Nachmittagssitzung.

[257] VORSITZENDER: Ich glaube, Herr Dr. Nelte, Sie sind mit Ihren Zeugen nun fertig, nicht wahr?

DR. NELTE: Ich glaube ja. Ich muß mir nur ganz allgemein vorbehalten, nach Beendigung der sowjetrussischen Anklage zu sagen, ob ich noch den einen oder anderen Zeugen benennen will. Ich möchte nun zu den Dokumenten einige Fragen vorlegen, die für mich, das heißt für den Angeklagten Keitel, von besonderem Interesse sind.


VORSITZENDER: Gewiß.


DR. NELTE: Das Gericht kennt ja mein hauptsächliches Beweisthema. Um den Nachweis des Irrtums der Anklagebehörde in vielen Fällen zu bringen, in denen die Zuständigkeit des OKW und die Verantwortlichkeit des Angeklagten Keitel zu Unrecht angenommen wird, kann ich mich auf eine ganz große Anzahl von Dokumenten beziehen, die von der Anklagebehörde vorgelegt sind. Ich nehme nun an, daß ich diese Dokumente als Beweismaterial nicht vorzulegen brauche. Die Dokumente liegen dem Gericht bereits vor, und ich bitte um Ihre Prüfung und Entscheidung, daß ich mich auf solche Dokumente in meinem Plädoyer zur Entlastung des Angeklagten beziehen kann, ohne sie im Beweisverfahren vorzulegen oder besonders zu benennen. Zur Begründung möchte ich noch darauf hinweisen, daß das Gericht nach Aufklärung über die Struktur der Wehrmacht oder der Wehrmachtsteile sowie der Zuständigkeiten der Befehlsverhältnisse im Beweisverfahren selbst ja beurteilen kann, welche der vorgelegten Urkunden die Behauptungen der Anklagebehörde über die Zurechenbarkeit im Hinblick auf den Angeklagten Keitel nicht zu stützen geeignet sind.

Ich bin auch überzeugt, daß das Gericht bei der Urteilsfindung eine Urkunde, die für die Schuldfrage in Betracht kommt, gewissenhaft prüfen wird, auch soweit die Verteidigung solche Urkunden nicht vorlegt und wegen der überaus großen Anzahl, es handelt sich um Tausende der für den Angeklagten Keitel in Betracht kommenden Urkunden, im Plädoyer nicht erschöpfend vortragen kann. Das ist die eine Frage.

Ich möchte aber auch noch eine für die Urkundenbeweisführung zugunsten des Angeklagten Keitel wichtige Frage, die eine allgemeine Bedeutung haben dürfte, dem Gerichtshof unterbreiten.

In der Sitzung vom 1. Februar 1946 hatte der französische Anklagevertreter folgendes ausgeführt. Ich zitiere:

»Das vierte und letzte Kapitel wird folgende Überschrift tragen: ›Die verwaltungstechnische Organisation der verbrecherischen Handlung‹....

[257] Für das vierte Kapitel zum Beispiel kann ich bemerken, daß die Französische Delegation mehr als 2000 Dokumente untersucht hat, wobei ich nur die deutschen Originaldokumente in Betracht ziehe, und davon habe ich nur ungefähr 50 zurückbehalten.«

Es unterliegt nach der früheren grundsätzlichen Erklärung des amerikanischen Hauptanklagevertreters keinem Zweifel, daß diese fünfzig ausgewählten Urkunden lediglich unter dem Gesichtspunkt der Belastung ausgewählt sind. Am 11. Februar, wenn ich mich recht erinnere, habe ich mich an die Französische Anklagebehörde gewandt mit der Bitte, mir die restlichen 1950 Urkunden zur Durchsicht zu überlassen, die die Französische Anklagebehörde nicht benutzt hat. Ich bin bis heute ohne jede Antwort geblieben.

Sie werden die Schwierigkeiten meiner Lage verstehen. Ich weiß, dort sind Urkunden, sie enthalten sicher auch entlastende Tatsachen. Ich kann die Urkunden aber nicht im einzelnen benennen. Ich bitte das Gericht deshalb, in diesem Falle zu entscheiden, daß die Anklagebehörde die in ihrem Besitz befindlichen Urkunden mir zur Einsicht überlassen möge.

