krieg oder gar für in diesem begangene Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten auferlegt werden.

Gerade der hier zum mindesten im Internationalen Recht und von demokratischen Staaten erstmalig zur Anwendung gelangende Rechtssatz, daß eine bereits begangene Tat erst nachträglich durch ein Gesetz unter Strafe gesetzt werden kann, verlangt zur Verurteilung des Angeklagten gebieterisch die Prüfung und Beantwortung der Frage der subjektiven Schuld des Angeklagten, das heißt das Bewußtsein nicht nur der Amoralität und der angeblichen Strafbarkeit der betreffenden Tat, sondern auch des Willens zur Begehung der Tat oder zum mindesten zur aktiven Beihilfe trotz dieses Bewußtseins. Die Nichtberücksichtigung dieses Postulats würde das ganze Verfahren nicht nur seiner hohen ethischen Bedeutung entkleiden, sondern der Willkür Tür und Tor öffnen und in der Welt ein solches Gerichtsverfahren nicht als ein wirkliches Gericht im wahrsten und tiefsten Sinne dieses Wortes erscheinen lassen, sondern nur als ein in die Robe des Gerichts gekleidetes Machtdiktat.

Eine ungeheuere Verantwortung, so groß wie noch keinem Gericht der Welt, ist damit auf Ihre Schultern gelegt. Sie sollen, meine Herren Richter, nach dem Willen und dem Gedanken des Vaters dieses Prozesses, des für die gesamte Welt viel zu früh verstorbenen Präsidenten Roosevelt, den ersten Grundstein legen für den Friedenstempel der Völker der Erde. Sie sollen das Fundament bauen zur Erreichung des ihm vorschwebenden Ideals des [245] ewigen Friedens. Auf Ihrem Urteil sollen die kommenden Geschlechter weiterbauen. Sie sollen die Richtlinien für die Zukunft geben, nach denen die, die nach uns kommen, weiterstreben sollen nach diesem hohen Ziel. Nicht einen Präzedenzfall sollen Sie schaffen, nicht einen Einzelfall sollen Sie richten und die nach Ihrem Urteil schuldigen Männer bestrafen, sondern Sie sollen die fundamentalen Grundsätze eines neuen internationalen, in Zukunft die Welt beherrschenden Völkerrechts niederlegen. Dies allein, diese Ihnen gestellte Aufgabe gibt diesem Gericht seinen Sinn, seine Rechtfertigung und seine hohe ethische Weihe, vor der wir uns beugen. Zugleich aber liegt hierin die Erkenntnis, daß das über die Angeklagten von Ihnen zu fällende Urteil nicht ein Urteil im gewöhnlichen Sinne, nicht nur ein Richterspruch über einzelne Angeklagte und ihre Taten ist, sondern das fundamentale neue Gesetz selbst, aus welchem alle späteren Gerichte Recht schöpfen, nach dem diese ihre Urteile fällen sollen.

Ihnen, meine Herren Richter, obliegt daher die Aufgabe, die Vorschriften des Statuts in prinzipieller Form auszulegen, die Regeln und Grundsätze aufzustellen für die praktische Anwendung des Statuts in aller Zukunft. Die Verantwortung, die Sie damit vor der Geschichte übernehmen, stellt Sie vor die Entscheidung zweier grundlegender Fragen, deren Beantwortung um so schwerwiegender ist, als der in dem Statut verankerte, den rechtlichen Grund der Anklage bildende Rechtsbegriff der Conspiracy nicht nur der Mehrzahl der Völker, vor allem der europäischen, ein fremder ist, sondern auch in seiner bisherigen Anwendung in dem einen oder anderen Lande erwachsen ist aus der Bekämpfung von gemeinen Verbrechen und Vergehen gegen rein innerstaatliche Gesetzesvorschriften, und nur dieser galt. Zwangsläufig ergibt sich hieraus das Postulat, daß die Art und Weise der Auslegung und Anwendung dieses Rechtsbegriffes im Völkerrecht nie und nimmer die gleiche sein kann und darf wie bei der Bekämpfung gemeiner Verbrecherbanden, die sich vergangen haben gegen die jeweilige soziale Ordnung eines Staates und gegen die zu deren Schulz erlassenen Gesetze. Bei letzteren handelt es sich durchweg um mehr oder weniger amoralisch Veranlagte oder aus Eigennutz, Geldgier oder sonstigen unsittlichen Instinkten handelnde Einzelpersonen, die sich außerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung stellen. Im Völkerrecht handelt es sich aber letzten Endes, vor allem soweit Angriffskriege in Frage kommen, nicht so sehr um den oder die einzelnen Staatsmänner, sondern um ganze Völker. Die Zeiten des absoluten Fürstentums, in denen allein der Wille des Herrschers die Geschicke und Handlungen eines Volkes bestimmten, sind endgültig vorbei. Ohne oder gar gegen den Willen oder auch nur die stillschweigende Zustimmung des Volkes, zum mindesten seiner Mehrheit, ist heute wohl kein ausgesprochener Alleinherrscher, kein [246] allmächtiger Despot mehr denkbar. Und so sitzt denn auch hier, es muß dies einmal ausgesprochen werden, unsichtbar hinter den Angeklagten auch unser armes, geschlagenes und gequältes deutsches Volk auf der Anklagebank, das einen Mann auf den Schild hob und zu seinem Führer machte, der es ins Verderben stürzte. Zwangsläufig ergibt sich hieraus die unabweisbare Forderung, daß hier, anders als bei der Conspiracy gewöhnlicher Verbrecher, bei der Anwendung des Begriffes der Conspiracy im Völkerrecht in allererster Linie untersucht und geprüft werden muß, wieso es überhaupt dazu kam, dazu kommen konnte, daß ein geistig hochstehendes Volk, das der Erde so viel Großes an Kultur und Geistesgütern geschenkt hat wie das deutsche Volk, überhaupt einem Manne wie Hitler zujubelte, ihm in den blutigsten aller Kriege folgte und ihm sein Letztes und Bestes gab. Nur dann, wenn Sie, meine Herren Richter, dies in den Kreis Ihrer Erwägungen einbeziehen, diese Frage untersuchen, können Sie auch hinsichtlich der einzelnen Angeklagten selbst, schon aus Gründen der Verschiedenartigkeit zu einem gerechten Urteil gegen die einzelnen kommen, das vor der Geschichte Bestand hat. Und so habe ich es denn nicht nur für mein Recht als Verteidiger meines Klienten, des Angeklagten von Neurath, sondern auch für meine Pflicht als Deutscher gehalten, Ihnen in ganz großen Zügen die Erklärung für diese, der außerdeutschen Welt unerklärlichen Tatsache der Nazi-Herrschaft zu geben, Ihnen vor Augen zu führen, wie es infolge der Auswirkungen des Versailler Vertrags und nicht zuletzt seiner Handhabung hierzu gekommen ist, ja mit geschichtlicher Notwendigkeit hierzu kommen mußte.

Nachdem in den weltumspannenden Kämpfen seiner großen Kaiser nach dem Tode der letzten derselben, des Kaisers Friedrich Barbarossa, die Königsgewalt zugrunde ging, ging mit diesem Zerfall zugleich auch das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, das nationale Bewußtsein wieder mehr und mehr verloren, und es erhob wieder die alte Hydra der Uneinigkeit der deutschen Stämme ihr vielköpfiges Schlangenhaupt. Auf den zerfallenen Trümmern des deutschen Königtums entstand eine neue Welt partikularistischer, territorialer Gewalten. Geistliche und weltliche Fürsten, Reichsstädte, Grafen und Ritter bildeten im Laufe der nächsten Jahrhunderte ein formloses wirres Mosaik unfertiger größerer, kleinerer und kleinster Staatengebilde, das jedes einheitliche Staats- und Volksgefühl untergrub und erstickte, Fürsten, Adel, Bürger und Bauern gingen ein jeder eigene Wege. Partikularistische, selbstsüchtige Interessen der einzelnen Stände vereitelten alle Versuche, die Fülle der schöpferischen Kräfte im deutschen Volke politisch zu ordnen, die zerfallende Staats- und Volkseinheit in irgendeiner Form wieder aufzurichten. Zu alledem kam um die Wende des 15. Jahrhunderts noch ein Ereignis, das vielleicht die größte Tragik in der Geschichte des deutschen Volkes ist: Die aus dem tiefsten Urgrund deutschen Religionsgefühls, deutschen religiösen Denkens und Fühlens geborene Reformation Luthers. Aber anstatt daß diese Reformation die deutschen Stämme wieder zusammenschloß, wieder in dem in Hunderte kleine Teile zerspaltenen Volk ein gemeinsames Ideal und damit das Bewußtsein einer Volksgemeinschaft weckte, trug sie in dieses arme zerrissene Volk unter und durch den Einfluß eines zwar wieder mächtigen, aber dem deutschen Wesen und der aus diesem geborenen Reformation verständnislos, ja feindselig gegenüberstehenden deutschen Kaisers einen noch größeren, tieferen Zwiespalt hinein, den Zwiespalt des Glaubens. Denn mit Feuer und Schwert versuchte Karl V. diese von ihm als ketzerisch, also sündhaft empfundene Reformation zu bekämpfen und führte damit das deutsche Volk in die dunkelste [247] Stunde seiner Geschichte hinein. In den folgenden Religionskriegen kehren Deutsche die Waffen gegen Deutsche, vergessen ihre deutsche Zusammengehörigkeit so weit, daß sie fremde Völker gegen die eigenen Stammesgenossen zu Hilfe rufen, Seite an Seite mit diesen sich selbst zerfleischen. Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges ist Deutschland, des deutschen Volkes Ohnmacht endgültig besiegelt. Es wird zum Spielball und Gelüste seiner Nachbarn, zum willkommenen Kriegsschauplatz fremder Völker. Und das alles zu einer Zeit, als das englische Volk unter seiner genialen Königin Elisabeth und kurz nach dieser unter Oliver Cromwell und einem verantwortungsbewußten, vom Volke frei gewählten Parlament den Grundstock legte zu seiner späteren Weltmacht. Zu einer Zeit, als das französische Volk unter einem tatkräftigen, machtvollen Königtum nach Niederwerfung seiner Feudalherren längst zu einer völligen Einheit, zu einer Nation zusammengeschweißt war. In Deutschland aber erstarrte jeder deutsche Gedanke: Mit der durch die langen Kriege verursachten Verarmung versank jedes nationale Bewußtsein, nicht nur auf politischem, sondern auch auf geistigem Gebiet, selbst in seiner Sprache. Mit fremden Idiomen verbrämte jetzt das Volk seine alte Sprache, und seine Denker schrieben französisch oder lateinisch. Über den kleinen Sorgen eines armseligen Tages geht der Masse des deutschen Volkes auch die letzte Erinnerung an die Reichshoheit vergangener Jahrhunderte verloren. Fremd und nicht mehr verstanden ragen die Zeugen vergangener deutscher Bürgerherrlichkeit, die gotischen Dome, in die verwandelte Welt. Ein jeder lebte nur für sich, für seine arme kleine Existenz. War es ein Wunder, daß auf solchem verelendeten Boden unter den Ausstrahlungen des bewunderten französischen Königtums an fast allen deutschen Höfen bis herab zu den kleinsten Herrschaften ein Absolutismus erwuchs, der es diesen größeren und kleineren Herren ermöglichen sollte, den Sonnenkönig Frankreichs nachzuahmen. Erst als das deutsche Volk sich zu Beginn des vorigen Jahrhunderts im Bunde mit anderen Völkern gegen die napoleonische Fremdherrschaft erhob, erwachte in diesen Befreiungskriegen wieder das Bewußtsein einer deutschen Volksgemeinschaft, erwachte wieder der seit acht Jahrhunderten trotz allem tief im Volke schlummernde Wunsch nach dem Wiedererstehen der alten Herrlichkeit eines geeinten und geachteten Reiches deutscher Nation in neuer Form. Doch erst nach jahrzehntelangen Mühen und Enttäuschungen wurde vor nunmehr 75 Jahren dieser Sehnsuchtstraum zur Wirklichkeit, entstand wieder ein geeintes Deutsches Reich in neuer Form. In dieser Stunde erst aber wurde auch zum erstenmal in seiner Geschichte das deutsche Volk durch die neue Reichsverfassung herangezogen, um mitzuraten und mitzutaten bei der Lenkung dieses neuen Reiches, wurde ihm mit diesem Recht zugleich auch die Pflicht zur Mitverantwortlichkeit an der Staatsführung auferlegt. So begeistert und freudig es dieses Recht auch begrüßte, so wenig vermochte es doch auf Grund seiner Vergangenheit sogleich die ungeheure Schwere dieser Pflicht zu ermessen. Ist es nicht auch wahrlich zuviel verlangt, daß ein seit Jahrhunderten in seiner Masse von jeder Mitbeteiligung an der Lenkung seines Staates und Geschickes ferngehaltenes Volk in wenigen Jahren das lernen soll, was die übrigen Völker allmählich in Jahrhunderten erlernten, zu einem selbstverständlichen Bestandteil ihres Daseins, ihres Denkens, Handelns und Fühlens gemacht hatten. Es war kein geringerer als einer der führenden Männer der ältesten Demokratie der Welt, der britische Lord-Präsident des Rates, Stanley Baldwin, der in seiner Unterhausrede vom 11. März 1935 die Demokratie als die schwierigste Regierungsform bezeichnete, die nur dann funktionieren kann, wenn das ganze Volk verständnisvoll zu denken und wohlerwogene Meinungen zu bilden vermag und sich nicht durch Propaganda und Gefühle mitreißen läßt. Hier liegt der fundamentale, durch keine Dialektik wegzuwischende Unterschied zwischen dem deutschen Volk und den übrigen westlichen Völkern, aus dem sich zum größten Teil auch die Entwicklung der Dinge in den letzten sieben Jahrzehnten erklärt. Ein ganzes Volk, mag es noch so begabt und tüchtig sein, kann man nicht wie einen einzelnen Menschen in einer kurzen Zeitspanne von 50 Jahren schulen und zur Vollendung auf einem ihm bis dahin fremden Gebiet erziehen. Nur durch Erfahrung, nur ganz allmählich und langsam wächst politisches Denken, wächst der Sinn, der Instinkt und die Gabe für die Erkenntnis dessen, was richtig ist, wächst die Urteilskraft für das, was dem ganzen Volk und Staat dient, wächst die Kenntnis und das Verständnis der Zusammenhänge im politischen und sozialen Leben, wächst endlich auch die Erkenntnis, daß jeder einzelne für sich selbst mitverantwortlich ist für das, was für und im Namen seines Volkes geschieht. Unerbittlich bewährt sich das Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart auch in der Geschichte solcher Völker, welche an dieses historische Gesetz [248] nicht glauben oder nicht glauben wollen. Unabwendbar mußte sich die jahrhundertelange Nichtbeteiligung und damit das Fehlen jedweder Mitverantwortlichkeit an der Regierung im deutschen Volk zunächst dahin auswirken, daß es den Männern, die mit der Führung beauftragt waren, vertrauen zu können glaubte, zumal wenn diese Führung besonders auf außenpolitischem Gebiet in der Hand eines Staatsmannes wie Bismarck lag, unter dem das junge Reich unbestreitbar auf allen Gebieten, vornehmlich dem der Wirtschaft, des Wohlstandes, aufblühte, unter dem es eine Periode des segensreichsten Friedens erlebte wie schon lange nicht mehr. Gläubig und unerfahren wie es noch war, glaubte es, dieses gleiche Vertrauen auch den Nachfolgern eines Bismarck entgegenbringen zu dürfen. Aber wenn auch auf dem Gebiete der inneren Politik sich allmählich mancherlei Widerspruch, gegen die von diesen eingeschlagene Politik regte, so war das deutsche Volk in seiner großen Masse auf dem Gebiet der äußeren Politik felsenfest von der Überzeugung durchdrungen, daß auch die neuen Männer nicht von den von Bismarck gewiesenen friedlichen Bahnen abweichen würden. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der von ihnen betriebenen Außenpolitik zu erkennen, war das deutsche Volk in seiner Unerfahrenheit angesichts der überall herrschenden Geheimdiplomatie gar nicht zu beurteilen in der Lage. Es kam ihm daher in seiner großen Masse überhaupt nicht der Gedanke, konnte ihm auch nicht kommen, daß die von den Nachfolgern Bismarcks betriebene Politik zu einem Kriege führen könne. Ihm selbst lag der Gedanke an einen Krieg weltenfern. Es hatte keinen anderen Wunsch, keine andere Sehnsucht, als im Frieden seiner Arbeit, dem inneren Ausbau seines wiedererlangten jungen Reiches, dem Wachsen seines Wohlstandes zu leben.

Es gab nichts außerhalb dieses Wunsches, was des Blutes seiner Söhne wert gewesen wäre. Völlig fassungslos stand es denn auch dem Ausbruch des ersten Weltkrieges gegenüber, und es begriff überhaupt nicht, wie man ihm angesichts des offenkundigen Bemühens seines Kaisers um die Erhaltung des Friedens von fremder Seite die alleinige Schuld an diesem Kriege beimessen zu können glaubte. In tiefstem Ernst, getragen von der heiligsten Überzeugung, daß es nur galt, die Heimat, Weib und Kind gegen unprovozierte Angriffe feindlicher Mächte zu verteidigen, griff es zu den Waffen. Und aus demselben Grunde hat auch nach dem Zusammenbruch seiner Widerstandskraft infolge der Übermacht seiner Feinde das deutsche Volk die ihm in dem Friedensvertrag von Versailles aufgezwungene Anerkennung seiner Alleinschuld an dem Kriege nie, bis an den heutigen Tag nicht, verstanden oder gar gebilligt. Deshalb empfand es auch diesen ganzen Friedensvertrag und empfindet ihn auch heute noch nicht als einen wirklichen Friedensvertrag, sondern als ein ihm von den Siegermächten auferlegtes Friedensdiktat, ein Diktat, das ihm nicht als die Sühne für ein von ihm begangenes Unrecht, die Entfachung des Krieges, sondern einzig und allein als der Ausdruck des Willens zur Vernichtung seiner vor wenigen Jahrzehnten endlich wiedergewonnenen Einheit und Freiheit, seiner Existenz als Volk und Staat erscheint.

Wieder stand dieses arme Volk am Rande des Abgrundes, alles, was in langen Jahrhunderten ersehnt und erträumt, endlich vor wenigen Dezennien zur Wirklichkeit geworden war, drohte wieder in Schutt und Trümmer zu zerfallen. Wieder stand es wie vor Jahrhunderten an der Bahre dessen, was es besessen, stand es wieder vor der Gefahr, seine Existenz als Volk und Staat zu verlieren und in den Jammer früherer dunkler Zeiten zurückzufallen. Nur eines war ihm dieses Mal geblieben, das war das Bewußtsein seines Volkstums, seiner Zusammengehörigkeit als Volk. Und es ist das unvergängliche Ruhmesblatt in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, daß sie dieses Bewußtsein, dieses deutsche Zusammengehörigkeitsgefühl zu ihrer Lösung machte, auf ihr Panier schrieb, es in der großen Masse des Volkes erhielt und stärkte und mit ihrem ganzen Einfluß sich dem auch diesmal wieder erhebenden Separatismus entgegenstellte und damit die Einheit des Reiches, des Volkes zu erhalten half.

War das auch viel, so war es doch nicht alles, denn der Vertrag von Versailles stand als furchtbarste Gefahr vor ihm. Dieser Vertrag legte die Axt an die Wurzel seiner materiellen Existenz, an sein wirtschaftliches Leben und schlug bis zu Generationen ihm wirtschaftliche Fesseln, die es ersticken mußten. Ich brauche ihnen nicht im einzelnen diese Bestimmungen vorzuführen, sie sind Geschichte, und sie wirkten sich schon nach kurzer Zeit zum Schaden der ganzen Welt aus, damit ihre eigene Unhaltbarkeit beweisend. Wen aber mußte das deutsche Volk als den hauptsächlichen Urheber dieses Vertrags ansehen? Nur Frankreich, das damit abermals seine, seit Richelieu Deutschland gegenüber konsequent durchgeführte Politik der Niederhaltung wenn nicht Vernichtung Deutschlands für alle Zeiten verewigen zu können glaubte. Das war der Wunsch und der Traum eines[249] Volkes, das der Welt die Menschenrechte verkündete, dasselbe Volk, das vor 130 Jahren die Parole Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf seine Fahnen geschrieben hatte.

Zu alledem war die innere Revolution hinzugekommen, die es jeder natürlichen und gegebenen Führung beraubt hatte, die ihm den Weg zum Kampf gegen das ihm drohende Chaos hätte weisen können. Aus sich selbst heraus, ohne jede Hilfe, ohne eigene Erfahrung mußte es sich zuerst einmal einen neuen Staat, besser den Grundstein für einen solchen schaffen. Fürwahr, eine gigantische Aufgabe für ein Volk, das bis zu diesem Augenblick in seiner ganzen Vergangenheit immer nur geführt worden war, dem erst seit 50 Jahren ein Mitbestimmungsrecht und damit eine Mitverantwortungspflicht, und auch diese nur in bescheidenem Umfange, beschieden war. War es zu verwundern, wenn diese ihm gestellte Aufgabe schier über seine Kräfte ging, wenn dieses noch nicht zu einer festen politischen Tradition gelangte, innerlich vielfach zerrissene Volk alsbald das Opfer, der Spielball der verschiedensten Propheten wurde, die ihm das Heil nach allen möglichen Richtungen hin versprachen? So kam es, so mußte es kommen, daß ihm in Weimar eine Verfassung gegeben wurde, die weder den gegebenen Verhältnissen noch dem deutschen Volkscharakter entsprach, noch den Erfordernissen einer starken Staatsführung gerecht wurden. Eine Verfassung, die nicht einen wirklichen demokratischen Volksstaat, sondern einen Parteistaat schuf, in dem nicht das Volk, sondern die Parteien zum Träger des Staates gemacht wurden, in dem lediglich die mechanische Zählung der Stimmen gesichert, den Parteien aber der Austrag des sich daraus ergebenden Kampfes überlassen wurde. Eine Unzahl von Parteien, die mit allen Mitteln um die Stimmen der Wählermassen kämpften und damit eine hemmungslose Zersplitterung des Volkes in eine Vielheit von sich bis aufs Blut bekämpfenden Teilen schufen, die jede starke und konsequente Staatsführung von vornherein lähmten, ja unmöglich machten, war die unausbleibliche Folge. Schon hier liegt in der Gegensätzlichkeit der Interessen und Bedingtheiten der miteinander um die Macht im Staat ringenden Parteien einer der tragischen Gründe, aus denen der Nationalsozialismus und später dann die Machtergreifung im Jahre 1933 zu erklären ist. Denn auch die Geschichte, das Werden und Vergehen wiedererstehender Völker wird von ewigen Gesetzen bestimmt, die mit unerbittlicher Logik die Geschehnisse entwickeln und lenken. Wie ohne die große französische Revolution niemals ein Napoleon möglich gewesen wäre, so ohne die in der Weimarer Verfassung begründete Schwäche der Staatsführung kein Hitler.

Unter solchen von Anfang an erschwerten Verhältnissen nahm das deutsche Volk den Kampf gegen den ihm drohenden Untergang auf. Wer will es oder kann es nicht verstehen, daß es der Spielball der unzähligen Parteien wurde, die um seine Stimme rangen, die aus egoistischen Interessen eine Regierung nach der anderen stürzten und damit jede starke, einheitliche Staatsführung unmöglich machten? Mit bewunderungswürdigem Mut und unter Anspannung seiner äußersten Kräfte hat das deutsche Volk trotzdem diesen fast aussichtslosen Kampf aufgenommen und geführt, hat es bis zum Weißbluten die ihm in dem Versailler Vertrag auferlegten Reparationsverpflichtungen zu erfüllen sich bemüht. Selbst die sein wirtschaftliches Lebensmark aushöhlende Inflation hat es auf sich genommen und um den Preis der Existenz vor allem seines Mittelstandes und des Ausverkaufs seiner Güter durch das ausländische Kapital durchgehalten und überwunden. Aber alle seine Anstrengungen, seine Arbeit, seine Entbehrungen haben zum Schluß nichts genützt. Immer tiefer sank sein Lebensstandard, immer mehr Fabriken mußten ihre Pforten schließen, immer größer wurde der Ausverkauf an das Ausland, immer mehr Werte des Nationalvermögens gingen für ein Butterbrot in ausländische Hände über, immer größer wurde die Arbeitslosigkeit, fast zehn Prozent der Gesamtbevölkerung war ohne Arbeit und Brot. Und warum dies alles? Die Westmächte, Frankreich an ihrer Spitze, statt dem deutschen Volk schon im eigenen Interesse die unmöglichen Bestimmungen des Versailler Vertrags zu mildern und auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren, benutzten jede Gelegenheit, Deutschlands Situation noch mehr zu schwächen und zu erschweren, das deutsche Volk noch mehr zu versklaven. Ich erinnere Sie nur und vor allem an die Besetzung des Ruhrgebietes durch Frankreich im Jahre 1922, zu der dieses als Anlaß nahm, daß Deutschland trotz aller übermenschlicher Anstrengungen nicht in der Lage gewesen war, die ihm auferlegten Reparationen in voller Höhe zu leisten. Bereits im Jahre 1920 waren französische Truppen in den Maingau eingerückt, mit der fadenscheinigen Begründung, die Reichswehr habe bei der Bekämpfung des kommunistischen Aufstandes im Ruhrgebiet entmilitarisiertes Gebiet betreten. Und im Februar 1921 diktierte im Anschluß an eine [250] nicht in voller Höhe geleistete Lieferung von Reparationskohlen infolge eines kommunistischen Aufstandes im Ruhrgebiet eine Konferenz in London die Deutschland aufzuerlegenden Zahlungsbedingungen neu. Als diese wiederum von Deutschland in voller Höhe einfach nicht geleistet werden konnten, rückten alliierte Truppen über den Niederrhein und besetzten die Brückenköpfe auf dem rechten Rheinufer. Als am 3. Mai 1921 das in London ausgearbeitete Ultimatum von den Siegerstaaten in Berlin überreicht wurde, in dem Deutschland die Zahlung von 1032 Milliarden Mark in 37 Jahren und des vierten Teiles der deutschen Ausfuhr nach England und Frankreich auferlegt wurde, standen französische und englische Truppen bereit zum Einmarsch, um dieses Ultimatum zu erzwingen. Angesichts der bevorstehenden Abstimmung über die Aufteilung des Oberschlesischen Industriereviers blieb der Deutschen Regierung nichts anderes übrig, als dieses Ultimatum anzunehmen zu einer Zeit, als man bereits 50 Milliarden Mark brauchte, um eine einzige Milliarde Gold in Devisen aufzubringen. Und als nach der zuungunsten Deutschlands erfolgten Aufteilung Oberschlesiens zwischen Deutschland und Polen das Jahr 1921 sich seinem Ende neigte, geriet Deutschland unter die Herrschaft der sogenannten Reparationskommission, die der Deutschen Regierung nicht nur eine Reihe von neuen Steuern diktierte, sondern sich überdies sofort 280 Millionen Goldmark auszahlen ließ. Vergebens erhoffte die Deutsche Regierung Rettung von der Wirtschaftskonferenz, die am 10. April l922 in Genua zusammentrat. Frankreich lehnte jedwede Erörterung der Reparationsverpflichtungen und damit der wirtschaftlichen Probleme von vornherein ab. Was Frankreich mit dieser intransigenten Haltung bezweckte, sollte alsbald aller Welt klar werden. Geschwächt durch die Maßnahmen der Westmächte, den Verlust des Oberschlesischen Industriegebietes und durch das schwindelnd rasche Absinken der deutschen Mark sah sich die Deutsche Regierung im Jahre 1922 zweimal gezwungen, um Stundung der fälligen Barzahlungsraten zu bitten. Die Gewährung dieser Stundung aber mußte es mit der Annahme einer Finanzkontrolle der Westmächte bezahlen und machtlos zusehen, wie die Deutschen von Frankreich aus Elsaß-Lothringen ausgewiesen und vertrieben, ihr Eigentum von Frankreich eingezogen wurde. Und als dann am 15. August 1922 die deutsche Erfüllungspolitik endgültig zusammenbrach, das Deutsche Reich selbst Sachlieferungen nicht mehr voll zu leisten vermochte und die Reparationskommission im Dezember 1922 feststellen zu sollen glaubte, daß Deutschland im Laufe des Jahres durch eine zu geringe Ablieferung von Holz und Telegraphenstangen sich einer vorsätzlichen Verfehlung schuldig gemacht habe, benutzte Frankreich diese Gelegenheit, aus dieser angeblich vorsätzlichen Verfehlung das Recht zu Sanktionen herzuleiten. Im Gegensatz zu England und Italien, die nicht auf territorialen Pfändern bestanden, ließ es seine Armeen am 11. Januar 1923 den Rhein überschreiten und besetzte das Ruhrgebiet: Sein Wunschtraum war erfüllt, Deutschland lag völlig entrechtet am Boden und in seiner Hand. Wie verträgt sich dieser offenkundige, durch keine Dialektik wegzuleugnende Vernichtungswille mit dem heute von der Anklagevertretung Frankreichs so stark betonten Gemeinschaftssinn der Völker, dem Humanismus und den Lehren der christlichen Religion?

Ich habe Ihnen, meine Herren Richter, alle diese geschichtlichen Geschehnisse noch einmal vor Augen führen müssen, um Ihnen zu zeigen, wodurch der Boden bereitet worden ist, auf dem die Saat des Nationalsozialismus erwuchs, ja mit geschichtlicher Notwendigkeit erwachsen mußte, eine Saat, die erst dann als Drachensaat erkannt wurde, als es bereits zu spät war.

Fast gleichzeitig mit der Gründung des Stahlhelms in Norddeutschland war im südlichen Deutschland die Deutsche Arbeiterpartei gegründet worden, in welch letzterer Hitler im Laufe des Jahres 1919 als siebentes Mitglied eintrat und deren Führung er alsbald an sich riß. Beide beruhten auf dem kriegerischen Erleben von Millionen Soldaten und der im Kriege zur höchsten Blüte gebrachten Kameradschaft, beide hatten den nationalen Gedanken, die Wiedererrichtung eines neuen nationalen Staates auf ihre Fahnen geschrieben. Während sich aber der Stahlhelm in der Hauptsache mit der Pflege der nationalen und soldatischen Tradition unter seinen bald nach Hunderttausenden zählenden Mitgliedern begnügte und keine parteipolitischen Ziele erstrebte, steckte die Deutsche Arbeiterpartei unter Hitlers Führung alsbald ihre Ziele sehr viel weiter, indem sie sich zum politischen Träger und Wortführer nicht nur eines nationalen, sondern auch eines sozialen Zieles machte, des Zieles nämlich, durch eine Verschmelzung des nationalen Gedankens mit den in der Zeit liegenden sozialen Gedanken und ihrer Probleme eine innere [251] Erneuerung des Volksganzen herbeizuführen. Dieses Ziel fußte auf der Überzeugung, daß einmal durch den Zusammenbruch Deutschlands sich allmählich eine völlige Änderung der sozialen Struktur des deutschen Volkes vollzog und zum anderen, daß eine Wiederaufrichtung des Reiches nur dann möglich wäre, wenn eine zu dieser erforderlichen, eine wirkliche einheitliche Volksgemeinschaft, auf nationaler und sozialer Basis geschaffen würde. Nach Hitlers Überzeugung war das aber nur möglich, wenn der Sozialismus auf die Volksgemeinschaft, die Volksgemeinschaft auf den Sozialismus begründet, beide miteinander zu einer Einheit verschmolzen wurden. So gab er der Deutschen Arbeiterpartei, indem er gleichzeitig ihren Namen in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei änderte, das genügend bekannte Programm. Dieses Programm war national in seiner Forderung nach Beseitigung der Fesseln des Versailler Vertrags und der Schaffung eines neuen einigen Deutschen Reiches, sozial in seinen Forderungen, die unter besonderer Betonung des Wertes der Arbeit vor allem die Abschaffung eines arbeits- und mühelosen Einkommens, die Verstaatlichung gewisser Betriebe und der Erdschätze, sowie die Brechung der sogenannten Zinsknechtschaft enthielten. So wie dieses Programm aufgestellt war, leuchtete aus ihm unverkennbar der in Millionen von Deutschen schlummernde Wunsch und Wille nach einer Wiedergeburt Deutschlands aus aller Not zu einer neuen nationalen und sozialen Freiheit. Und eines muß ich zu diesem Programm hier mit aller Schärfe und Bestimmtheit ein für allemal vor der ganzen Welt feststellen. Es ist nicht wahr, daß der vielberedete Punkt 2 dieses Programms, in dem die Beseitigung des Versailler Vertrags verlangt wird, die Androhung von Gewalt zur Erreichung dieses Zieles enthält oder vorsieht. Die gegenteilige Behauptung der Anklage entbehrt jeder Berechtigung. Nirgends ist in diesem Programm von Gewalt auch nur mit einem Wort die Rede. Oder will die Anklage vielleicht in der Bezugnahme auf das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker eine Gewaltandrohung erblicken?

Es war kein Wunder, wenn dieses Programm, das alle Wünsche und Forderungen der Zeit mehr wie alle übrigen Parteiprogramme in sich vereinigte, allmählich Anklang finden, eine sich immer mehr steigernde Anziehungskraft ausüben mußte. Und es waren nicht zum wenigsten die sich immer wiederholenden Lasten und Knebelungen, die von den Westmächten dem deutschen Volke auferlegt wurden, vor allem die Besetzung des Ruhrgebietes, die diese Anziehungskraft immer mehr erhöhten. Denn gerade die Besetzung des Ruhrgebietes, die im ganzen deutschen Volke als Vergewaltigung empfunden wurde und seinen einmütigen widerstand hervorrief, ließ zum ersten Male seit 1918 den nationalen Gedanken, das Bewußtsein einer nationalen Volksgemeinschaft zur hellen Flamme auflodern. Es liegt eine tiefe Tragik darin, daß die Westmächte dieses erste Aufflammen eines neuen deutschen Nationalbewußtseins nicht erkannt, die in ihm liegenden Zeichen der Zeit nicht verstanden und keinerlei Entgegenkommen gezeigt haben. Wer weiß, ob bei einem Einlenken, einer allmählichen Lockerung der wirtschaftlichen und politischen Fesseln Deutschlands durch die Westmächte die Entwicklung der Dinge nicht eine ganz andere Richtung genommen hätte und der blutigste aller Kriege der Welt nicht erspart geblieben wäre!

Aber statt die Fesseln zu lockern, haben die Mächte sie im Laufe der nächsten Jahre immer weiter verschärft. Es kam im Jahre 1924 unter dem Druck der Westmächte zu dem bekannten Dawes-Plan, der die fälligen deutschen Tributverpflichtungen in ein kommerzielles Papier umwandelte und dadurch Deutschland zwang, gegen Emanzipation der Reichsbank vom Reich und ihre Unterstellung unter die Aufsicht einer besonderen Kommission, gegen Umwandlung der Reichsbahn in eine Aktiengesellschaft und die Verpfändung von Zöllen, Steuern und anderer Sicherheiten gewaltige Anleihen im Auslande aufzunehmen, um aus diesen seine Reparationsverpflichtungen erfüllen zu können. Das aber bedeutete angesichts der durch die Inflation und den durch diese verursachten ungeheuren Ausverkauf deutschen Volksvermögens an das Ausland und der damit hervorgerufenen Verarmung Deutschlands in Verbindung mit der Notwendigkeit, diese Anleihen im Ausland verzinsen zu müssen, eine noch größere Versklavung und Unterwerfung der deutschen Wirtschaft, der deutschen Arbeit auf allen Gebieten unter die Herrschaft des Auslandes, des ausländischen Kapitals, als je zuvor. Und das Ruhrgebiet blieb weiter besetzt.

Dem Dawes-Plan folgte im Jahre 1925 der Locarno-Vertrag. Dieser, der in erster Linie eine politische Rückversicherung der Internationalen Hochfinanz gegen das in der Hingabe der Deutschland gewährten Anleihen liegende Risiko war, verknüpfte zwar in gewissem Sinne das Interesse der Westmächte mit den wirtschaftlichen Zahlungsverpflichtungen Deutschlands und zwang sie bis zu einem gewissen [252] Grade zum Stillehalten gegenüber Deutschland, gab diesem auch durch seine mehr oder weniger erzwungene Aufnahme in den Völkerbund die Basis, das Sprungbrett für seinen späteren Kampf um die Anerkennung seiner Gleichberechtigung, bedeutete aber andererseits die Wiederholung der Diskriminierung Deutschlands durch die nochmalige Anerkennung aller ihm in Versailles auferlegten militärischen und politischen Verpflichtungen. Inzwischen hatte zwar infolge der nach dem Dawes-Plan nach Deutschland hereinfließenden Kapitalien ein scheinbarer Wiederaufschwung der deutschen Wirtschaft wieder eingesetzt, aber diese wirtschaftliche Blüte erwies sich schon nach kurzer Zeit als eine Scheinblüte. Eine neue gigantische Arbeitslosigkeit setzte ein, eine Fabrik nach der anderen mußte wieder ihre Pforten schließen, immer tiefer sank der Lebensstandard des Volkes, immer größer wurde die Armut, die Not weitester Kreise des Volkes, und die Unmöglichkeit der Erfüllung der deutschen Zahlungsverpflichtungen wurde immer deutlicher. Aber statt Deutschland zu helfen, legten ihm die Westmächte in dieser Stunde äußerster Not einen neuen Plan, den sogenannten Young-Plan vor, der zwar die Räumung des Ruhrgebietes brachte, nicht aber eine Änderung der diskriminierenden Bedingungen des Versailler Vertrags, wohl aber die Aufbürdung geradezu ungeheuerlicher jährlicher Reparationszahlungen bis zum Jahre 1966. Um Deutschland vor der Katastrophe zu retten, sah sich die Deutsche Regierung gezwungen, diesen plan anzunehmen.