VORSITZENDER: Wollen Sie zu diesen besonderen Dokumenten, die Sie verlangen, noch etwas erklären?

DR. NELTE: Ich kenne den Inhalt der Dokumente nicht; ich weiß nur, daß die Französische Anklagebehörde diese 2000 Dokumente...


VORSITZENDER: Gut, wenn Sie diese Sache jetzt behandeln wollen, werde ich den französischen Anklagevertreter bitten, Ihnen darauf zu antworten.


DR. NELTE: Bitte sehr, ich gebe anheim, ob das Gericht diese Frage prüfen will, oder ob es jetzt geschehen soll.


VORSITZENDER: Ich glaube, wir sollten zuerst den französischen Anklagevertreter darüber hören.


M. CHARLES DUBOST, STELLVERTRETENDER HAUPTANKLÄGER FÜR DIE FRANZÖSISCHE REPUBLIK: Als wir daran gingen, unsere Anklage vorzubereiten, war eine ganze Anzahl von Dokumenten zweifelhaften Ursprungs in unserem Besitz.

Wir haben alle Dokumente ausgeschieden, die einer wirklich kritischen Untersuchung nicht standhalten konnten. Wir haben sie einer kritischen Prüfung unterzogen und dabei alle Dokumente ausgeschieden, die wir für verdächtig und nicht genügend beweiskräftig hielten.

Nach Beendigung dieser Arbeit blieben ungefähr fünfzig Dokumente, auf die meine Kollegen Bezug genommen haben und die uns erheblich erschienen. Diese fünfzig Dokumente sind außerdem vom Gerichtshof nicht alle zugelassen worden, sondern drei oder vier [258] davon sind, wenn ich mich recht erinnere, vom Gerichtshof abgelehnt worden, da wir nicht genau angeben konnten, woher sie stammen. Unter diesen Umständen ist es absolut unrichtig zu behaupten, daß wir 1950 Dokumente der Verteidigung vorenthalten haben.

Wir haben dem Gerichtshof und damit auch der Verteidigung die fünfzig Dokumente vorgelegt, die unserer Ansicht nach genügend Beweiskraft hatten.

Wenn ich den eben von der Verteidigung gestellten Antrag richtig verstehe, wird damit bezweckt, vom Gerichtshof zu erwirken, daß ihr Dokumente ausgehändigt werden, von denen dieser einen Teil selbst als nicht beweiskräftig oder nicht genügend verbürgt ausgeschieden hat.

Der Gerichtshof wird zu entscheiden haben, ob er diesem Antrag Folge gibt. Was mich betrifft, muß ich mich entschieden dagegen aussprechen, weil dies bedeuten würde, daß Dokumente herangezogen werden, deren Echtheit der Untersuchung, die wir vorgenommen haben, nicht standgehalten hat; einige der von uns überreichten Dokumente bestanden auch eine solche Prüfung durch den Gerichtshof selbst nicht.


VORSITZENDER: Ja, Herr Dubost, es handelt sich doch aber um folgendes: Der Vertreter der Französischen Anklagebehörde hat erklärt, daß sie eine große Zahl von Dokumenten geprüft hätte; in Ausübung ihres Ermessens hielt sie es für unnötig, sich auf mehr als nur eine bestimmte Zahl von ihnen zu berufen. Die Französische Anklagebehörde hat jedoch bei der Auswahl dieser Dokumente nur ihr eigenes Ermessen walten lassen; Dr. Nelte verlangt jetzt Einsicht in diese Dokumente, um feststellen zu können, ob sie etwas enthalten, was der Verteidigung nützen kann. Hat die Französische Anklagebehörde dagegen Einwendungen?

Es ist wohl möglich, daß einige Dokumente nicht mehr im Besitz der Französischen Anklagebehörde sind; hat aber die Französische Anklagebehörde etwas dagegen, daß Dr. Nelte die Dokumente, die noch in Ihrem Besitz sind, einsieht?