Unter dem Druck all dieser Vorgänge mit ihren Nöten hatte sich aber im deutschen Volk nicht nur eine völlige Umwälzung der wirtschaftlichen Struktur, sondern auch seiner soziologischen Struktur vollzogen. Was sich bereits im Weltkriege angekündigt und in den Jahren der Inflation eine gewisse Formung gefunden hatte, trat jetzt deutlich in Erscheinung und wurde zum bestimmenden Faktor der weiteren Entwicklung. Die breite Masse des selbständigen Mittelstandes, der überwiegende Teil des Bürgertums war proletarisiert, die Arbeiterschaft zum Teil in die kleinbürgerliche Sphäre gewachsen, zum anderen infolge der zunehmenden Arbeitslosigkeit immer mehr auf den Grund der Gesellschaftsordnung herabgesunken und der Besitz nur noch in einem verschwindend kleinen Teil des Volkes erhalten geblieben. Durch diese Umwandlung der sozialen Verhältnisse wurde der Unterschied zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft, der Klassengegensatz so gut wie aufgehoben, und es entstand aus der Not der Zeit eine große Schicksalsgemeinschaft, in der sich alle Teile des Volkes zusammenfanden. Diese Verschmelzung der bis dahin voneinander getrennten höheren und niederen Schichten ergab eine Seelenlage, der die Idee der Volksgemeinschaft eingeboren war und deren innere Gegensätze und Differenzierung nur mehr durch ihre Teilnahme an der Politik, ihrer Einstellung zu dieser bedingt waren. Diese Gegensätze, diese gegensätzliche Einstellung zur Politik kulminierten in zwei Ideen, der Idee des Nationalismus und der Idee des internationalen Kommunismus. Und hier setzte Hitler und die von ihm geführte NSDAP den Hebel an in dem Kampf um die Seele des deutschen Volkes, indem er sich entschlossen und zielbewußt auf den Kampf für die nationale Idee gegen die internationale kommunistische Idee einstellte. Die schärfste Waffe aber in diesem von ihm bereits nach der Besetzung des Ruhrgebietes mit allen propagandistischen Möglichkeiten und unter vollster Ausnutzung seines unbestreitbaren außerordentlichen suggestiven Einflusses auf die Massen begonnenen Kampf lieferten ihm gerade die Westmächte mit ihrer das deutsche Volk in immer engere Fesseln, in immer größere Not schlagenden Politik. Mit dieser Waffe gelang es ihm, den nationalen Gedanken in immer weiteren Kreisen des deutschen Volkes wieder anzufachen, so daß bei den Reichtagswahlen vom 14. September 1930 die NSDAP bereits als zweitstärkste Partei in den Reichstag einziehen konnte. Zweierlei zeigte diese Wahl eindeutig: Einmal den Willen immer weiterer Kreise des deutschen Volkes zur Wiederherstellung seiner Ehre und seiner Gleichberechtigung im Rate der Völker, den Lebenswillen eines seit 12 Jahren unterdrückten und in seinen elementarsten Gefühlen verletzten, in seiner Existenz geknebelten und bedrohten Volkes. Sie zeigte aber auch, daß ein großer Teil des Volkes des ewigen Parteihaders in Reichstag und Regierung müde geworden war und sich nach einem Führer sehnte, der es aus dem drohenden Chaos herausführen sollte und daß dieser große Teil des Volkes in Hitler den Führer erblickte. Wieder aber verkannten die Westmächte dieses letzte Fanal. Sie vergaßen oder wollten nicht einsehen, daß das fundamentale physikalische Gesetz, daß jede lebendige Kraft, wenn sie ventillos unter zu großen Druck gesetzt wird, die sie umgebende Hülle sprengt, auch im Leben der Völker gilt. Denn auch den Völkern wohnt eine lebendige Kraft inne. Das [253] vergaßen sie, trotzdem sie in ihrer eigenen Geschichte weithin leuchtende Beispiele für die Richtigkeit dieser These hatten: Das französische Volk in seiner großen Revolution, das englische in seinem Cromwell. Statt diesem Gesetz zu gehorchen, setzten sie ihre bisherige Politik unverändert fort. Sie beantworteten die Wahl vom 14. September 1930 mit der Zurückziehung der Deutschland gewährten Kredite, und Frankreich verhinderte alle Versuche der Deutschen Regierung, sowohl auf wirtschaftlichem wie politischem Gebiet irgendwelche Erleichterungen zu erhalten. Angesichts der der Verteidigung auferlegten zeitlichen Beschränkung ihrer Plädoyers muß ich es mir versagen, die Folgen dieser Politik näher darzulegen und muß mich auf den Hinwels beschränken, daß die Not Deutschlands immer größer, die Verhältnisse in Deutschland immer unerträglicher wurden. Wie es damals in Deutschland aussah, welche ungeheure Not, welch ein ungeheurer Druck auf ihm lastete, kann keiner ganz ermessen, der es nicht selbst miterlebt hat. Deutschland schwebte damals buchstäblich über dem Abgrund, denn zu dem Kampf um die nackte Existenz trat noch der Kampf um den inneren Gestaltwandel des Volkes, der Kampf um die Frage, ob die Mehrheit des deutschen Volkes sich einem Sozialismus auf nationaler Basis oder einem chiliastischen internationalen Kommunismus zu überantworten gewillt war. Diese Frage hat das deutsche Volk zunächst mit der Wiederwahl des Reichspräsidenten von Hindenburg am 13. März 1832 und schließlich, nachdem es selbst einem Manne wie Brüning nicht mehr gelungen war, aus den Parteien des Reichstages eine tragfähige Regierungsmajorität zu bilden, mit der Reichstagswahl vom 6. November 1932 beantwortet, aus der die NSDAP als weitaus stärkste Partei des Reiches hervorging. Nahezu die Hälfte des Volkes hatte damit eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß sie des ewigen Parteienhaders müde war, daß sie nach einem starken Führer verlangte, der das deutsche Volk aus all seiner Not retten, es vom Abgrund zurückreißen und einer neuen Zukunft entgegenführen sollte.

Da andererseits aber auch die Kommunisten einen großen Wahlerfolg erzielt hatten und zum offenen Kampf um die Macht rüsteten, sah sich Hindenburg vor die Wahl gestellt, entweder Hitler als den Führer der stärksten Partei zum Reichskanzler zu berufen oder die Militärdiktatur zu proklamieren. Letzteres hätte aber den Bürgerkrieg bedeutet. Nach schweren inneren Kämpfen hat sich Hindenburg getreu den von ihm beschworenen demokratischen Grundsätzen zur Berufung Hitlers zum Reichskanzler entschlossen und damit dem deutschen Volk den Bürgerkrieg erspart.

So und nicht anders ist es zur Übernahme der Macht im Deutschen Reiche durch Hitler und die NSDAP gekommen. Unerbittlich wie immer war auch hier die Geschichte in ihrer logischen Entwicklung. Der Grund für die Erscheinung Hitlers und der Aufstieg zur Macht liegt letzten Endes in dem Versailler Vertrag, der dem deutschen Volk unerträgliche Fesseln anlegte, die kein Volk der Erde auf die Dauer ertragen konnte. Es war die Tragik Deutschlands und ganz Europas, daß die Siegermächte von Versailles dieses nicht einsehen wollten und, statt den in Versailles geschaffenen unnatürlichen Zustand in seinen unausbleiblichen Folgen zu erkennen, ihn im Laufe der Jahre immer noch mehr verschärften. Nicht das deutsche Volk, das sei hier mit aller Eindeutigkeit festgestellt, trägt die alleinige Schuld an der Erscheinung Hitlers, sondern wenn man in der Geschichte überhaupt von einer Schuld sprechen kann, in gleichem Maße die Auswirkungen des Vertrags von Versailles. Noch immer aber sind den Völkern der Erde, solange sie noch einen Funken von Lebenswillen und Lebenskraft in sich hatten, in den Tagen der tiefsten Not und Entehrung Männer erstanden, die, von der Geschichte dazu auserwählt, kraft ihrer Persönlichkeit, kraft ihrer Fähigkeit zum Mitreißen der großen Masse des Volkes sich zum Führer aus dieser ihrer Not aufschwangen.

Die große Tragik des deutschen Volkes liegt nur darin, daß es dieses Mal ein Mann war, der nicht aus dem echten und wahren Deutschtum kam, nicht den wirklichen Charakter, das wirkliche Wesen des deutschen Volkes in sich verkörperte, daß es vielmehr ein Fremder war, dessen Herkunft und Abstammung noch heute in Dunkel gehüllt ist. Aber damals, in jenen schicksalsschweren Tagen mußte er als der einzige erscheinen, der das deutsche Volk aus dem Chaos zu einem neuen Leben führen könnte und der durch die Umstände und den Willen des Volkes die Kraft und die Macht dazu erhielt. Die in dieser Tatsache liegende Anziehungskraft Hitlers auf die Massen war um so größer, als hinter ihm die ragende Gestalt und der Nimbus des fast schon zum Mythus gewordenen Reichspräsidenten von Hindenburg stand. Es muß aber im Interesse der Wahrheit und zur Ehre des deutschen Volkes an dieser Stelle mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß es trotzdem bei den ersten Neuwahlen nach der Machtergreifung Hitlers der [254] Partei dort noch nicht gelang, die absolute Mehrheit im Reichstage zu erlangen, vielmehr zirka die Hälfte der Wähler damals noch immer in demokratischem Geiste ihren alten Parteien gefolgt waren, ein Beweis dafür, wie tiefe Wurzeln der demokratische Gedanke im deutschen Volke doch schon geschlagen hatte.

Hindenburgs Autorität stand auch hinter den nun folgenden Regierungshandlungen Hitlers, die von seinem Standpunkt folgerichtig und konsequent darauf abzielten, seiner Staatsführung im Kampf gegen die im Innern noch vorhandenen Kräfte der Zerstörung, wie auch im Kampf um die wirtschaftliche und politische Freiheit die größtmögliche Stärke und Kraft zu verleihen. Denn ohne eine solche starke und einheitliche Staatsführung war dieser Kampf nicht ausführbar. Das hatte die Erfahrung der Nachkriegszeit bewiesen. Es war daher nicht nur eine aus der Persönlichkeit Hitlers sich ergebende Folgerung, wenn er auch für den bevorstehenden Kampf um die Existenz des deutschen Volkes alle im Volk liegenden Kräfte in der Staatsführung zusammenzufassen suchte und sich zunächst mit Zustimmung des Reichspräsidenten durch den noch auf Grund der demokratischen Verfassung freigewählten Reichstag das sogenannte Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 bewilligen und auf Grund desselben das sogenannte Gleichschaltungsgesetz vom 7. April 1933 vom Kabinett genehmigen ließ. Beide Gesetze dienten dem Bestreben Hitlers, der Regierung die erforderliche Erfassung aller Kräfte des Volkes in dem bevorstehenden Existenzkampf zu ermöglichen. Und diesem gleichen Zwecke diente auch das Gesetz über die Einheit von Staat und Partei, sowie die Auflösung aller anderen politischen Parteien. Alles dies ergab sich aus der in den gegebenen Verhältnissen liegenden Forderung, jegliche Störung im Innern auszuschalten und der Reichsführung damit den Rücken freizumachen in ihrem Kampf gegen die wirtschaftliche Not und um die Wiedererringung des dem deutschen Volke gebührenden Platzes im Rate der Völker. Aus dieser Forderung erklärt sich auch die Schaffung der Geheimen Staatspolizei als eines Werkzeuges zur Bekämpfung und Ausschaltung der unterirdischen kommunistischen Wühlarbeit.

Die Tragweite und mögliche Entwicklung dieser Maßnahmen in der Zukunft damals schon zu erkennen, dazu aber fehlte den weitesten Kreisen des deutschen Volkes, vor allem der Jugend, neben jedweder Erfahrung auch das kritische Urteilsvermögen. Denn die Jugend vor allem war es, die Hitler als dem ersehnten Führer aus der Not zujubelte und ihm voll blinden Vertrauens als dem Manne folgte, der ihr die Befreiung von allen widernatürlichen Fesseln und aller Schmach bringen sollte. Gerhart Hauptmann, der kürzlich verstorbene bekannte deutsche Dichter und große Kenner der Volkspsyche, hat in einem seiner vielleicht tiefsten psychologischen Werke: »Der Narr in Christo« den Satz geschrieben: »Das größte soziale Bindemittel der Natur ist immer ein gemeinsames Gebilde der Phantasie, das wissen diejenigen sehr genau, die aus einer Vielheit von Menschen eine gefügige Einheit herstellen wollen. Solche staatenbildende Unterjocher- und Herrschernaturen bedienen sich jener Männer, die, mit fanatischer Phantasie begabt, den Glauben an ihre Träume besitzen, fördern und durchsetzen, wodurch dann bei der Masse das gemeinsame Heiligtum errichtet wird, für das ihr bald während langer Zeitperiode kein Opfer zu kostbar ist.« Wieviel mehr muß die Wahrheit dieses Ausspruches zutreffen bei einem Volk, das, wie ich Ihnen zu zeigen versucht habe, in seiner ganzen Geschichte immer nur gewohnt gewesen war, geführt zu werden, das so gut wie nie sein Schicksal selbst gelenkt hatte, das seit 15 Jahren immer wieder enttäuscht worden war und jede Hoffnung, daß die Einsicht der anderen Staaten ihm zu Hilfe kommen würde, hatte verlieren müssen. Und es war um so mehr mit dieser Stärkung der Staatsführung einverstanden, als es des ewigen Parteihaders müde geworden war und ungestört durch weitere innere Kämpfe und Aufregungen sich nur dem Wiederaufbau seiner wirtschaftlichen Existenz hingeben wollte. In seinem blinden Vertrauen erkannte es noch nicht, daß es durch die Maßnahmen der Regierung in Zukunft selbst in Fesseln geschlagen werden könnte, ihm selbst die Möglichkeiten genommen werden könnten, gegen eine seinem innersten Empfinden zuwiderlaufende Staatsführung Front zu machen. Zunächst wurde sein Vertrauen zu Hitler noch bekräftigt und bestärkt durch die unbestreitbare Tatsache, daß es Hitler gelang, die Wirtschaft wieder anzukurbeln und das Gespenst der Arbeitslosigkeit allmählich zu bannen. Denn in der kurzen Spanne eines Jahres war es Hitler bereits gelungen, nicht weniger als fast zwei Millionen Arbeitslose wieder zu Arbeit und Brot zu bringen. Und wenn diese Erfolge zum Teil durch die wiederbeginnende Aufrüstung und sonstige öffentliche Arbeiten möglich waren, so kam er durch erstere nicht etwa kriegerischen Wünschen und Trieben des deutschen Volkes entgegen, sondern nur [255] dem seit altersher im deutschen Volk vorhanden gewesenen Sinn für Waffenspiele und einem gewissen Minderwertigkeitsgefühl. Dies hat General Smuts in seiner Rede vom 12. November 1934 vor dem Royal Institute of International Affairs durchaus richtig erkannt, wenn er sagte: »Man erzählt uns unaufhörlich, was jenseits des Rheines vor sich geht, von den geheimen Rüstungen. Wahrscheinlich ist es nichts anderes als die Folge des Minderwertigkeitskomplexes. Es ist nicht wirklicher Militarismus, sondern es sind militärische Reizmittel für die Massen. Dieses wilde Gebaren ruft ein beglückendes Gefühl der Befriedigung, der Erleichterung bei denen hervor, die sich selbst für minderwertig oder durch ihre Nachbarn jenseits des Rheins für gedemütigt halten.«

So freute sich das deutsche Volk an den sich ihm bietenden militärischen Schauspielen nicht aus ihm von der Anklagebehörde unterschobenen kriegerischen Trieben oder gar in ihm schlummernden wilden Angriffsgelüsten, sondern einfach aus Freude am Schauspiel und aus einem instinktiven Gefühl, dem der Gründer der modernen Geschichtsforschung Ausdruck gegeben hat: »Das Nationalbewußtsein eines großen Volkes fordert eine angemessene Stellung in der Welt. Die auswärtigen Verhältnisse bilden ein Reich nicht der Konvenienz, sondern der wesentlichen Macht. Das Ansehen eines Staates wird immer dem Grade entsprechen, auf welchem die Entwicklung seiner inneren Kräfte steht, und eine jede Nation wird es empfinden, wenn sie sich nicht an der ihr gebührenden Stelle erblickt.«

Und nun sah dieses Volk, das bis zur Machtergreifung Hitlers unter diesem instinktiven Gefühl der Minderwertigkeit geschmachtet hatte, wie plötzlich wie durch magische Kräfte unter der Führung Hitlers eine diskriminierende Fessel des Versailler Vertrags nach der anderen von ihm abfiel und Deutschland im Begriffe stand, wieder den so lange entbehrten Platz in der Völkerfamilie einzunehmen. Grenzt es nicht in der Tat fast an das Wunderbare, wenn man sieht, wie es der von meinem Klienten geführten Außenpolitik in geschickter Ausnützung der im Wandel der nächsten Jahre sich ergebenden außenpolitischen Konstellationen und Begebenheiten auf friedlichem Wege mit friedlichen Mitteln gelang, nach und nach alle Deutschland in seiner außenpolitischen Stellung knebelnden Bestimmungen des Versailler Vertrags zu beseitigen, und daß die Westmächte, die bis dahin so ängstlich über die genaueste Innehaltung selbst der unwichtigsten Bestimmungen des Versailler Vertrags gewacht hatten, jetzt allem ruhig zusahen und sich nicht über papierene Proteste hinaus aufschwingen konnten. Und ist es in der Tat nicht geradezu grotesk, daß von 1933 an die gleichen Völker, die in früheren Jahren die geringste Nichterfüllung der Reparationsverpflichtungen durch ein demokratisch regiertes Deutschland mit militärischen Machtmitteln, wie der Besetzung der rechtsrheinischen Brückenköpfe und des Ruhrgebietes, geahndet hatten, jetzt mit einem Male auf von ihnen angeblich als Verletzungen wichtigster Verträge angesehener Maßnahmen Deutschlands, wie die Aufrüstung, die Remilitarisierung des Rheinlandes, nur mit leeren Protesten reagierten und gar nicht daran dachten, ernstlich Widerstand zu leisten? Mußte dieses aber nicht auch zwangsläufig zur Folge haben, die Volkstümlichkeit Hitlers, sein Ansehen in der großen Masse, die Bereitschaft ihm zu folgen, den Glauben an ihn immer zu vergrößern und das Volk blind zu machen gegen die sich allmählich immer mehr verschärfenden Maßnahmen im Innern, die allmähliche Knebelung der kulturellen, künstlerischen und geistigen Freiheit, der freien Meinungsäußerung und Kritik und gegen die antisemitischen Maßnahmen. Hieran vermochten auch die blutigen Ereignisse des 30. Juni 1934 kaum etwas zu ändern, im Gegenteil. Denn nach der überaus geschickten Erklärung, die Hitler ihnen gab, mußten diese dem Volke als eine rein innere Parteiangelegenheit, die der Reinigung der Partei von unlauteren Elementen diente, erscheinen und nicht nur das Vertrauen zu ihm stärken, sondern auch die hie und da schon aufgetauchten Zweifel und Bedenken an ihm und seiner autoritären Staatsführung beseitigen. Und daß die Ermordung hoher Generale im Volke keinerlei Reaktion auslöste beweist im Grunde nur, wie wenig militaristisch das Volk eingestellt war. Und wenn hier in diesem Prozeß seitens der Anklagebehörde mit solcher emphatischen Empörung dem deutschen Volk in seiner Gesamtheit der Vorwurf gemacht wird, daß es sich gegen die Knebelung und Knechtung, gegen die Auswüchse, und vor allem gegen die Grausamkeit der KZ-Lager, gegen die Judenverfolgung nicht einmütig empört und erhoben hat, so muß demgegenüber mit aller Schärfe folgendes festgestellt werden:

Die Knebelung der kulturellen und geistigen Freiheit traf in erster Linie und hauptsächlich die im Verhältnis zur Volksgesamtheit verhältnismäßig dünne Intelligenzschicht der oberen Klassen und wurde von der Gesamtheit des Volkes [256] schon deshalb kaum empfunden, weil auf der anderen Seite Hitler in weitgehendstem Maße durch volkstümliche und billige, vielfach kostenlose Theater- und Kinoaufführungen und Konzerte, durch Vorträge, öffentliche Schauspiele und sonstige Veranstaltungen für eine Befriedigung der Bedürfnisse der Massen sorgte. Was die Knebelung der geistigen Oberschicht für Folgen haben mußte, kam der großen Masse, und konnte ihr schon deshalb nicht so schnell zum Bewußtsein kommen, weil sie durch ihre Arbeit und die vielfachen sonstigen Ablenkungen völlig in Atem gehalten wurde.

Was zum anderen die KZ-Lager und die in diesen verübten Grausamkeiten anbetrifft, so halte ich es für meine Pflicht, hiermit zur Ehre des deutschen Volkes ein für allemal festzustellen: Es ist nicht wahr, daß das deutsche Volk in seiner großen Masse bis in die letzte Zeit des Krieges Kenntnis gehabt hat von dem, was in den KZ-Lagern vor sich ging. Die gegenteilige Behauptung kann nur Jemand aufstellen, der von den tatsächlichen Verhältnissen in Deutschland, von dem raffiniert ausgeklügelten System der Geheimhaltung der Verhältnisse in den KZ-Lagern, ja selbst des Vorhandenseins der meisten Lager keine Ahnung hat. Wie sollte es denn auch möglich gewesen sein, daß weitere Kreise des Volkes von den Zuständen in den Lagern Kenntnis bekamen. Die Anklagebehörde selbst hat uns hier nachzuweisen versucht, daß nur ein ganz geringer Prozentsatz von KZ-Häftlingen wieder freikam und die, die freigelassen wurden, mußten sich schriftlich verpflichten, bei Androhung der Todesstrafe, über Ihr Erleben während der Gefangenschaft strengstes Stillschweigen zu bewahren. Sie wußten, daß, wenn sie diese Verpflichtung verletzten und durch einen Zufall die Gestapo davon erfuhr, ihr Leben verwirkt war. Mir selbst haben in meiner Praxis eine Reihe von entlassenen KZ-Häftlingen gegenübergesessen, aber bei keinem von ihnen ist es mir gelungen, sie zum Sprechen zu bringen, und so ist es vielen anderen auch gegangen. Und wenn schon der eine oder andere etwas erzählt hat, so hüteten sich die Zuhörer ihrerseits, es weiter zu erzählen, denn sie wußten, daß auch sie unweigerlich der Verhaftung und Verbringung in ein KZ-Lager verfielen, wenn dies zur Kenntnis der Gestapo kam. Und als dann im Laufe des Krieges doch langsam, sehr langsam Näheres über die KZ-Lager bekannt wurde, da lagen die meisten deutschen Städte längst unter dem Bombenhagel der alliierten Flieger. Es ist wohl nur allzu menschlich, wenn die Bevölkerung unter dem Grauen der täglichen Luftangriffe sich nicht Gedanken machte über das Schicksal der Insassen der KZ-Lager, sondern zunächst an sich selbst, an ihre Angehörigen, an die Sorge um das nackte Leben, an ihre Existenz dachte. Und endlich frage ich Sie, meine Herren Richter, wer sollte sich denn überhaupt erheben, wer sollte sich denn mit Gewalt empören gegen die Herrschaft Hitlers und der Partei? Seit Ausbruch des Krieges, seit Herbst 1939 stand die Blüte der männlichen Bevölkerung unter Waffen und kämpfte einen schweren Kampf an der Front. Mit Kindern, Frauen, Greisen und mehr oder weniger kranken oder schwachen Männern kann man keine Revolution machen. Und von wem sollte sie ausgehen, wer sollte sie führen. Noch keine Revolution ist je von einer führerlosen Masse gemacht worden. Immer und überall muß eine Führung vorhanden sein, die die Massen lenkt und leitet. Eine levée en masse, noch dazu, wenn sie von einer waffenlosen Menge gegen eine bewaffnete und organisierte Macht unternommen wird ist ebenso wie im Kriege, auch im Innern von vornherein aussichtslos. Wie aussichtslos eine Empörung, eine Erhebung des Volkes gewesen wäre, das erkennt man am klarsten aus der Tatsache, daß selbst die von wirklichen Führern von langer Hand und mit allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln vorbereitete Verschwörung vom 20. Juli 1944, die sich auf weiteste Kreise des Volkes stützte, scheiterte. Die Tatsache dieser Verschwörung allein aber beweist schon das eine, daß der Herr französische Ankläger Monsieur de Menthon nicht recht hat, wenn er in seiner so geistvollen und interessanten Ansprache vom 11. Januar 1946 die von ihm durchaus zu Recht verdammte, nationalsozialistische Ideologie mit ihrer Verherrlichung der Rasse und der Überlegenheit der germanischen Rasse über alle anderen Nationen der Erde als den Ausdruck, die letzte und höchste Frucht des deutschen Geistes und seiner wahren Natur hinstellt, und als den ersten Künder dieser Erscheinung einen Fichte und einen Hegel nennt: Fichte, einen der größten und edelsten Vertreter des Christentums, christlicher Ethik und Sittenlehre trennt eine Welt von dieser Ideologie des Nationalsozialismus. Und wie kann man eine solche Ideologie auch nur in einem Atem nennen mit einem Geist wie Hegel, dessen ganzes philosophisches System vielleicht das idealste aller Systeme war, der im Staat die Totalität aller sittlichen Kräfte und Zwecke erblickte, dem der Staat in einer an das antike Ideal erinnernden Weise als die Wirklichkeit der sittlichen Idee, als etwas Göttliches auf Erden [257] erschien. Und der Herr französische Anklagevertreter vergißt, daß es das deutsche Volk war, das einen Kant hervorgebracht hat, dessen unvergängliche Lehre vom kategorischen Imperativ neben der christlichen Ethik wohl die tiefste und hehrste Verkündung des sittlichen Prinzips aller Zeiten ist. Und er irrt, wenn er Nietzsche, diesen in der gesamten deutschen Geisteswelt als Einzelerscheinung dastehenden Denker und den von ihm ersehnten Übermenschen in irgendeiner Beziehung zu der Ideologie nationalsozialistischer Führer bringt. Auch diesen trennt eine Welt von jenen. Nein, meine Herren Richter, diese Geistesheroen des deutschen Volkes haben mit der Nazi-Ideologie nicht das mindeste zu tun. Diese steht in Wirklichkeit im schärfsten Gegensatz zu dem wirklichen echten deutschen Denken und Empfinden, dem wahren Charakter und den Anlagen des deutschen Volkes und vor allem zu seiner Einstellung zu den übrigen Völkern der Erde. Denn dieses Volk selbst hat sich nie besser oder irgendwie erhaben gedünkt über die anderen Völker. Es ist auch nie erfüllt gewesen von einem Vernichtungswillen gegen andere Völker, es kennt vor allem keinen Haß noch Rachegelüste. Das ist ja gerade die große Tragik in dem Verhältnis zwischen ihm und dem französischen Volk, daß dieses nie hat einsehen wollen, daß das deutsche Volk, nicht wie es selbst seit dem Kriege 1870 bis zum Weltkrieg von Gedanken der Revanche erfüllt gewesen ist, auch nach Versailles nicht, nicht erfüllt war von dem Gedanken an die Wiedergewinnung von Elsaß-Lothringen. Der Gedanke des Pan-Germanismus, des Großgermanischen Reiches hat nie, auch zu Zeiten der größten Begeisterung für Hitler nicht, einen Widerhall in ihm erweckt, trotzdem ihm in der Lehre vom Panslawismus und ihrer begeisterten Aufnahme in den slawischen Völkern ein nicht zu unterscheidendes Beispiel gegeben worden war. Und es war daher auch gerade diese, von den geistigen Führern der Partei gepredigte Ideologie, die sofort den Widerspruch zunächst in den geistigen Kreisen und Schichten des deutschen Volkes und dann auch im Verein mit den übrigen Knebelungsmaßnahmen und Einschränkungen der persönlichen Freiheit in den übrigen Schichten des Volkes bis in die Reihen der Parteien selbst hinein hervorriefen und stärkten. Deshalb war es auch in seiner überwiegenden Mehrheit keineswegs für den von Hitler im Sommer 1939 begonnenen Krieg begeistert. Wie die wirkliche Stimmung des Volkes bereits im Herbst 1938 war, darf ich Ihnen, meine Herren Richter, an einem kleinen persönlichen Erlebnis am 25. oder 26. September 1938 schildern. Ich mußte an jenem Tage in einer zu einer der großen Ausfallstraßen im Süden Berlins führenden Straße mit meinem Wagen halten, weil die ganze Straße mit Fahrzeugen vollgepfropft war. Als ich eine vorbeikommende einfache Frau aus dem Volk nach der Ursache dieser Stockung des Verkehrs frug, gab sie mir mit einem solch abgrundtiefen Ausdruck der Verzweiflung, des Abscheus die Worte zur Antwort: »Da vorne ziehen sie in den Krieg«, daß es mir kalt über den Rücken lief. Das war die wirkliche Einstellung des Volkes zum Krieg, die sich auch darin zu erkennen gab, daß die ausziehenden Truppen nicht etwa von begeisterten Menschenmengen begrüßt und umjubelt wurden, sondern nur stummen und entsetzten Augen begegneten. Und wenn Sie mich nun fragen, warum denn das Volk sich nicht schon damals empört und erhoben hat, so finden Sie die Erklärung schon in meinen vorhergehenden Darlegungen. Als ein seit Jahrhunderten an Geführtwerden, an Gehorsam gewöhntes Volk, folgte es auch diesmal dem Befehl der von ihm selbst auf den Schild gehobenen Führung. Als ein von dieser langsam aber sicher in Fesseln geschlagenes Volk hatte es aber auch gar nicht die Möglichkeit zu einer Empörung, zu einer spontanen, unvorbereiteten und führelosen Erhebung gegen diese seine Führung. Zu einer solchen konnte es erst kommen, als der Druck des Krieges immer unerträglicher wurde und verantwortungsbewußte Männer in führenden Stellungen sich zusammentaten, um in gefährlichster, langsamer und zielbewußter Arbeit zu versuchen, den Wahnsinn der Nazi-Herrschaft und dem von dieser entfesselten Kriege ein Ende zu machen und das deutsche Volk vor der sonst unausbleiblichen Katastrophe zu retten. Und doch blieb diesem Versuch der Erfolg vom Schicksal versagt. Aber ich wiederhole, die Tatsache dieses Versuches, seine Unterstützung durch weite Kreise des Volkes, selbst der Partei, beweist eindeutig, daß die seit 1938 die Politik erkennbar beherrschende Nazi-Ideologie nicht dem wirklichen Charakter des deutschen Volkes, nicht seinem Wesen, seiner Veranlagung, seiner Psyche und Mentalität entsprach, nicht aus dieser geboren war, sondern ihr fremd und widernatürlich gegenüberstand.

Es waren aber nicht nur die Männer des 20. Juli 1944, die sich dazu durchgerungen hatten, mitten im Kriege Hitler und die ganze nationalsozialistische Herrschaft zu beseitigen. Es gab auch noch andere Männer, die dasselbe Ziel zu [258] erreichen entschlossen waren, wenn auch auf anderem Wege, und bereits die ersten Schritte dazu getan hatten. Zu diesen gehörte, wie Sie aus der Aussage des Zeugen Strölin gehört haben, auch der Angeklagte von Neurath. Wie hätte es auch bei ihm anders sein können, diesem Sproß eines alten Geschlechts, das seiner engeren Heimat Württemberg so manchen treuen Staatsbeamten geschenkt hatte, dessen ganzes Leben auf Grund des in seinem Elternhaus herrschenden Geistes von Kindesbeinen anerfüllt war von glühendster Vaterlandsliebe, von heißer Liebe zu seinem Volk, dessen ganzes Streben nur dem einen Ziel gegolten hatte, alle seine Kräfte und all sein Können in den Dienst seines Vaterlandes zu stellen.


VORSITZENDER: Dr. von Lüdinghausen! Vielleicht wäre das ein günstiger Augenblick, um eine Pause einzuschalten.


[Pause von 10 Minuten.]


DR. VON LÜDINGHAUSEN: Geboren als Sproß eines alten Geschlechts, das seiner engeren Heimat Württemberg so manchen treuen hohen Staatsbeamten geschenkt hatte, war der Angeklagte von Neurath in einfacher und strenger Erziehung aufgewachsen in einem Elternhaus, das erfüllt war nicht nur von echtem Christengeist und wahrer Menschenliebe, sondern auch von glühender, aufopferungsbereiter Liebe zu seinem deutschen Volk und Vaterland und das ihm von Kindesbeinen an als Richtschnur für sein ganzes Leben, sein Denken und Handeln den Wunsch und Willen, die heilige Pflicht eingepflanzt hatte, alle seine Kräfte, all sein Können, all seine Gaben und Fähigkeiten in den Dienst des Wohles seines Volkes zu stellen, diesem alle seine persönlichen Interessen unterzuordnen, ja zu opfern. Aber, und das muß schon an dieser Stelle betont werden, neben diesem Streben lebte und webte in ihm in gleicher Stärke eine tiefe und wirkliche Religiosität, Wahrhaftigkeit und Menschenliebe, die ihn von vornherein jeglicher Gewaltanwendung gegen seine Mitmenschen abhold machte, nicht nur in seinem persönlichen Leben, in seiner Einstellung zu seinen Mitmenschen, die vielmehr in gleichem Maße seine ganze amtliche Tätigkeit auch nach dem Vertrage von Versailles beherrschte, dieser den Stempel aufprägte und ihm das Gesetz seines amtlichen Handelns sowohl als Vertreter des Reiches bei anderen Staaten wie auch als Außenminister und schließlich als Reichsprotektor von Böhmen und Mähren vorschrieb. Nicht nur durch sein konziliantes, liebenswürdiges Wesen, seine bei einem Manne seiner Herkunft und Erziehung selbstverständliche Gewandtheit und Auftreten, sondern in erster Linie durch die alle seine Handlungen als Diplomat und Staatsmann durchdringende Friedensliebe und Aufrichtigkeit hat er sich überall in der Welt auf allen seinen Posten die uneingeschränkte und ehrliche Achtung und Zuneigung aller Menschen erworben, mit denen er in Berührung kam, auch seiner politischen Gegenspieler. Als eindeutigen Beweis für diese Tatsache, deren Wahrheit Ihnen, meine Herren Richter, Ihre eigenen Diplomaten bestätigen werden, genügt es, dar auf hinzuweisen, daß, wie Sie aus der beschworenen[259] Aussage meines Klienten wissen, keine geringeren als der König Georg V. und der König Eduard VIII. von England den Angeklagten anläßlich seiner Anwesenheit in London im Jahre 1933 und 1935 in einer privaten Audienz empfingen; daß die Englische Regierung ihn im Sommer 1937 und noch einmal im Jahre 1938, als er schon nicht mehr Außenminister war, zu einem Besuch in England zu politischen Besprechungen eingeladen hat und daß endlich an seinem 65. Geburtstag am 2. Februar 1938 das gesamte diplomatische Korps in Berlin bei ihm erschien, um ihm zu gratulieren und durch den damaligen Doyen, Monsignore Orsenigo, seinen Dank und seine Anerkennung für die stets verständnisvolle und verständigungsbereite Führung seiner Geschäfte als Außenminister hat aussprechen lassen.

Trauen Sie, meine Herren Richter, Ihren eigenen Diplomaten und Staatsmännern so wenig Menschenkenntnis, so wenig Erfahrung und Weltklugheit zu, daß sie, wenn die Behauptung der Anklage, Herr von Neurath habe sich und seinen guten Ruf bewußt von den Nazis als Aushängeschild benutzen lassen und alle seine Handlungen und Äußerungen und Versicherungen als Außenminister nur eine Tarnung, das heißt ein bewußter Betrug der ganzen Welt gewesen sei, dies im Verlaufe der sechsjährigen Tätigkeit des Angeklagten als Außenminister nicht erkannt haben sollten?

Es ist dabei doch wohl als selbstverständlich zu unterstellen daß so alte und erfahrene Demokratien wie England, Amerika, Frankreich, daß der Vatikan auf den damals wichtigsten Posten eines Botschafters in Berlin ihre klügsten und erfahrensten Diplomaten gestellt haben. Und ich mochte fast annehmen, daß die Anklagebehörde sich doch wohl nicht ganz im klaren gewesen ist, welch ein Armutszeugnis sie mit ihrer oben gekennzeichneten Behauptung über den Angeklagten ihren eigenen Diplomaten ausgestellt hat, wobei sie für diese ihre Behauptung lediglich den reichlich fanatischen Bericht des amerikanischen Konsuls Messersmith anführen kann. Ich bin im übrigen felsenfest davon überzeugt, daß Sie, meine Herren Richter, selbst auf Grund Ihrer langen richterlichen Erfahrung viel zu viel Menschenkenntnis besitzen, um nicht auf den ersten Blick zu erkennen, daß mein Klient nach seiner ganzen Persönlichkeit zu einer solchen perfiden und verlogenen Handlungsweise gar nicht fähig ist, geschweige, ihm ein solches Maß an Schauspielkünsten zuzutrauen ist, um sechs Jahre lang die fähigsten und erfahrensten Diplomaten der ganzen Welt hinters Licht zu führen. Ein Mann, der 60 Jahre lang ein ehrenhaftes und grundanständiges Leben geführt hat wie der Angeklagte, würde nie und nimmer am Ende eines solchen Lebens sich zu einer derartigen Verleugnung und Verneinung all dessen, was er bis dahin hochgehalten hat, hergegeben haben. Das widerspräche jeder Lebenserfahrung.