M. DUBOST: Ich möchte dem Gerichtshof in Erinnerung bringen, daß die Dokumente, die wir ausgeschieden haben, nicht ausgesondert wurden, weil sie für unsere Zwecke von vornherein nicht verwendbar waren, sondern weil sie keine genügende Gewähr für ihren Ursprung, für die Bedingungen, unter denen wir sie bekommen haben, und für ihre Beweiskraft boten.

Der Gerichtshof wird sich sicher noch daran erinnern, daß einige Dokumente von ihm selbst zurückgewiesen wurden. Die Dokumente, die wir nicht in Betracht gezogen haben, sind von der gleichen Art wie diejenigen, die zurückgewiesen wurden. Wir haben sie nicht vorgelegt, weil wir nicht angeben konnten, wann, wie und wo sie [259] entdeckt wurden. Zum größten Teil sind es Dokumente, die den Truppen während des Kampfes in die Hände gefallen sind, und die nach juristischen Begriffen nicht zuverlässig genug sind, um verwendet werden zu können.

Soweit sie noch in meinem Besitz sind, bin ich bereit, sie der Verteidigung zu zeigen, unter der Bedingung, daß die Verteidigung ihnen nicht mehr Wert beimißt, als ich es getan habe.


VORSITZENDER: Das mag sein. Ich glaube, Dr. Nelte wünscht nur Einsicht in alle Ihre Dokumente zu nehmen, um zu sehen, ob er irgend etwas in ihnen finden kann, was nach seiner Ansicht der Sache des von ihm vertretenen Klienten nützen kann; soviel ich verstehe, haben Sie dagegen nichts einzuwenden.


M. DUBOST: Ich möchte dem Verteidiger nur erwidern, daß diese Dokumente zum Teil vom Gerichtshof zurückgewiesen wurden, als ich sie vorlegte.


VORSITZENDER: Das gilt natürlich nicht für Dokumente, die vom Gerichtshof zurückgewiesen worden sind. Nun, wir wollen über diese Angelegenheit jetzt nicht entscheiden. Wir werden darüber beraten.


DR. NELTE: Ich bitte das Gericht um seine grundlegende Meinung zu der ersten Frage, die ich behandelt habe: Ob es genügt, daß ich mich auf die von der Anklagebehörde vorgelegten Urkunden beziehe, ohne sie selbst im Beweisverfahren vorzulegen?


VORSITZENDER: Ja, Sir David?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: In diesem Punkt möchte ich Dr. Neltes Vorschlag unterstützen. Wenn ein Dokument bereits vorgelegt ist, dann halte ich es für recht und billig, daß der Verteidiger Erklärungen dazu abgeben kann, ohne es dem Gerichtshof neuerlich vorzulegen; er sollte das uneingeschränkte Recht haben, Ausführungen dazu zu machen.


VORSITZENDER: Ich glaube, daß ich schon bei wiederholten Gelegenheiten zum Ausdruck gebracht habe, daß ein Dokument, das zum Beweise vorgelegt wurde, oder von dem ein Teil zum Beweise vorgelegt wurde, von der Verteidigung dazu verwendet werden kann, den vorgelegten Teil zu erklären oder zu kritisieren. Zur Unterrichtung des Gerichtshofs über das Dokument kann es sich dann als notwendig erweisen, den Teil des Dokuments, der noch nicht vorgelegt ist, einzuführen, damit er übersetzt wird.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich weiß nicht, ob es angebracht ist, Dr. Nelte die Stellungnahme der Anklagebehörde zu seiner Dokumentenliste mitzuteilen, oder ob er sie lieber selbst besprechen will. Ich könnte es ganz kurz machen, wenn es recht ist.


[260] VORSITZENDER: Ich glaube, es würde die Sache abkürzen, wenn Sie es tun.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Eine beträchtliche Anzahl von Dokumenten auf dieser Liste fällt in diese eben erwähnte Gruppe.

Die Dokumente 3 bis 9, 17 und 29, 30 und 31 scheinen sämtlich schon vorzuliegen; deshalb kann Dr. Nelte gemäß Ihrer Entscheidung zu ihnen Stellung nehmen.