[260] Und auf dem gleichen Niveau steht die Behauptung der Anklage, Herr von Neurath habe durch seinen Eintritt und sein Verbleiben in der Regierung Hitlers als Fünfte Kolonne in den konservativen Kreisen Deutschlands gedient mit dem ausgesprochenen Zweck, diese zum Nationalsozialismus herüberzuziehen. Diese, übrigens von der Anklage ohne jeden Versuch eines Beweises aufgestellte Verleumdung des Angeklagten wird durch die eidlichen Aussagen aller Zeugen und die vorgelegten Affidavits widerlegt, die übereinstimmend bekundet haben, daß das Ausscheiden des Angeklagten aus dem Amt als Außenminister gerade in diesen Kreisen mit allergrößter Bestürzung und Sorge aufgenommen wurde, weil diese Kreise dieses Ausscheiden des Angeklagten aus der Regierung gerade als ein Zeichen dafür ansahen, daß nunmehr eine ausgesprochene Friedenspolitik durch eine andere, nämlich kriegerisch orientierte Außenpolitik abgelöst werden würde, die man mit Recht für ein nationales Unglück ansah. Denn wie alle teilten sie die Überzeugung des Reichspräsidenten von Hindenburg, daß Herr von Neurath der Exponent der friedlichen Außenpolitik des Reiches war und der Garant für eine konsequente Fortführung dieser Friedenspolitik gegen jedwede möglichen unerwünschten aggressivem Experimente Hitlers und der Nazi-Partei war und daß aus diesem Grunde der Reichspräsident bei der Berufung Hitlers zum Reichskanzler das Verbleiben des Angeklagten in dessen Kabinett als Reichsaußenminister ausdrücklich zur Bedingung gemacht hätte. Diese Tatsache ist durch die eidlichen Aussagen sämtlicher darüber vernommenen Zeugen, sowie durch das von mir im Durchschlag vorgelegte Schreiben des Zeugen Dr. Köpke vom 2. Juni 1932 an den Gesandten Rümelin, Dokumentenbuch 1, Nummer 8, und das Affidavit der Baronin Ritter, Dokumentenbuch 1, Nummer 3, einwandfrei bewiesen.

Dieses letztere beweist aber auch gleichzeitig, wie schwer und erst nach welch langem Sträuben der Angeklagte sich damals zur Annahme dieser seiner Berufung entschlossen hat und untermauert damit die eigene eidliche Bekundung des Angeklagten, daß er sich erst dann dazu entschloß, als der von ihm so hochverehrte Reichspräsident an seine Vaterlandsliebe appellierte und ihn an das ihm zwei Jahre vorher gegebene Versprechen erinnerte, ihn, den Reichspräsidenten, nicht im Stiche zu lassen, wenn er seiner bedürfe. Es bedarf aber wohl keines weiteren Beweises für die völlige Haltlosigkeit und Unrichtigkeit der ebenfalls beweislos aufgestellten Behauptung der Anklage, der Angeklagte habe seine Stellung, sein Ansehen, seine Verbindungen und seinen Einfluß dazu verwendet, um Hitler und die Nazi-Partei in den Sattel zu heben, ihnen zur Erlangung der Macht im Reich zu verhelfen. Ich brauche daher wohl auch kaum noch auf die diesbezüglichen Aussagen des Angeklagten Göring und anderer Zeugen, insbesondere des Dr. Köpke, [261] zu verweisen, aus denen eindeutig hervorgeht, daß damals keinerlei Verbindungen zwischen Hitler und den Nazis und dem Angeklagten bestanden, geschweige denn, daß der Angeklagte auch nur im geringsten bei den Verhandlungen, die der Berufung Hitlers zum Kanzler vorausgingen, mitgewirkt hat. Vaterlandsliebe, tiefste Verantwortung, tiefste Sorge um das Wohl und Wehe seines Volkes und das Versprechen, den Reichspräsidenten von Hindenburg in der Stunde der Not nicht im Stiche zu lassen, waren die alleinigen Motive dieses Mannes, die ihn veranlaßten, den ihm lieb gewordenen Posten als Botschafter in London zu verlassen und in dieser kritischen und schicksalhaften Stunde das schwere Amt des Außenministers des Reiches und die ihm als solchen vom Reichspräsidenten von Hindenburg zugewiesene Aufgabe zu übernehmen, auch gegen den etwaigen Willen Hitlers die Außenpolitik des Reiches in friedlichen Bahnen weiterzuführen. Der Angeklagte von Neurath kann mit Fug und Recht für sich in Anspruch nehmen, daß er dieser schweren Aufgabe in jeder Minute, auch über den Tod des Reichspräsidenten von Hindenburg hinaus, mit allen seinen Kräften und mit dem Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit gerecht geworden ist bis zu dem Moment, da er einsehen mußte, daß diese Aufgabe über seine Kräfte ging, daß Hitler sich selbst nicht mehr von ihm beeinflussen ließ, sondern außenpolitische Wege zu gehen entschlossen war, auf denen der Angeklagte ihm nach seiner innersten Überzeugung und seinen Ansichten nicht zu folgen vermochte.

Bis zum 5. November 1937, jener berühmten Ansprache Hitlers an die Befehlshaber der Wehrmachtsteile, hat der Angeklagte von Neurath in treuester Erfüllung des von ihm dem Reichspräsidenten von Hindenburg gegebenen Versprechens, auch über dessen Tod hinaus, auf seinem Posten ausgeharrt und hat aus dieser Treue heraus auch dem toten Reichspräsidenten gegenüber in manchen die Innenpolitik Hitlers betreffenden Fällen das Odium auf sich genommen, als Mitglied der Reichsregierung stillschweigend Dinge geschehen lassen zu müssen, die seiner eigenen Einstellung, seinen Ansichten nicht entsprachen, ja diesen direkt zuwiderliefen. Sie zu verhindern, lag nicht in seiner Macht. So mußte er sich darauf beschränken, nach Möglichkeit ihre Folgen und Auswirkungen in Einzelfällen zu mildern und zu beseitigen, wie Sie aus dem Affidavit des Landesbischofs Dr. Wurm – Doku mentenbuch 1, Nummer 1 – und den Aussagen der übrigen darüber vernommenen Zeugen ersehen haben. Der Vorwurf der Anklage, daß er solche Fälle nicht zum Anlaß genommen habe, sein Amt als Minister niederzulegen, sie vielmehr bewußt durch sein Verbleiben im Amt gutgeheißen und mitgemacht habe, geht völlig fehl. Das oberste Gesetz seines Handelns war die Erfüllung der ihm vom Reichspräsidenten von Hindenburg übertragenen Aufgabe, die friedliche Außenpolitik des Reiches sicherzustellen. Er wäre vor sich selbst wortbrüchig [262] geworden, wenn er seinen Posten als Außenminister verlassen hätte, bevor dieser erfüllt war oder nicht mehr erfüllt werden konnte. Welcher objektiv denkende Mann brächte es über sich, ihm hieraus einen Vorwurf zu machen oder ihn gar, wie es die Anklage tut, mit den Nazis zu identifizieren?

In dieser Einstellung des Angeklagten liegt aber auch der alleinige Grund, weshalb er die ihm von der Anklage zum Vorwurf gemachte und als Beweis für seine angebliche nationalsozialistische Gesinnung angesehene Ernennung zum Ehrengruppenführer der SS im September 1937 sowie die Verleihung des goldenen Parteiabzeichens in der Kabinettssitzung vom 30. Januar 1937 durch Hitler nicht zurückgewiesen hat, wie es der Minister Eltz von Rübenach getan hat. Denn, wie die Aussage des Angeklagten Göring bezüglich des letzteren beweist, wäre eine solche Zurückweisung auch bei dem Angeklagten von Neurath von Hitler, ebenso wie bei Eltz von Rübenach, als eine Brüskierung empfunden und von ihm unweigerlich mit der sofortigen Entlassung des Angeklagten beantwortet worden. Das wollte und mußte aber der Angeklagte geradezu vermeiden, denn zu der fraglichen Zeit konnte er noch der ihm vom Reichspräsidenten übertragenen Aufgabe, ein Garant des Friedens in der Außenpolitik des Reiches zu sein, voll und ganz gerecht werden, da damals nach seiner durchaus berechtigten Überzeugung sein Einfluß auf Hitler noch gerade groß genug war, um dessen Zustimmung zu der von ihm betriebenen friedlichen Außenpolitik zu gewährleisten.

Daß es sich in beiden Fällen nicht um einen tatsächlichen Eintritt in die SS und die Partei handelte, sondern in ersterem Fall nur um eine Uniformfrage, um eine äußerliche Eitelkeit Hitlers bezüglich der Herren seines Gefolges bei dem bevorstehenden Besuch Mussolinis, im zweiten Falle um einen sichtbaren Ausdruck der Anerkennung für die vom Angeklagten als Außenminister geleisteten Dienste, in der gleichzeitig ein Beweis für das uneingeschränkte Einverständnis Hitlers mit der von dem Angeklagten geführten friedlichen Außenpolitik lag, also um eine reine Ordensauszeichnung, wie sie in jedem Staate üblich ist, ist durch die Beweisaufnahme einwandfrei erwiesen. Die Verleihung eines Ordens in gewöhnlichem Sinne war damals noch nicht möglich, weil solche damals im Dritten Reich noch nicht existierten. Daß der Angeklagte in beiden Fällen trotzdem sofort zum Ausdruck brachte, daß er unter gar keinen Umständen durch seine Annahme dieser von Hitler alt Ehrung gedachten Verleihung seinen Eintritt oder seine Aufnahme in die SS oder die Partei dokumentieren wolle, ist durch die eidliche Aussage des Angeklagten bewiesen. Im übrigen hat er auch den zur Mitgliedschaft in der SS vorausgesetzten Eid niemals geleistet, niemals auch nur die geringste Tätigkeit in der SB ausgeübt und [263] die SS-Uniform nur zweimal in seinem Leben auf ausdrücklichen Wunsch Hitlers getragen. Auch dies ist durch seine eidliche Bekundung bestätigt.

In Wirklichkeit handelte es sich in beiden Fällen um ein persönliches Opfer des Angeklagten, das er seinem Hindenburg gegebenen Versprechen brachte. Wenn daher die Anklage glaubt, aus diesen beiden Vorgängen eine nationalsozialistische Gesinnung, eine Zustimmung des Angeklagten zu dem Gedankengut und dem ganzen Regierungssystem Hitlers folgern zu sollen, so befindet sie sich völlig auf einem Abweg. Und noch weniger ist für diese Behauptung der Anklage die Verleihung des Adlerordens ein Beweis. Denn dieser wurde ihm und ebenso dem Angeklagten von Ribbentrop nicht etwa als eine persönliche Auszeichnung für geleistete Dienste verliehen, vielmehr galt sie lediglich der Stellung des Reichsaußenministers beziehungsweise des Reichsprotektors als solcher, um diesem Orden, der nur zur Verleihung an ausländische Persönlichkeiten bestimmt war, in den Augen des Auslandes eine besondere Bedeutung zu geben, was schon daraus hervorgeht, daß er vom Angeklagten bei seinem Abschied zurückgegeben werden mußte.

Die Beweisaufnahme hat durch die eidlichen Aussagen sämtlicher dazu vernommener Zeugen eindeutig ergeben, daß der Angeklagte von Anfang bis zum Ende dem nationalsozialistischen System und seinen Maximen ablehnend gegenüberstand und deshalb auch vielfach von gewissen Parteikreisen dauernd angefeindet und bekämpft wurde. Denn diese Kreise wußten genau, daß der Angeklagte von Neurath, wie durch seine eigene Aussage und diejenigen der Zeugen Dr. Köpke und Dr. Dieckhoff bewiesen ist, sich gegen alle Versuche, Parteigenossen als Beamte in das Außenministerium zu bringen und dieses dadurch nazistischen Einflüssen zu öffnen, bis zum letzten Tage sehr energisch und erfolgreich gewehrt hat und trotz mancherlei Intrigen nicht von seiner klaren Friedenspolitik abzubringen war. Auch diese Anfeindungen und Intrigen nahm der Angeklagte auf sich aus seinem unantastbaren Verantwortungsbewußtsein und seiner Vaterlandsliebe, erfüllt allein von dem Bestreben, die deutsche Außenpolitik in den Bahnen zu führen, die nach seiner in langen Jahren erfolgreichster diplomatischer Tätigkeit erlangten Überzeugung die einzig und allein richtigen waren. Er war sich völlig im klaren darüber, daß, wenn er von seinem Amt zurücktrat, damit der letzte Schutzwall gegen eine Infiltrierung auch des Reichsaußenministeriums mit Parteigenossen und Nazi-Geist fiel und die Gefahr einer Abkehr von der von ihm verkörperten Friedenspolitik vor der Türe stand, wie dies nach seinem Abschied am 4. Februar 1938 auch alsbald eingetreten ist.

Es war daher für den Angeklagten eine der schwersten, vielleicht die schwerste Enttäuschung seines amtlichen Lebens, als er [264] an jenem ominösen 5. November 1937 durch die Ansprache Hitlers erkennen mußte, daß sein ganzes Streben, sein ganzer Kampf, all seine persönlichen Opfer in den letzten fünf Jahren vergeblich zu sein schienen, daß sein Einfluß auf Hitler gebrochen war, dieser sich von ihm und der von ihm vertretenen Politik des Friedens und der Verständigung abzuwenden und sich gegebenenfalls zur Erreichung seiner in dieser Ansprache dargelegten, mehr wie utopischen Pläne und Absichten auch kriegerischer Mittel sich zu bedienen entschlossen hatte. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, denn nichts hatte bis dahin darauf hingedeutet, daß Hitler nicht mehr mit der von dem Angeklagten betriebenen Friedenspolitik einverstanden sein könnte. Wie schwer dieser Schlag ihn traf, der alle seine Hoffnungen, alle seine Bemühungen, Deutschland, vor außenpolitischen Gefahren, vor kriegerischen Verwicklungen und einer möglichen, wenn nicht wahrscheinlichen Katastrophe zu bewahren, zu vernichten schien, mag der Herzanfall beweisen, den er am folgenden Tage erlitt. Aber aus seinem Verantwortungsbewußtsein, seiner brennenden Sorge um seines Volkes Zukunft heraus, hat er, bevor er die letzte, für ihn selbstverständliche Konsequenz zog und demissionierte, sich für verpflichtet gehalten, noch einmal den Versuch zu machen, Hitler von seinen unseligen Plänen und Absichten in einer sehr eingehenden und sehr ernsten Unterredung abzubringen. Doch als er in dieser Aussprache erkennen mußte, daß Hitlers Entschluß unabänderlich war, hat er nicht eine Sekunde länger gezögert, Hitler zu erklären, daß er diese unheilvolle Politik unter gar keinen Umständen mitzumachen entschlossen sei und Hitler sich für eine solche Außenpolitik einen anderen Außenminister suchen müsse. Diesem Abschiedsgesuch entsprach Hitler mit Schreiben vom 4. Februar 1938.

Gibt es, so frage ich Sie, meine Herren Richter, einen eindeutigeren und klareren Beweis wie diesen Rücktritt für die absolute Unrichtigkeit, die völlige Haltlosigkeit der in diesem Prozeß gegen meinen Klienten erhobenen Anklage, er habe bei der Planung und der Vorbereitung von Angriffskriegen, wie sie ein-einhalb Jahre später erfolgt sind, durch die von ihm geführte Außenpolitik mitgewirkt oder mitwirken wollen? Gibt es einer eindeutigeren und klareren Beweis für die innere Widersinnigkeit der Anwendung der Grundsätze der Conspiracy auf Taten und Handlungen von Staatsmännern und des Angeklagten im besonderen? Gibt es endlich einen eindeutigeren und klareren Beweis für die Absurdität einer retrospektiven Beurteilung der Politik von Staaten, wie sie hier einen der Grundpfeiler der ganzen Anklage bildet?

Sie alle, meine Herren Richter, die Sie hier Recht sprechen sollen, wissen es aus Ihrer eigenen Tätigkeit und Erfahrung mindestens ebensogut wie ich, wie gefährlich Rückschlüsse aus Handlungen eines Menschen zu einer gewissen Zeit auf Jahre [265] zurückliegende Gedanken, Ansichten und Taten dieses Menschen sind. Tempora mutantur et nos in illis. Ein jeder von uns allen hat sicherlich die Wahrheit dieses Satzes mehr als einmal in seinem eigenen Leben erfahren. Überzeugungen und Ansichten, Absichten und Entschlüsse, die wir zu einer gewissen Zeit gehabt und ausgeführt haben, haben wir im Laufe der Jahre geändert und gewechselt, teils aus der Wandlung des eigenen Ichs, teils infolge äußerer Umstände, der Änderung der Verhältnisse. Will man deshalb wirklich die These aufstellen und in retrospektiver Betrachtung den Schluß ziehen, daß die früheren Ansichten, Äußerungen und Handlungen nur Tarnungsmanöver waren und der Mensch damals schon das zu tun beabsichtigte und entschlossen war, was er Jahre später unter ganz anderen Verhältnissen getan hat? Warum wollen Sie bei einem Politiker, einem Staatsmann, einen anderen Maßstab anlegen? Auch er ist ja nur ein Mensch und unterliegt denselben Wandlungen in seinen Ideen, seinen Ansichten und Absichten, wie jeder andere. Ja, er ist noch weit mehr äußeren Einflüssen, äußeren Verhältnissen, gewissen Imponderabilien unterworfen und davon abhängig wie der gewöhnliche Mensch. Nur ein Beispiel hierfür: Was würden Sie zu einem Manne sagen, der ernstlich zu behaupten wagte, daß Napoleon Bonaparte bereits zu der Zeit, als er während der großen Revolution nach Paris ging oder später, als er den Oberbefehl über die französischen Armeen in Oberitalien übernahm, bereits den Gedanken oder gar den Plan oder die Absicht gehabt hat, sich 1804 zum Kaiser der Franzosen zu machen und im Jahre 1812 nach Moskau zu marschieren? Ich glaube, wer diese Behauptung aufstellte, würde allein in der Welt dastehen. Und doch könnte ein geschickter Dialektiker mit nicht mehr oder weniger scheinbarer Logik und Berechtigung diese Behauptung aus der geschichtlichen Entwicklung der Dinge begründen, wie es die Anklage hinsichtlich ihrer Behauptung, Hitler habe schon zur Zeit der Machtübernahme, ja bereits bei der Aufstellung des Parteiprogramms im Jahre 1920 nicht nur die Absicht, sondern sogar schon den Plan zur Führung seiner späteren Angriffskriege gehabt und alles, was Hitler und die Nazis beziehungsweise seine Mitarbeiter von dem Moment der Machtergreifung innen- und außenpolitisch getan haben, sei die bewußte Vorbereitung dieser Angriffskriege gewesen.

Meine Herren Richter! Ich glaube, wer hierin der Anklage und ihrer denn doch auf sehr schwachen Füßen stehenden Begründung und ihrer retrospektiven Betrachtung der Dinge folgt, der überschätzt doch wohl nicht nur die geistigen, sondern auch die staatsmännischen Fähigkeiten nicht nur seiner Trabanten, sondern auch Hitlers selbst ganz gewaltig. Denn es ist doch immerhin schon ein Beweis für eine gewisse geistige Beschränktheit, wenn ein Mensch und erst recht ein Staatsmann seine Politik auf die Annahme [266] gründet, wie es Hitler unbestreitbar getan hat, daß die Regierungen und Staatsmänner der übrigen Staaten sich immer wieder durch die gleichen Methoden täuschen und düpieren lassen würden, sich immer wieder die immer gleichbleibenden, von ihnen als Vertragsverletzungen empfundenen Handlungen gefallen lassen und ruhig zusehen würden, bis Hitler so weit zu sein glaubte, nunmehr mit Waffengewalt fast die ganze Welt angreifen zu können. Und ist es nicht erst recht ein Beweis von geistiger Beschränktheit, wenn ein Staatsmann dergestalt die Fähigkeiten und Klugheit, aber auch die Machtmittel seiner Gegner unterschätzt, wie es Hitler getan hat? Zu dem allen kommt aber noch eines hinzu, was auch nicht unterschätzt werden darf, das ist die Hitler eigene Sprunghaftigkeit seines Denkens und seiner daraus resultierenden Entschlüsse. Ich glaube, Ihnen für diese keine weiteren Beweise bringen zu müssen, sie ist allgemein bekannt. Hitler war aber auch ein Mensch, der keinen Widerspruch, keine Widerstände ertrug und der, wenn er solchen begegnete und auf Hindernisse traf, die er nicht durch ein Machtwort beseitigen konnte, blitzartig seine Pläne und Absichten änderte und sich zu Entschlüssen hinreißen ließ, die oft gerade das Gegenteil von dem waren, was er bis dahin gewollt, geplant und getan hatte.

Dies alles spricht gegen die von der Anklage Hitler unterstellte Absicht der Planung und Vorbereitung von Kriegen zur Zeit der Machtübernahme, ja schon Jahre vorher. Die Unmöglichkeit dieser Unterstellung wird noch unterstrichen, wenn man folgendes bedenkt: Unstreitig hat Hitler, wie aus den von mir vorgelegten Dokumenten ersichtlich, vom Tage der Machtübernahme bis 1937 in öffentlichen Reden, Ansprachen und diplomatischen Noten mehrfach nicht nur seinen Friedenswillen bekundet, sondern auch positive Vorschläge zur praktischen Durchführung der Begrenzung der Rüstungen aller Staaten, also auch Deutschlands gemacht, aus denen unbestreitbar ersichtlich ist, daß er sich bezüglich der Deutschen Wehrmacht und ihrer Stärke im Verhältnis zu den Rüstungen der Westmächte mit einem Verhältnis zu begnügen bereit erklärte, das von vornherein jeden Angriffskrieg gegen die anderen Staaten ausschloß. Und nun unterstellen Sie einmal, eines dieser Angebote Hitlers wäre von den übrigen Staaten angenommen worden, dann wäre doch der von Hitler angeblich seit langen Jahren geplante und vorbereitete Angriffskrieg überhaupt nicht möglich gewesen. Alle auf einen solchen aufgewendete Mühe, Arbeit und Kosten wären umsonst gewesen. Oder halten Sie es vielleicht für denkbar, daß Hitler voraussah und damit rechnete, daß seine Angebote abgelehnt würden und daß er sie nur in dieser Erkenntnis machte? Dann wäre er wirklich ein geradezu dämonisches Genie, ein prophetischer Seher ersten Grades gewesen. Wollen Sie das wirklich unterstellen und daraus die Behauptung [267] der Anklage von der bereits lange vor der Machtergreifung beschlossenen Planung der Angriffskriege im Jahre 1939 bejahen? Und selbst wenn Sie diese Frage für die Person Hitlers bejahen wollten, trauen Sie auch seinen Mitarbeitern, seinen Trabanten, ja allen Parteigenossen eine solche Sehergabe zu? Diese Frage stellen heißt sie verneinen. Mit dieser Frage allein fällt die ganze gequälte und gekünstelte Konstruktion der Begründung der Anklage. Und mit dieser fällt auch die Subsumierung des ganzen Tatbestandes und insbesondere der Mitverantwortlichkeit aller Mitarbeiter Hitlers schlechthin unter den Begriff der Conspiray, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem weitesten Kreisen seiner Gefolgschaft erkennbar wurde, daß Hitler endgültig den Krieg wollte und zu diesem entschlossen war. Damit zugleich wird aber auch die unbedingte Richtigkeit des von mir am Anfange meiner Ausführungen aufgestellten Postulats nach der Prüfung der subjektiven Mitschuld jedes einzelnen Angeklagten, nach der Ablehnung der Mitverantwortlichkeit jedes einzelnen nur aus der Tatsache seiner Mitwirkung bei dem von der Anklage als Vorbereitung des Angriffskrieges angesehenen Handlungen zu irgendeinem Zeitpunkt schlechthin ohne Prüfung und Erforschung seines Wissens um die Ziele und Absichten Hitlers evident.

Es würde jedem, dem primitivsten wie dem höchstentwickeltsten Rechtsgefühl aller Völker der Erde widersprechen, wenn man, wie es die Anklage tut, dieses Postulat einfach beiseiteschieben und unbeachtet lassen würde. Das mit diesem Prozeß erstrebte Summum jus würde zur Summa injuria werden.

Der beste Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung ist der Angeklagte von Neurath selbst. Ist es nicht heller Wahnsinn, ist es nicht Summa injuria, diesen Mann der bewußten Mithilfe einer Planung und Vorbereitung von Angriffskriegen zu bezichtigen, diesen Mann, der seine einzige Aufgabe darin sah und dieser Aufgabe so manches persönliche Opfer brachte, jedwede kriegerische Verwicklung zu verhindern, der in dem Augenblick, als er erkennen mußte, daß seine Aufgabe seine Kräfte überstieg, sofort sein Amt niederlegte und seinen Abschied forderte? Dies fühlt anscheinend auch die Anklage selbst, denn sonst hätte sie nicht als Beweis für die angebliche Mitschuld des Angeklagten seine Anwesenheit bei der Ansprache Hitlers am 5. November 1937 angeführt, aber geflissentlich verschwiegen, daß der Angeklagte diese Ansprache mit der Abkehr Hitlers von der Friedenspolitik zu einer kriegerischen Politik zum Anlaß nahm, seine weitere Mitarbeit zu verweigern und damit zu erkennen zu geben, daß er weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft an der Planung, Vorbereitung oder Führung eines Angriffskrieges mitgewirkt habe, noch mitzuwirken oder einen solchen zu billigen bereit sei. Damit entfällt von vornherein und ein für allemal jede Schuld des Angeklagten [268] von Neurath im Sinne der Anklage. Denn selbst wenn man auch unterstellen wollte, daß er als verantwortlicher Leiter der deutschen Außenpolitik internationale Verträge gebrochen habe, so muß demgegenüber darauf hingewiesen werden, daß nach dem klaren Wortlaut des Statuts der Bruch internationaler Verträge an sich keineswegs ein strafwürdiges Verbrechen darstellt, sondern erst dann zu einem solchen wird, wenn er der Vorbereitung von Angriffskriegen dient. Daß ein solcher Bruch diesem Zweck dient, muß im Willen oder zumindest im Bewußtsein des Täters liegen.

Daß dem Angeklagten von Neurath dieser Wille, ja selbst das mindeste Bewußtsein völlig gefehlt hat, beweist sein Rücktritt vom Amt als Außenminister ganz eindeutig. Ich werde Ihnen aber auch zeigen, daß selbst dieser Vorwurf einer Verletzung oder eines Bruches internationaler Verträge nicht begründet ist.

Als am 2. Juni 1932 der Angeklagte von Neurath auf den Wunsch Hindenburgs das Außenministerium übernahm, waren es zwei Fragen, die alle übrigen europäischen Probleme an Bedeutung weit überragten und dringend ihrer Lösung harrten: Das war das Problem der deutschen Tributzahlungen und das Problem des Abrüstung der Siegerstaaten und der damit untrennbar zusammenhängenden Gleichberechtigung Deutschlands.

Die erste Frage: Gelang es dem Angeklagten und dem damaligen Reichskanzler von Papen auf der wenige Tage nach dem Amtsantritt des Angeklagten am 10. Juni 1932 in Lausanne beginnende Konferenz der Mächte dieses Problem einer befriedigenden Lösung entgegenzuführen? In der Schlußsitzung der Konferenz am 9. Juli 1932 wurde Deutschland gegen Zahlung einer einmaligen Abschlußzahlung von drei Milliarden Mark aus der Schuldknechtschaft des Versailler Vertrags endgültig entlassen. Der Young-Plan war gefallen, und es blieben nur noch die Verpflichtungen Deutschlands aus den ihm gewährten Anleihen bestehen. Damit war politisch gesehen für Deutschland erreicht, daß der Teil VIII des Versailler Vertrags, in dem die Reparationsverpflichtungen auf Grund des Artikels 232 verankert waren, dahingefallen war. Die erste Bresche war geschlagen.

Ganz anders das Abrüstungsproblem. Dieses hatte, wie ich als bekannt voraussetzen darf, seinen Entstehungsgrund in der in Teil V des Versailler Vertrags enthaltenen Deutschland auferlegten Verpflichtung zur Abrüstung, als deren Gegenleistung im Fall ihrer Erfüllung in der Präambel zu diesem Teil die Verplichtung der hochgerüsteten Siegerstaaten gleichfalls abzurüsten, stipuliert war. Deutschland hatte abgerüstet, es hatte seine Verpflichtungen, wie unstreitig feststand und auch vom Völkerbund ausdrücklich anerkannt worden war, bereits im Jahre 1927 in vollem Umfange erfüllt. Damit war der Anspruch Deutschlands auf die in der [269] Präambel zu Fall V verankerte Gegenleistung der übrigen Vertragsparteien existent geworden. Und Deutschland hatte diese seine Forderung auf Abrüstung auch der hochgerüsteten Staaten und damit im Zusammenhange auf Anerkennung seiner Gleichberechtigung schon längere Zeit vor dem Amtsantritt des Angeklagten angemeldet. Die daraufhin in der sogenannten Abrüstungskonferenz begonnenen Verhandlungen aber hatten bis zur Übernahme des Außenministeriums durch den Angeklagten nicht nur keine Fortschritte gemacht, sie hatten sich vielmehr gerade im Sommer 1932 noch wesentlich versteift. Im einzelnen darf ich mich angesichts der vorgeschriebenen Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit auf das in meinem Dokumentenbuch 2, Nummer 40, befindliche deutsche Memorandum vom 29. August 1932 und das ebenfalls dortselbst unter Nummer 41 befindliche Interview meines Klienten vom 6. September 1932 mit einem Vertreter des Wolffschen Telegraphenbüros beziehen. Und endlich darf ich auf eine dem Gericht unter Nummer 45 meines Dokumentenbuches 2 überreichte Erklärung des Angeklagten vom 30. September 1932 vor der deutschen Presse verweisen. Aus allen diesen Erklärungen, die zugleich als Vorbereitung der am 16. Oktober 1932 wieder beginnenden Verhandlungen der Abrüstungskonferenz dienen und der Welt und den Westmächten den Ernst der Situation vor Augen führen sollten, geht klar und eindeutig die große, die ganze Politik des Angeklagten von Anfang an beherrschende und sich bis zu seinem Abschiede hindurchziehende Grundtendenz seiner Auffassung, seiner Denkart und seiner Absichten als Mensch, Diplomat und Außenminister hervor, die sich in die Worte zusammenfassen läßt: Vermeidung und Verhinderung der Austragung jeder Differenz durch Waffengewalt, Erreichung aller Ziele und Aufgaben der deutschen Außenpolitik lediglich mit friedlichen Mitteln, die Ausschaltung des Krieges als ein Mittel der Politik, mit einem Wort: Sicherung und Erhaltung des Friedens unter den Völkern. Es ist dieselbe Tendenz, der der frühere Französische Botschafter in Berlin, M. François-Poncet, in seinem von mir dem Gericht unter Nummer 157 meines Dokumentenbuches 5 überreichten Schreiben als das Charakteristikum des Angeklagten so beredt Ausdruck gegeben hat und wie es auch von sämtlichen Zeugen und Affidavits einmütig bestätigt worden ist. Trotzdem die Verhandlungen der Abrüstungskonferenz zunächst geradezu mit einem Affront Deutschlands begannen, der den deutschen Delegationsführer zu der Erklärung veranlaßte, unter solchen Umständen den Verhandlungen nicht länger beiwohnen zu können, vermochten die Westmächte doch nicht, sich der Ethik einer unter diesen Tendenzen geführten Politik zu verschließen, und es kam auf Anregung der Britischen Regierung unter dem 11. Dezember 1932 zu dem bekannten, in meinem [270] Dokumentenbuch 2, Nummer 47 a, befindlichen Fünfmächte-Abkommen, in welchem England, Frankreich und Italien unter Beitritt der Vereinigten Staaten von Amerika Deutschlands Gleichberechtigung anerkannten. Der Hauptausschuß der Abrüstungskonferenz nahm am 14. Dezember 1932 von diesem Abkommen mit Befriedigung Kenntnis, und der deutsche Vertreter erklärte sich bereit, an den kommenden Konferenzverhandlungen wieder teilzunehmen, indem er betonte, daß diese am 11. Dezember 1932 anerkannte Gleichberechtigung Deutschlands die Conditio sine qua non für diese weitere Teilnahme Deutschlands sei. Ein großer Schritt weiter auf dem Wege zu einer Verständigung über die Abrüstungsfrage schien damit getan.

Doch es sollte anders kommen: Alsbald nach Eröffnung der Verhandlung in der am 2. Februar 1933 wieder in Genf zusammengetretenen Abrüstungskonferenz kam es zu schweren Zusammenstößen zwischen der Deutschen und der Französischen Delegation, in deren Verlauf der französische Vertreter Paul Boncour sogar so weit ging, das Fünfmächte-Abkommen vom 11. Dezember 1932, da nur zwischen fünf Mächten abgeschlossen, als nicht rechtsverbindlich zu erklären. Die Veranlassung zu diesen sich ständig verschärfenden Differenzen war die in dem den Verhandlungen zugrunde gelegten französischen Plan vom 14. November 1932 zur Überraschung nicht nur Deutschlands zum Ausdruck gelangende grundsätzliche Änderung der Haltung Frankreichs zu der Grundfrage des ganzen Abrüstungsproblems. Denn entgegen den Grundsätzen des Versailler Vertrags und seiner eigenen bisherigen Einstellung stellte sich Frankreich in diesem Plan plötzlich auf den Standpunkt, daß Heere mit langdienenden Berufssoldaten aggressiven Charakter trügen und als solche eine Bedrohung des Friedens bedeuteten und nur Heere mit kurzer Dienstzeit defensiven Charakter hätten. Angesichts der mir zur Verfügung stehenden Zeit muß ich es mir versagen, nicht nur auf die Einzelheiten dieses französischen Planes, sondern auch auf den Verlauf der sich immer mehr zuspitzenden Differenzen zwischen Deutschland und den übrigen Mächten näher einzugehen; sie vielmehr als bekannt voraussetzen und mich darauf beschränken, darauf hinzuweisen, daß die von der Abrüstungskonferenz zu ihrer eigenen gemachten neuen französischen These sich klar und eindeutig gegen Deutschland und seiner nach den Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrags geschaffenen Reichswehr richtete und im Falle ihrer Verwirklichung infolge der dann erforderlichen Umwandlung der Reichswehr in eine kurz dienende Milizarmee eine noch weitere Verminderung seiner an und für sich schon für eine wirkliche Verteidigung gegen einen Angriff völlig unzureichenden Rüstung bedeutete. Die Aufstellung dieser These bewies aber auch deutlich, daß Frankreich nicht abzurüsten gewillt sei, was auch aus den eigenen Erklärungen [271] des französischen Vertreters hervorging. Dieser neue Plan Frankreichs war ebenso wie seine Haltung besonders in der Frage des Verhältnisses der Herabsetzung der einzelnen Heere zueinander nur ein neuer Ausdruck seiner alten These: Erst Sicherheit, dann Abrüstung, mit der es nicht nur alle bisherigen, sondern auch die Verhandlungen über einen zur Vermeidung eines drohenden Abbruches der Verhandlungen von England vorgelegten neuen Vermittlungsplan, den sogenannten MacDonald-Plan zu Fall brachte. Deutschlands Hinweis auf eine Berücksichtigung auch seiner Sicherheit und die aus seiner am 11. Dezember 1932 anerkannten Gleichberechtigung sich ergebende Forderung nach allseitiger Abrüstung wurde von der Gegenseite als Herausforderung empfunden und ihm die Schuld an einem etwaigen Scheitern der Verhandlungen zugeschoben. Mein Klient hat sich damals im Interesse der Klarstellung der Dinge und der Zuspitzung der ganzen Lage vor der Weltöffentlichkeit veranlaßt gesehen, in der bekannten in Genf erscheinenden Zeitschrift »Völkerbund« unter dem 11. Mai 1933 – Dokumentenbuch 2, Nummer 51 – einen Artikel zu veröffentlichen, in dem er sich mit den bisherigen Ergebnissen der Konferenz auseinandersetzte, die deutsche Haltung präzisierte und zum Schluß feststellte, daß die deutsche Forderung nach praktischer Verwirklichung der deutschen Gleichberechtigung durch die Abrüstung der hochgerüsteten Staaten am mangelnden Abrüstungswillen dieser Staaten gescheitert sei und daß Deutschland infolgedessen im Interesse seiner eigenen Sicherheit genötigt wäre, zu Rüstungsergänzungen zu schreiten, wenn und soweit die allgemeine Beschränkung und Abrüstung im Rahmen des englischen MacDonald-Planes seinen berechtigten Forderungen auf Sicherheit nicht genügen würde.