Dann haben wir hier eine Reihe von Dokumenten, die durchweg Affidavits von Angeklagten oder beabsichtigten Zeugen sind. Es sind dies die Dokumente 12, 13, 22, 23, 24, 25 und 28.

Der Gerichtshof wird sich daran erinnern, daß mein Freund, Herr Dodd, im Falle des Zeugen Dr. Blaha so vorging, daß er den Zeugen fragte: Ist Ihre eidesstattliche Erklärung wahr?, und dann das Affidavit vorlas, um Zeit zu sparen. Die Anklagebehörde erhebt keinen Einspruch, daß Dr. Nelte ebenso verfährt, wenn er es wünscht. Selbstverständlich hat jedoch ein Zeuge, der zur mündlichen Aussage vorgeladen wird, nach Ansicht der Anklagebehörde die Wahrheit seines Affidavits unter Eid zu bestätigen.


VORSITZENDER: Einen Augenblick! Sie meinen, daß, wenn der Zeuge hier ist, Sie keinen Einspruch er heben, daß Dr. Nelte das Affidavit verliest und der Zeuge dann einem Kreuzverhör unterworfen wird?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Der Zeuge wird aussagen: Ich bin einverstanden, ich bestätige die Richtigkeit der in meinem Affidavit gemachten Angaben.


VORSITZENDER: Ja.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Damit können wir beim eigentlichen Verhör ziemlich viel Zeit sparen, und wir sollten alle bereit sein, soweit zusammenzuarbeiten.


VORSITZENDER: Dr. Nelte, sind Sie damit einverstanden? Entspricht das Ihrem Vorschlag?


DR. NELTE: Durchaus.


VORSITZENDER: Sir David, da ja der Anklagebehörde das Affidavit übergeben wurde, könnte sie vielleicht erklären, ob sie nicht überhaupt auf das Kreuzverhör verzichtet; dadurch würde das Erscheinen oder Herbringen des Zeugen überflüssig.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Das kann im Falle des Dr. Lehmann möglich sein. In allen anderen Fällen dürfte es sich entweder um Angeklagte oder Zeugen, die die Anklagebehörde über gewisse Punkte befragen will, handeln.

Dann haben wir drei Dokumente, gegen deren Vorlage wir keinen Einspruch erheben. Es sind dies Nr. 18, 26 und 27.

[261] Damit bleibt noch eine Anzahl von Dokumenten übrig, über deren Bedeutung ich im Augenblick nicht ganz sicher bin; vielleicht kann aber Dr. Nelte erklären, wozu er diese Dokumente vorlegen will; damit würde er die Schwierigkeit für die Anklagebehörde beheben.

Ich bitte den Gerichtshof, Dokument 1 und 2 zu betrachten. Das erste ist das Gutachten eines Sachverständigen über Staatsrecht im Führerstaat und die Bedeutung eines Führerbefehls; Dokument 2 ist der Führerbefehl Nummer 1.

Falls die Verteidigung mit diesen Dokumenten Artikel 8 des Statuts bekämpfen will, würde die Anklagebehörde Einspruch erheben. Artikel 8 regelt die Frage der Befehle von Vorgesetzten.


VORSITZENDER: Ja.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Wenn sie jedoch nur vorgelegt werden sollen, um die geschichtlichen Hintergründe aufzuklären, dann mag es etwas anderes sein.

Das nächste Dokument ist Nummer 10; die Notwendigkeit für ein Ministerium zur Wiederaufrüstung, entnommen aus...

VORSITZENDER: Sir David, sogar nach Ihrer Ansicht sollten wir ein Sachverständigengutachten zu dieser Frage entgegennehmen?


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Nein, Herr Vorsitzender, keinesfalls. Meine zweite Bemerkung bezog sich in der Tat nur auf den Führerbefehl. Er könnte als Hintergrund, als Milderungsgrund oder zur Erklärung herangezogen werden, wie sich die Dinge abgespielt haben. Aber ich stimme ergebenst mit Ihnen darin überein, daß das Gutachten eines Sachverständigen über Staatsrecht auf die Rechtsprechung dieses Gerichtshofs keinen Einfluß haben kann. Gewiß mögen die Gesetze eines anderen Staates für diesen Gerichtshof ebenso eine Tatsachenfrage sein wie für ein englisches Gericht die Frage: Wie lautet das Gesetz eines anderen Staates? Ich möchte nur nachdrücklich auf die Bedeutung des Artikels 8 für diese beiden Dokumente hinweisen.


VORSITZENDER: Ja.


SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Die Dokumente 10 und 11 behandeln die Aufrüstung in anderen Ländern. Ich möchte die Verteidigung nicht daran hindern, Dokumente zur Verdeutlichung heranzuziehen, aber wiederum betone ich mit besonderem Nachdruck, daß die Aufrüstung in anderen Ländern keine Entschuldigung für Angriffskriege sein kann und hierfür unerheblich wäre.

Dokumente 15 und 16 nehmen Bezug auf Bücher von Generalmajor Fuller und Generalmajor Temperley, beide frühere Offiziere, die damals Journalisten waren. Soweit es sich um Tatsachen handelt, die in diesen Büchern behauptet werden, wird uns Dr. Nelte mitteilen, welche Stellen er im Auge hat; wir werden dann sehen, ob [262] wir sie zulassen können. Die allgemeinen Ansichten von Generalmajor Fuller und Generalmajor Temperley sind unserer Ansicht nach jedoch unwesentlich.

19, 20 und 21 sind Bücher über Österreich. Auch hier steht die Anklagebehörde auf dem Standpunkt, daß der frühere Stand der Meinungen in Österreich über den Anschluß unerheblich ist für die Beurteilung der Frage, ob in der Angriffshandlung vom Jahre 1938 ein Bruch des Vertrages vom Jahre 1936 lag. Ich glaube, Euer Lordschaft, daß ich nun alle Dokumente besprochen habe; wie ich schon sagte, zerfallen sie in vier Gruppen. Bei drei dieser Gruppen sind wir uns grundsätzlich einig. Was die vierte Gruppe betrifft, macht die Anklagebehörde die von mir genannten verschiedenen Vorbehalte. Ich möchte jedoch noch einmal klarstellen, daß die Anklagebehörde keinen Einspruch dagegen erhebt, daß Dr. Nelte irgendeines dieser Bücher zur Vorbereitung seiner Verteidigung erhält; wir möchten nur, daß er uns möglichst bald angibt, wie weit er sie vorzulegen gedenkt.


DR. NELTE: Da bezüglich der drei ersten Kategorien eine Übereinstimmung mit den Ansichten der Anklagebehörde besteht, kann ich mich auf die letzte Kategorie beziehen, die mit den Dokumenten 1 und 2 beginnt. Eine der grundsätzlichsten Fragen dieses Prozesses, die zunächst ein rein rechtliches Problem zu sein scheint, ist die Frage des sogenannten Führerstaates und des Führerbefehls. Diese Frage hat aber hier in diesem Prozeß auch eine wichtige tatsächliche Bedeutung, weil zum Beispiel der Angeklagte Keitel infolge seiner besonderen Stellung in stärkstem Maße unter der Auswirkung des Prinzips des Führerstaates stand und handelte, weil er der Inkarnation dieses Prinzips, nämlich Hitler, dauernd persönlich nahestand. Es ist nicht so, als ob der Artikel 8 des Statuts davon unberührt bliebe. Es wird aber, so nehme ich an, ein Beweis dafür erbracht werden können, daß der Artikel 8 auf diesen Fall keine Anwendung findet.