Diese Schlußfolgerung war angesichts der ganzen damaligen außenpolitischen Lage durchaus gerechtfertigt. Denn die sich bis zur Krise verschärfenden Vorgänge in der Abrüstungskonferenz waren nur ein kleiner Teil, gewissermaßen der Ausdruck der seit der Machtergreifung Hitlers eingetretenen internationalen Spannung. Das Ausland hatte zunächst mit Staunen, aber auch mit einer gewissen Verständnislosigkeit die innerpolitischen Vorgänge in Deutschland beobachtet. Bald nach der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 bildete sich aus Gründen, die zu erörtern hier zu weit führen würden, im Ausland eine Ansicht über diese sogenannte deutsche Revolution heraus, die diese nicht nur in Frankreich und seinen Verbündeten, sondern auch in England als eine europäische Gefahr erscheinen ließ. Die Furcht vor einer solchen wirkte sich in zunehmendem Maße in dem Verhalten der Westmächte auf der Abrüstungskonferenz aus, wo man den durchaus folgerichtigen, von jeher vertretenen Standpunkt Deutschlands jetzt als eine Herausforderung ansah. Aber diese ihre Besorgnisse, [272] ihre Unsicherheit dem neuen Deutschland gegenüber führten zu noch viel weiteren Maßnahmen und Drohungen.

Mit Zustimmung Englands ging Frankreich in den ersten Tagen des Mai 1933 zu militärischen Vorbereitungen über, indem es seine bereits im Winter mit verstärkten Besatzungen versehenen Grenzbefestigungen alarmierte, die großen Lager in Lothringen, der Aufmarschzone seiner Rheinarmee, in Bereitschaft setzte und zwischen Belfort, Mülhausen und St. Ludwig eine große Probemobilmachung durchführte, zu der der Chef des französischen Generalstabs, General Weygand, persönlich erschien, und zur gleichen Zeit erklärte der französische Außenminister Paul Boncour vor dem französischen Senat in seiner Rede vom 12. Mai 1933 ostentativ, daß angesichts der revolutionären Explosionen in Deutschland Italien im Kreise der Westmächte festgehalten werden müsse und fügte als Antwort auf das Verhalten Deutschlands in der Abrüstungskonferenz hinzu, wenn Deutschland die Reichswehr behalten wolle, so müsse es sich streng an den Vertrag von Versailles halten. Und diese nur als Drohung aufzufassenden Worte des französischen Ministers wurden noch unterstrichen und bekräftigt durch ähnliche Erklärungen des britischen Kriegsministers Hailsham und des sonst so pazifistisch gesinnten Lord Cecil im englischen Unterhaus, welch letzterer Frankreich geradezu zur Vornahme weiterer militärischer Aktionen ermunterte. Die Lage war so gespannt, daß Europa unmittelbar vor einem neuen Kriege zu stehen schien.

Diese Zuspitzung der Dinge, diese offensichtliche Krise, die Europa dicht an den Abgrund führte, ist eine der Grundlagen für die ganze weitere Politik des Angeklagten von Neurath in den kommenden Jahren. Es muß daher so kurz wie möglich die Frage untersucht werden, welche Konsequenzen sie vom deutschen Standpunkt aus und damit für die deutsche Außenpolitik haben mußte und gehabt hat. Eines steht unleugbar fest: Deutschland war in diesem Frühling 1933 überhaupt nicht in der Lage, einen Krieg zu führen, es wäre purer Wahnsinn, reiner Selbstvernichtungswille gewesen, mit der kleinen Reichswehr von 100000 Mann, die motorisch über keinerlei Angriffswaffen, keine Tanks, keine schwere Artillerie, keine militärischen Flugzeuge verfügte, gegen die mit den allerneuesten Angriffswaffen aufs beste ausgerüsteten Millionenheere Frankreichs und seiner Verbündeten Krieg zu führen. Furcht vor einem bevorstehenden kriegerischen Angriff seitens Deutschlands konnte also auch vom Standpunkt der Westmächte aus unter gar keinen Umständen der Grund für deren Einstellung und Haltung sein. Der einzige plausible Grund konnte nur in der Einstellung der Westmächte zu der Frage der Abrüstung überhaupt, das heißt in ihrem Willen liegen, eine solche nicht [273] vorzunehmen, Deutschland weiter zu diskriminieren, die Verwirklichung seiner Gleichberechtigung auch weiterhin zu verweigern und es weiterhin niederzuhalten.

Darin allein mußte für den Leiter der deutschen Außenpolitik auch der Grund für die ganzen letzten Vorschläge sowohl Frankreichs wie Englands in der Abrüstungskonferenz liegen, die für Deutschland sowohl aus rechtlichen Gründen wie aus Gründen seiner eigenen Sicherheit und seiner nationalen Ehre unannehmbar waren. Denn trotz der von den Westmächten in der Fünfmächte-Erklärung anerkannten Gleichberechtigung Deutschlands ließen sowohl der französische Plan vom 14. November 1932 wie auch der englische Plan vom 16. März 1933, der MacDonald-Plan und die zu diesem gefaßten Beschlüsse der Abrüstungskonferenz auch vom objektiven Standpunkt aus jede praktische Verwirklichung der Gleichberechtigung vermissen.

Welcher gerecht und objektiv denkende Mensch kann und will der deutschen Staatsführung einen Vorwurf daraus machen, wenn sie aus all dem die Konsequenzen zog und zu der Erkenntnis gelangte, daß in diesem Verhalten der Westmächte nicht nur eine Verletzung bestehender Verträge, auch des Versailler Vertrags, bezüglich der Abrüstung lag, sondern auch der Wille der Westmächte, Deutschland an einem Festhalten an seinen vertraglich berechtigten Forderungen gegebenenfalls mit Waffengewalt zu verhindern, es weiter als einen Staat zweiter Ordnung zu halten und ihm die auch im Versailler Vertrag gewährleisteten Sicherheiten zu verweigern. Können Sie es, meine Herren Richter, einer ihrer Verantwortung gegenüber ihrem Volke bewußten Staatsführung zum Vorwurf machen, wenn diese Erkenntnis von jetzt an mitbestimmend, wenn nicht ausschlaggebend sein mußte für die weitere Führung der Außenpolitik? Denn die oberste Pflicht jeder verantwortungsbewußten Staatsführung in der Außenpolitik ist die Sicherung und Erhaltung der Existenz und Unabhängigkeit ihres Staates, die Wiedergewinnung einer geachteten und freien Stellung im Rate der Völker. Ein Staatsmann, der diese Pflicht versäumt, versündigt sich an seinem eigenen Volk. Diese Erkenntnis mußte um so schwerer wiegen, als seitens Deutschlands nicht das geringste geschehen war, was als eine Bedrohung der Westmächte hätte ausgelegt werden können. Im Gegenteil, bereits in der ersten programmatischen Rede Hitlers im Reichstag am 23. März 1933 hatte dieser unter einstimmigem Beifall des noch nach demokratischen Prinzipien gewählten Reichstages ausdrücklich seinen Willen zum Frieden, zur Verständigung mit allen Völkern, insbesondere mit Frankreich, betont und sich zur friedlichen Zusammenarbeit mit den übrigen Völkern der Erde bekannt, aber dabei auch hervorgehoben, daß er als Voraussetzung für eine solche die endliche Beseitigung der Diskriminierung Deutschlands, der Scheidung der [274] Völker in Sieger und Besiegte, erachtete. Diese seine Erklärungen aber waren von den Westmächten in keiner Weise beachtet worden, trotzdem sie durchaus den gegebenen Verhältnissen entsprachen und alles andere eher als eine Drohung enthielten. Sie vermochten leider eine Änderung der Haltung der Westmächte nicht herbeizuführen, die Verschärfung der Krise nicht zu verhindern.

Eine fühlbare Entspannung trat erst ein, als Hitler unter dem Einfluß des Angeklagten von Neurath auf dem Höhepunkt der Krise in seiner großen sogenannten Friedensrede vor dem Reichstag am 17. Mai 1933 – sie befindet sich auszugsweise in meinem Do kumentenbuch 2, Nummer 52 – der Welt nochmals mit größter Eindringlichkeit seinen und des deutschen Volkes Friedenswillen wiederholte, seiner Überzeugung Ausdruck gab, daß, wie er wörtlich erklärte, kein neuer europäischer Krieg in der Lage wäre, an Stelle der unbefriedigenden Zustände von heute etwas Besseres zu setzen, der Ausbruch eines solchen Wahnsinnes, wie er den Krieg bezeichnete, müsse zum Zusammenbruch der heutigen Gesellschafts- und Staatsordnung führen.

Diese Rede Hitlers, deren Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit nach der stattgehabten Beweisaufnahme außer jedem Zweifel steht und deren Überzeugungskraft sich auch die Westmächte nicht verschließen konnten, bewirkte eine allgemeine Entspannung der Lage, die Gefahr eines neuen Völkerkrieges war beseitigt, die Welt atmete auf. Sie führte damit aber auch das Ende der Isolierung und Vereinsamung Deutschlands herbei, die seine innere Umwandlung, die jede Art Revolution verursacht hatte, und die deutsche Außenpolitik ergriff gerne und aufrichtigen Willens die Gelegenheit zu einer aktiven Mitarbeit im politischen Spiel der Staaten, die sich ihr durch den Vorschlag Mussolinis bot, die Großmächte England, Frankreich, Italien und Deutschland in einem sogenannten Viererpakt zu vereinen. Dieser Pakt, der am 8. Juni 1933 in Rom paraphiert und Mitte Juni 1933 auch von Deutschland unterschrieben wurde und der in seiner Präambel ausdrücklich auch auf das Fünfmächte-Abkommen vom 11. Dezember 1932 Bezug nahm, sollte die beteiligten Mächte in die Lage versetzen, wenn sich die weiteren Verhandlungen in größerem Kreis, wie zum Beispiel in der Abrüstungskonferenz, zerschlagen sollten, an einem kleineren Verhandlungstisch zusammenzukommen. Für Deutschland lag das Hauptmoment darin, daß es wieder ein aktives Mitglied in der Gesamtheit der europäischen Politik wurde, indem es als gleichberechtigter Partner an einem internationalen Vertrage beteiligt war, der sowohl inhaltlich wie seinem Wesen nach der Diskriminierung Deutschlands widersprach. Der Abschluß dieses Paktes fiel allerdings bereits in das Entstehen und Wachsen einer neuen internationalen Spannung, die Deutschlands Stellung wieder zu [275] isolieren drohte. Sie ging diesmal weniger von der Abrüstungskonferenz aus, deren Verhandlungen nach den üblichen vergeblichen Bemühungen um seinen Fortschritt am 29. Juni 1933 auf den 16. Oktober 1933 vertagt worden waren, als von dem auf der am 12. Juni 1933 in London beginnenden Weltwirtschaftskonferenz zum Ausdruck kommenden Gegensatz zwischen Deutschland und Österreich. Der österreichische Bundeskanzler Dollfuß benutzte diese Konferenz dazu, um die Mächte auf eine angebliche Bedrohung der Selbständigkeit Österreichs durch Deutschland hinzulenken, indem er Deutschland beschuldigte, die österreichischen Nationalsozialisten in ihrem Kampf gegen seine, Dollfuß', Regierung zu unterstützen. Indem er damit die österreichische Frage in den Mittelpunkt der europäischen Politik stellte und die Mächte zum Schutz gegen eine angebliche Bedrohung der von ihnen als einen wichtigen Stein im Bau der europäischen Machtverhältnisse angesehenen Unabhängigkeit Österreichs durch Deutschland aufrief, verschärfte er von neuem ihre erst vor kurzer Zeit mühsam beruhigte Stimmung. Wie die Stimmung damals im Sommer 1933 war, ergibt sich aus den in meinem Dokumentenbuch 1 unter Nummer 11 und 12 befindlichen Berichten des Angeklagten an den Reichspräsidenten von Hindenburg und an Hitler vom 19. Juni 1933, aber auch aus der Rede des Angeklagten vom 15. September 1933, Dokumentenbuch 2, Nummer 56, vor Vertretern der ausländischen Presse, in der er zugleich die Folgerungen dieser Stimmung für die Aussichten der kommenden Verhandlung der am 16. Oktober 1933 wieder zusammentretenden Abrüstungskonferenz zog, die sich in seinen Worten widerspiegelt: »Nach gewissen Anzeichen zu schließen, scheint die Bereitschaft der hochgerüsteten Staaten zur Erfüllung ihrer Abrüstungsverpflichtung heute geringer denn je. Es gibt schließlich nur die eine Alternative: Verwirklichung der Gleichberechtigung oder aber Zusammenbruch der ganzen Abrüstungsidee, für dessen unabsehbare Folgen nicht Deutschland die Verantwortung tragen würde.«

Diese Skepsis des Angeklagten hinsichtlich der politischen Lage im allgemeinen und der Aussichten der Abrüstungskonferenz im besonderen war nur allzu sehr begründet. Denn der noch vor dem eigentlichen Beginn der Verhandlungen von dem englischen Delegationsführer, Sir John Simon, als Verhandlungsgrundlage vorgelegte neue sogenannte Simon-Plan und nicht zum wenigsten die zu diesem von Sir John abgegebene Erklärung ließen unzweideutig erkennen, daß die Einstellung der Westmächte auch jetzt noch die gleiche war wie im Frühjahr 1933, ja, daß sie noch weniger gewillt waren, der Forderung Deutschlands nach Gleichberechtigung gerecht zu werden. Denn Sir John erklärte mit dürren Worten, daß die gegenwärtige ungeklärte Lage Europas und das so heftig erschütterte Vertrauen in den Frieden eine Abrüstungskonvention selbst [276] nach dem Muster des von Deutschland im Frühjahr für nicht annehmbar erklärten MacDonald-Planes unmöglich mache. Das war nicht nur eine unberechtigte Beschuldigung Deutschlands, das nichts anderes getan hatte, als sein vertraglich begründetes gutes Recht zu vertreten, sondern auch eine deutliche Absage jedweder Verwirklichung der deutschen Gleichberechtigung und der Abrüstung. Und in der Tat ist dieser Simon-Plan noch weiter davon entfernt wie die früheren Pläne, der berechtigten Forderung Deutschlands nach Gleichberechtigung und Abrüstung beziehungsweise Abstimmung der Rüstungen aller Staaten einschließlich Deutschlands untereinander gerecht zu werden. Auch hier muß ich es mir mit Rücksicht auf die zur Verfügung stehende Zeit versagen, seinen Inhalt näher darzulegen und mich darauf beschränken, darauf hinzuweisen, daß er eine noch weitere Beschränkung und Verringerung der deutschen Rüstung zugunsten der übrigen Staaten bedeutete. Denn er sah vor, daß während der ersten Hälfte der auf acht Jahre vorgesehenen Dauer der vorzunehmenden Abrüstungen nur Deutschland durch die Umwandlung seiner Reichswehr in eine Armee mit kurzer Dienstzeit praktisch noch weiter abrüsten und sich obendrein einer neuen Rüstungskontrolle der Mächte unterwerfen sollte, während die hochgerüsteten Staaten mit der Abrüstung erst im fünften Jahre beginnen sollten, und zwar auch nur bezüglich des Mannschaftsbestandes, nicht bezüglich der Bewaffnung. Diese Bestimmungen zeigten klarer denn je, daß die Westmächte nicht nur nicht selbst abrüsten, sondern Deutschland noch mehr zu schwächen und es ihren Machtinteressen gefügig zu machen gewillt waren. Von der in dem Fünfmächte-Abkommen vom 11. Dezember 1932 ausgesprochenen Anerkennung der Gleichberechtigung Deutschland war keine Rede mehr.

Daß ein solcher Plan für Deutschland von vornherein unannehmbar war und ihm jede Möglichkeit zu weiteren Verhandlungen in der Konferenz nahm, mußte eigentlich auch den Westmächten klar sein. Nach den Erfahrungen aber, die die deutsche Außenpolitik im Frühjahr 1833 gemacht hatte, als Deutschland dicht davor stand, von den Westmächten mit Krieg überzogen zu werden, weil es nicht auf seine berechtigten Forderungen verzichten wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als die in diesem Plan unzweifelhaft liegende neue Drohung dieses Mal nicht nur mit der Ablehnung des Planes, sondern auch mit seinem Austritt sowohl aus der Abrüstungskonferenz wie auch aus dem Völkerbund zu beantworten. Denn unter diesen Umständen mußten alle weiteren Verhandlungen in der Konferenz von vornherein aussichtslos erscheinen und konnten nur eine neue und noch größere Verschärfung der Gegensätze bringen.

Es ist schwer zu verstehen, daß die Westmächte die Haltung Deutschlands nicht vorausgesehen haben und von seinem Austritt [277] aus Völkerbund und Abrüstungskonferenz überrascht waren. Denn Hitler hatte bereits in seiner schon zitierten Friedensrede vom 17. Mai 1933 unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß die Deutsche Regierung und das deutsche Volk bei allem aufrichtigen Friedenswillen und ehrlicher Bereitschaft zu noch weiterer Abrüstung im Falle der Gegenseitigkeit, nie und nimmer sich zu weiteren Demütigungen und zum Verzicht auf seine Ansprüche auf Gleichberechtigung verstehen könne und werde, aus dem Verlangen nach einem solchen vielmehr unweigerlich die Konsequenzen ziehen.

Und noch unbegreiflicher ist es, wie die Anklage allen Ernstes aus diesem Austritt der deutschen Außenpolitik einen Vorwurf machen und in ihm eine bewußte Vorbereitungshandlung künftiger Angriffskriege erblicken zu können glaubt; es ist dies nur erklärlich aus der Tatsache, daß die Anklage die Gründe und Vorgänge, die zu diesem Austritt geführt haben, völlig verschweigt und dadurch den Eindruck hervorrufen will, als ob der Austritt Deutschlands gänzlich unmotiviert gewesen sei. Wie objektiv geschichtswidrig dieser Versuch der Anklage ist, den Austritt als eine kriegsvorbereitende Handlung hinzustellen, geht eindeutig aus der von der Anklage ebenfalls mit Schweigen übergangenen Tatsache hervor, daß die Deutsche Regierung gleichzeitig mit der Erklärung dieses Austritts nicht nur durch die Rede Hitlers vom 14. 0ktober 1933, sondern auch durch die Rede des Angeklagten von Neurath vom 16. Oktober 1933, Dokumentenbuch 2, Nummer 58 und 59, mit allem Nachdruck ihren unveränderten Friedenswillen und Verhandlungsbereitschaft über jeden die Gleichberechtigung Deutschlands berücksichtigenden Abrüstungsplan betonte, sondern auch in dem von meinem Klienten verfaßten und den Mächten übersandten Memorandum vom 18. Dezember 1933, Dokumentenbuch 2, Nummer 61, diese ihre Verhandlungsbereitschaft in die Tat umsetzte, indem sie ihrerseits praktische Vorschläge für eine allgemeine Abrüstung vorlegte.