Was den Führerbefehl Nummer 1, Dokument 2 anlangt, so werden Sie selbst beurteilen können, ob ihm eine Beweiserheblichkeit zukommt, wenn Sie ihn hören. Dieser Befehl lautet:

Führerbefehl Nummer 1 aus Keitels Dokumentenbuch Nummer 1:

»a) Niemand soll Kenntnis haben von geheimen Dingen, die nicht in seinen eigenen Aufgaben bereich gehören.

b) Niemand soll mehr erfahren, als er zur Erfüllung der ihm gestellten Aufgabe wissen muß.

c) Niemand soll früher Kenntnis erhalten, als es für die ihm gestellten Obliegenheiten notwendig ist.

d) Niemand darf mehr oder früher geheimzuhaltende Aufträge an nachgeordnete Stellen weitergeben, als dies zur Erreichung des Zwecks unvermeidlich ist.«

[263] Dokument Nummer 1, das heißt das Gutachten über den Führerstaat und Führerbefehl soll in Verbindung mit diesem Führerbefehl Nummer 1 als Beweismaterial dafür dienen, daß eine conspiracy im Sinne der Anklage begrifflich ausgeschlossen war. Deswegen bitte ich, diese beiden Urkunden als erheblich zuzulassen.

Das Dokument 10, das Dokument 11 und auch in gewissem Umfang das Dokument 16 wird vorgelegt, weil bewiesen werden soll, daß die Grundsätze, die der Angeklagte Keitel als Soldat und als Deutscher für wichtig hielt, nämlich die Wiederaufrüstung bis zu dem Grade einer geachteten Stellung Deutschlands im Rate der Völker nicht nur eine Forderung von Deutschen war, sondern daß auch Ausländer, und zwar gewichtige Persönlichkeiten, diese Forderung verstanden und sie billigten. Diesem Beweisthema dient die Vorlage des Aufsatzes eines englischen, eines französischen und eines amerikanischen Verfassers; es sind Militärs, die als Militärschriftsteller, glaube ich, einen Namen haben. Hierzu gehört auch der Aufsatz »Der totale Krieg« von Generalmajor Fuller, Dokument 15, und das Buch des englischen Generalmajors Temperley »The Whispering Gallery of Europe«. Herr Fuller schreibt zum Beispiel in seinem Aufsatz:

»Es ist Unsinn, zu behaupten, er (Hitler) habe den Krieg gewollt. Ein Krieg konnte ihm nicht die Wiedergeburt des Volkes bringen. Was er brauchte, war ein ehrenvoller, gesicherter Friede.«

Es handelt sich hier nämlich um den Beweis, daß die Absicht der Angriffskriege an sich widersinnig war, wenn man die Erklärungen Hitlers und der führenden Nationalsozialisten für ehrlich ansah!

Der Angeklagte hat an die Ehrlichkeit der Äußerungen geglaubt, und er beruft sich zu diesem Zweck auf die Ansicht von Ausländern, die Namen und Bedeutung haben.

Ich glaube, das waren die Dokumente, die seitens der Anklagebehörde zum Anlaß genommen wurden, gewisse Bedenken zu äußern.

VORSITZENDER: Sie haben die Dokumente 19 bis 21 nicht erwähnt, die einen bestimmten Meinungsstand in Österreich zeigen sollen.

DR. NELTE: Ja; diese Dokumente, Nummer 19, »Die Anschlußfrage in ihrer kulturellen und politischen Bedeutung«, Dokument 20, »Auf dem Wege zum Anschluß«, und das dritte, »Die Anschlußfrage in der internationalen Presse« von 1931, sollen beweisen, daß der Angeklagte annehmen konnte und dürfte, daß die überwiegende Mehrheit der Österreicher den Anschluß an Deutschland begrüßte. Es handelt sich hier um Aufsätze und Denkschriften des Österreichisch-Deutschen Volksbundes, dessen Vorsitzender der sozialdemokratische Reichstagspräsident Loebe war.


[264] VORSITZENDER: Damit ist Ihre Dokumentenbesprechung beendet, nicht wahr?


DR. NELTE: Ich möchte nur noch einen Ergänzungsantrag dem Gericht überreichen, der sich auf Dokumente bezieht, die ich nicht eher erwähnen konnte, weil sie erst in der Sitzung vom 22. Februar überreicht worden sind. Ich werde diesen Beweisantrag jetzt überreichen. Es handelt sich um elf Dokumente, die sämtlich in der Freitagsitzung überreicht wurden, und zwar zum Beweis für die Mitschuld des Angeklagten Keitel an den Zerstörungen beim Rückzug und an der Zwangsarbeit der Kriegsgefangenen und der Bevölkerung.