Dem gleichen Bestreben diente auch das von dem Angeklagten am 29. Dezember 1933 dem Vertreter der »New York Times« in Berlin gewährte Interview, Dokumentenbuch 2, Nummer 62. Eine Regierung oder ein Außenminister, der einen Angriffskrieg Vorbereiten will oder auch nur plant, dürfte wohl kaum Vorschläge machen, durch welche die Rüstung auch seines eigenen Landes beschränkt oder noch weiter herabgesetzt wird.

Die sich an dieses Memorandum vom 18. Dezember 1933 anschließenden diplomatischen Verhandlungen zwischen Deutschland und den einzelnen Westmächten endeten, wie ich als bekannt voraussetzen darf, mit der Note der Französischen Regierung an die Englische Regierung vom 17. April 1934, Dokumentenbuch 3, Nummer 70, in der diese in Erwiderung sowohl auf ein englisches [278] Memorandum vom 29. Januar 1934 wie auch auf eine weitere Denkschrift der Deutschen Regierung vom 13. März 1934 die Tür zu weiteren Verhandlungen zuschlug, wie dies in der Rede des Angeklagten von Neurath vom 27. April 1934, Dokumentenbuch 3, Nummer 74, eingehend dargelegt wird.

Interessant an den vorausgegangenen Verhandlungen aber ist und muß schon hier hervorgehoben werden die Tatsache, daß sich im Laute derselben eine unbestreitbare Wandlung in den Beziehungen zwischen Frankreich und Rußland zeigte, deren weitere Entwicklung mehr oder weniger nicht nur für die deutsche Außenpolitik, sondern für die gesamte europäische Politik in den kommenden Jahren maßgebend werden sollte. In seiner Rede vor dem Büro der Abrüstungskonferenz am 10. April 1934 stellte der russische Vertreter – im Gegensatz zu dem bis dahin von Rußland stets vertretenen Standpunkt – die These auf, die Aufgabe der Abrüstungskonferenz sei, eine möglichst weitgehende Verminderung der Rüstungen zu beschließen, da dadurch am besten für Sicherheit gesorgt werde. Er stellte zwar die Erfolglosigkeit ihrer Abrüstungsbemühungen fest, zog aber daraus nicht etwa den Schluß, daß die Konferenz gescheitert sei, sondern bezeichnete im Gegenteil nunmehr die Schaffung neuer völkerrechtlicher Sicherheitsinstrumente als die alleinige Aufgabe der Abrüstungskonferenz, einen Standpunkt, den der russische Außenminister Litwinow am 29. April 1934 weiter unterstrich. Mit dieser These hatte sich Rußland den Standpunkt Frankreichs: Erst Sicherheit, dann Abrüstung, zu eigen gemacht; darüber hinaus aber auch den nunmehr einsetzenden vermehrten Aufrüstungsbestrebungen aller Völker die Türe geöffnet. Von welch weittragender Bedeutung diese Tatsache war, erhellt sofort, wenn ich Sie auf den ein Jahr später zur Unterzeichnung gelangenden französisch-russischen Beistandspakt und die von diesem und den Rüstungsvermehrungen aller übrigen Staaten veranlaßte Rücknahme der deutschen Wehrhoheit hinweise Denn von dieser Erklärung des russischen Außenministers führte eine gerade Linie über die den Sommer 1934 ausfüllenden Verhandlungen über das Projekt des sogenannten Ostpaktes zu dem französisch-russischen Beistandspakt vom 2. Mai 1935 und dem russisch-tschechoslowakischen Beistandspakt vom 16. Mai 1935.

Die französische Note vom 17. April 1934 mit ihrem kategorischen »Nein« bedeutete den Abschluß einer Epoche und den Beginn einer neuen in der internationalen Politik. Frankreich gab endgültig zu erkennen, daß es nicht länger gewillt sei, im Wege einer allgemeinen Vereinbarung zwischen allen Staaten die Fragen der Abrüstung und der Sicherheiten einer Lösung entgegenzuführen, sondern entschlossen sei, nunmehr eigene andere Wege zu gehen. Der Grund hierfür lag offensichtlich darin, daß es erkannt [279] hatte oder erkennen zu sollen glaubte, daß die wichtigsten der beteiligten Mächte, England und Italien, nicht mehr bedingungslos bereit waren, ihm zu folgen und Deutschland auch weiterhin die ihm bereits am 11. Dezember 1932 theoretisch zugebilligte Gleichberechtigung praktisch zu versagen. Dies war durch die weitgehende Annäherung des englischen und italienischen Standpunktes in dem englischen Memorandum vom 29. Januar 1934 und in der Erklärung Mussolinis gegenüber dem englischen Minister Eden vom 26. Februar 1934 zum Ausdruck gekommen, die sich mit dem deutschen, in seinen Memoranden vom 13. März und 16. April 1934 klar umrissenen Standpunkt beschäftigten. Und auch die Denkschrift der sogenannten neutralen Mächte, nämlich Dänemarks, Spaniens, Norwegens, Schwedens und der Schweiz vom 14. April 1934, vor allem aber auch die Rede des belgischen Ministerpräsidenten Graf Brocqueville vom 6. März 1934 – Dokumentenbuch 3, Nummer 66 – zeigten die gleiche Tendenz.

Mit dieser Note vom 17. April 1934, zu der der Angeklagte von Neurath in seiner Rede vom 27. April 1934 – Dokumentenbuch 3, Nummer 74 – vor der deutschen Presse eingehend und überzeugend Stellung nahm, hatte Frankreich aber, wie sich alsbald zeigen sollte, endgültig den Boden und die Grundsätze des Versailler Vertrags verlassen, dessen Präambel zu Teil V in nicht mißzuverstehender Weise die allgemeine Abrüstung aller Staaten des Völkerbundes als den Grund und die Gegenverpflichtung für die Abrüstung Deutschlands festgestellt hatte. Die unmittelbar nach der Note vom 17. April 1934 einsetzende neue Politik Frankreichs ließ alsbald erkennen, daß es nunmehr entschlossen war, gerade das Gegenteil dieses der deutschen Abrüstung zugrunde liegenden Gedankens des Versailler Vertrags zu tun.

Am 20. April 1934 trat der französische Außenminister Louis Barthou seine Reise nach dem Osten an, die ihn nach Warschau und Prag führte und in erster Linie, wie sich alsbald herausstellte, dem Bestreben galt, das Terrain für die Wiederaufnahme der bis dahin nicht bestehenden diplomatischen Beziehungen der Staaten der sogenannten Kleinen Entente zu Rußland vorzubereiten und damit der Einbeziehung dieser bis dahin außerhalb stehenden größten Militärmacht Europas in die europäische Politik an der Seite Frankreichs den Weg zu ebnen. Dies gelang. Am 9. Juni 1934 erkannten die Tschechoslowakei und Rumänien, die beiden wichtigen Staaten der Kleinen Entente, die Russische Regierung an und nahmen die diplomatischen Beziehungen zu ihr wieder auf. Damit hatte Frankreich die erste Bresche in die damalige ideologische und psychologische Abneigung der europäischen Staaten gegen das sowjetische Rußland geschlagen, und der französische Außenminister konnte nunmehr auf seiner zweiten Reise nach dem Osten nicht [280] nur die Zustimmung aller Staaten der Kleinen Entente zu dem von Frankreich schon lange mit Rußland verhandelten sogenannten Ostpakt gewinnen, sondern im Anschluß daran diesen selbst Anfang Juli in London offen auf den Tisch der großen internationalen Politik legen. Damit kündigte sich, wie der tschechoslowakische Außenminister Benesch in seiner Rede vom 2. Juli 1934 – Dokumentenbuch 3, Nummer 81 – mit Recht sagte, eine Neugruppierung der europäischen Kräfte an, die dazu angetan erschien, in einem gewissen Maße alle früheren Beziehungen auf dem Kontinent umzuwälzen.

England, das noch am 18. Mai 1934 durch den Mund seines damaligen Lordpräsidenten des Rates, Stanley Baldwin, vor dem Unterhaus erklärt hatte, daß es angesichts der Frage, ob es in ein System des sogenannten Kollektivfriedens einwilligen sollte, das unweigerlich die Notwendigkeit von Sanktionen enthalten müsse, vor einer der schwersten Entscheidungen seiner Geschichte stände – er prägte das Wort: Sanktionen sind Krieg –, gab Anfang Juli 1934 gelegentlich des Besuches Barthous in London seine Zustimmung, nicht nur zum Ostpakt, sondern darüber hinaus auch zu dem von Frankreich angeregten Ein tritt der Sowjetunion in den Völkerbund. Am 18. Dezember 1934 beschloß der Völkerbund offiziell die. Aufnahme Rußlands in den Bund. Damit hatte Frankreich sein Ziel bereits im großen und ganzen erreicht, die Einbeziehung Rußlands, der stärksten Militärmacht, in die europäische Politik, und zwar an seiner Seite, wie sich alsbald herausstellen sollte.

Die deutsche Außenpolitik hat trotz dieser sich ankündigenden Umwälzung der europäischen Machtverhältnisse unter der Leitung des Angeklagten auch nach der von ihr als verhängnisvoll empfundenen Note Frankreichs vom 17. April 1934 unbeirrt und konsequent nicht nur ihren friedlichen Kampf um die praktische Anerkennung der deutschen Gleichberechtigung, sondern auch ihre Friedenspolitik weitergeführt. In seiner bereits zitierten Rede vom 27. April 1934 hat mein Klient erneut und ohne Einschränkung den Willen Deutschlands zum Ausdruck gebracht, daß es auch weiterhin auch um den Preis vertraglicher weiterer Rüstungsbeschränkungen, zu jedweder Verständigung über eine allgemeine Abrüstung bereit sei, wenn diese nur seinem Verlangen nach Gleichberechtigung gerecht würde. Damit allein begnügte es sich aber nicht. Um die internationalen Besprechungen und Verhandlungen über die Abrüstungsfrage, die durch Frankreichs »Nein« vom 17. April 1934 unterbrochen worden waren, wieder in Gang zu bringen, traf sich Hitler Mitte Juni 1934 in Venedig mit Mussolini. Den Zweck und Inhalt dieser Zusammenkunft faßte Mussolini damals in die Worte zusammen: »Wir haben uns getroffen, um den Versuch zu machen, die Wolken zu zerstreuen, die den politischen Horizont Europas [281] verdunkeln.« Ich darf vorsichtshalber daran erinnern, daß Italien damals noch unbedingt auf der Seite der Westmächte stand. Einige Tage später benutzte Hitler die Gelegenheit, in seiner Rede auf dem Gautag in Gera, am 17. Juni 1934 – im Dokumentenbuch 3, Nummer 80 – erneut seinen und Deutschlands unerschütterlichen Friedenswillen zu betonen, indem er unter anderem wörtlich erklärte:

»Wenn uns jemand sagt, wenn ihr Nationalsozialisten die Gleichberechtigung für Deutschland wünscht, dann müssen wir mehr aufrüsten, so können wir nur sagen, unseretwegen könnt ihr das tun, denn wir haben ja nicht die Absicht, euch anzugreifen. Allein wir wollen so stark sein, daß auch jedem anderen die Absicht vergeht, uns anzugreifen. Je mehr die Welt von Blockbildungen spricht, um so klarer wird uns, daß man besorgt sein muß um die Erhaltung der eigenen Kraft.«

Es war derselbe sich durch die sich immer deutlicher abzeichnende Umbildung der Machtverhältnisse und politischen Tendenzen von selbst aufdrängende Gedanke, der dem am 19. Juli 1934 vor dem Unterhause bekanntgegebenen englischen Luftrüstungsplan zugrunde lag und dem der französische Ministerpräsident Doumergue in seiner Rede vom 13. Oktober 1934 an der Bahre des ermordeten Ministers Louis Barthou mit den Worten Ausdruck gab: »Die schwachen Völker sind eine Beute oder eine Gefahr.« So unbestreitbar richtig dieser Gedanke aber auch war, er blieb, was die Einstellung der Westmächte zu Deutschland anbetraf, ebenso unberücksichtigt wie alle Bemühungen der deutschen Außenpolitik, die Verhandlungen der Abrüstungsfrage wieder weiterzutreiben und wie die wiederholten Erklärungen Deutschlands über seine Verständigungsbereitschaft. Deutschland blieb nach wie vor die praktische Anerkennung seiner Gleichberechtigung versagt. Diese Tatsache machte es der deutschen Außenpolitik auch, abgesehen von der immer deutlicher zutage tretenden Einkreisungspolitik Frankreichs, unmöglich, dem Ostpakt beizutreten. Die Gründe für diese Ablehnung des Ostpaktes sind eingehend in dem Kommuniqué der Deutschen Regierung vom 10. September 1934 – Dokumentenbuch 3, Nummer 85 – dargelegt. Sie kulminieren in der Feststellung, daß Deutschland angesichts seiner unbestreitbaren militärischen Schwäche und Unterlegenheit gegenüber den hochgerüsteten Staaten keine vertraglichen Verpflichtungen auf sich nehmen könne, die es in alle im Osten möglichen Konflikte hineinziehen und zum wahrscheinlichen Kriegsschauplatz machen könnten. Nicht mangelnde Bereitschaft zur Beteiligung an internationalen Verträgen oder gar mangelnder Friedenswille war es, was Deutschland zu dieser Haltung veranlaßte, sondern in erster und ausschlaggebender Linie seine notorische militärische Schwäche. Hinzu kam [282] weiter der sich mehr und mehr zeigende wahre Charakter der Politik Frankreichs und des Ostpaktes als eines gegen Deutschland gerichteten Instruments der französischen Einkreisungspolitik ihm gegenüber. Dieser Charakter wurde vor aller Welt klar, als in der Sitzung des Heeresausschusses der französischen Kammer am 23. November 1934 der Berichterstatter Archimbaud es als unleugbar bezeichnete, daß zwischen Frankreich und Rußland eine förmliche Entente bestehe, auf Grund deren letzteres Frankreich ein ansehnliches, gut ausgerüstetes und gut ausgebildetes Heer im Falle eines Konflikts zur Verfügung zu stellen bereit sei. – Dokumentenbuch 3, Nummer 89. – Ganz klar und offen bewiesen aber wurde diese Tatsache durch die Erklärung des französischen Außenministers Laval vom 20. Januar 1935 gegenüber einem Vertreter der russischen Zeitung »Iswestija« in Verbindung mit dem französisch-russischen Protokoll vom 5. Dezember 1934 – Dokumentenbuch 3, Nummer 91 – und die zu demselben abgegebenen Erklärungen Litwinows vom 9. Dezember 1934. Es konnte für den Einsichtigen kein Zweifel mehr an dem Bestehen eines engen französisch-russischen Bündnisses bestehen, wenn auch die Unterzeichnung seines endgültigen Textes erst am 2. Mai 1935 erfolgte, der dann die Unterzeichnung des russisch-tschechoslowakischen Nichtangriffspaktes vom 16. Mai 1935 auf dem Fuße folgte.

Daß dieses derart vollendete Bündnissystem Frankreichs eine verzweifelte Ähnlichkeit mit demjenigen hatte, dem sich Deutschland schon einmal im Jahre 1914 gegenübergesehen hatte, mußte sich jedem Klarblickenden geradezu aufdrängen. Und gerade dieser unwillkürliche Vergleich mußte für jeden deutschen Staatsmann zu der Folgerung führen, daß sich diese Bündnisse einzig und allein gegen Deutschland richten konnten und daher in jedem Falle eine Drohung gegen dieses bedeutete. Dies um so mehr, als diese Bündnisse, diese offensichtliche Einkreisung Deutschlands nicht die einzigen alarmierenden Momente waren. Denn Hand in Hand damit war im Laufe der letzten Monate eine gewaltige Vermehrung der militärischen Rüstungen fast aller außerdeutschen Staaten erfolgt. Nicht nur England hatte mit der Durchführung seines großangelegten Aufrüstungsprogramms begonnen, wie es aus dem englischen Weißbuch vom 1. März 1934 ersichtlich ist, dessen Vorlegung als eines amtlichen historischen Dokuments nicht erforderlich erscheint, auch in Frankreich hatten die Bestrebungen nach Verstärkung seiner Armee unter Führung seines damals populärsten Generals, des Marschalls Pétain, begonnen und Rußland hatte unter der freudigen Zustimmung Frankreichs eine Vermehrung der Friedensstärke seines Landheeres von 600000 auf 940000 Mann vorgenommen. Die Tschechoslowakei hatte im Dezember 1934 die zweijährige Dienstzeit eingeführt – Dokumentenbuch 3, Nummer 92 – und Italien vermehrte gleichfalls dauernd seine Rüstungen.

[283] Alles dieses konnte nach den bitteren Erfahrungen der letzten Jahre, wie ich sie Ihnen, meine Herren Richter, vor Augen geführt habe, vom Standpunkt der deutschen Politik aus nur als eine gewaltige Drohung empfunden und gewertet werden, eine Drohung, der Deutschland so gut wie machtlos gegenüberstand. Jeden Augenblick mußte eine ihrer Verantwortung bewußte Außenpolitik mit der Gefahr rechnen, daß diese geballte, sich ständig vergrößernde Macht Frankreichs und seiner Verbündeten auf Deutschland niedersausen und es zermalmen konnte. Denn nichts ist gefährlicher als die Anhäufung von Macht in einer Hand; sie führt, wenn ihr nicht eine entsprechende andere Macht gegenübersteht, nach alter Erfahrung eines Tages zur Explosion, und zwar dann auf den nächstliegenden, als Gegner empfundenen Staat. Letzteres war und konnte nur Deutschland sein, denn nur in diesem sah Frankreich seinen Widersacher, in keinem anderen Lande der Welt sonst. Und nun frage ich Sie, meine Herren Richter, war es daher nicht ein selbstverständliches Gebot der Notwehr, eine selbstverständliche Forderung des primitivsten Selbsterhaltungstriebes jedes lebenden Wesens – und auch die Völker sind lebendige Wesen, auch ihnen wohnt dieser Selbsterhaltungstrieb inne – daß nunmehr die deutsche Staatsführung und das deutsche Volk diese ihm immer wieder grundlos verweigerte Wehrhoheit zurücknahm und auch ihrerseits sich gegen die über Deutschland schwebende Drohung zu sichern suchten, indem sie die Organisation einer militärischen Luftflotte und durch das Gesetz über den Aufbau der deutschen Wehrmacht vom 16. März 1935 die Aufstellung eines auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhenden Friedensheeres von nur 36 Divisionen beschloß. Ich beziehe mich hierzu auf den Aufruf der Deutschen Reichsregierung zur Wiederherstellung der deutschen Wehrpflicht vom 16. März 1935, Dokumentenbuch 2, Nummer 97.

VORSITZENDER: Wir wollen uns jetzt vertagen.


[Das Gericht vertagt sich bis

24. Juli 1946, 10.00 Uhr.]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 19, S. 226-285.
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