Aus dem Inhalt dieser von der Anklagebehörde vorgelegten Dokumente ergibt sich das, was ich schon unter Beweis gestellt habe, daß ein großer Teil der Anschuldigungen der Anklage überhaupt darauf zurückzuführen ist, daß jedes Schriftstück, das in irgendwelcher Weise mit militärischen Dingen zu tun hat, einfach dem OKW und damit Keitel zur Last gelegt wird.


VORSITZENDER: Dr. Nelte, soweit ich weiß, sind alle diese Dokumente bereits vorgelegt worden.


DR. NELTE: Ja.


VORSITZENDER: Gut, dann fallen sie doch in jene Gruppe, für die Sir David seine Zustimmung gegeben hat, so daß Sie zu den Dokumenten aus ihr ohne weiteres Stellung nehmen können.


DR. NELTE: Das ist richtig.


VORSITZENDER: Dann ist es nicht notwendig, wegen dieser Dokumente einen neuerlichen Antrag zu stellen.


DR. NELTE: Als ich diesen Ergänzungsantrag stellte, hatte ich noch nicht die Zustimmung von Sir David. Im übrigen erscheint es mir deswegen als ein besonders eigenartiger und überzeugender Fall, weil an einem Tage elf Urkunden übergeben wurden, die alle zur Beschuldigung von Keitel benutzt wurden, und aus deren gesamtem Inhalt sich ergibt, daß sie ihn und das OKW nichts angehen.


VORSITZENDER: Einen Augenblick bitte, ich wollte Sie noch etwas fragen. Sie haben früher die Vernehmung des Gesandten Messersmith und Otto Wettberg als Zeugen beantragt; in beiden Fällen hat Ihnen der Gerichtshof Fragebogen bewilligt. Ich möchte nun wissen, ob Sie in diesen beiden Fällen Ihren Antrag zurückziehen, oder ob Sie die Antworten auf diese Fragebogen gesehen haben.


DR. NELTE: Ich habe diese Fragebogen entsprechend der Anregung sowohl an den Gesandten Messersmith als auch an Pastor Wettberg geschickt. Je nach der Antwort, die ich von diesen beiden erhalten werde, werde ich sie unterbreiten oder nicht.


[265] VORSITZENDER: Sie haben also den Fragebogen an Otto Wettberg abgesandt?


DR. NELTE: Ja, aber noch nicht zurückerhalten.


VORSITZENDER: Gut. Würden Sie etwas genauer erklären, was es mit dem Dokument 1 für eine Bewandtnis hat? Es scheint das Gutachten eines sachverständigen Zeugen über die Bedeutung des Führerbefehls zu sein. Beabsichtigen Sie das vorzulegen?


DR. NELTE: Ja; es ist ein staatsrechtlicher Aufsatz über die Struktur und die Bedeutung dessen, was man Führerstaat nannte.


VORSITZENDER: Gut. Bitte, Oberst Smirnow!


OBERJUSTIZRAT L. N. SMIRNOW, HILFSAN KLÄGER FÜR DIE SOWJETUNION: Hoher Gerichtshof! Es ist meine Aufgabe, dem Gerichtshof die Beweise für den letzten Anklagepunkt vorzulegen, die »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Sie sind Anklagepunkt 4 der Anklageschrift und im Artikel 6 und insbesondere in Punkt 6 c des Statuts behandelt.

Ich werde Ihnen Beweise für die Verbrechen erbringen, die die Hitler-Banditen in den zeitweilig besetzten Gebieten der Sowjetunion, Polens, Jugoslawiens, der Tschechoslowakei und Griechenlands verübt haben.

Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben ebenso wie alle übrigen Verbrechen der deutschen Faschisten, für die dem Gerichtshof von meinen Kollegen Beweise vorgelegt wurden, ihren Ursprung in dem verbrecherischen Charakter des Faschismus, in seinem Streben, durch Besetzung und Plünderung ganzer Staaten im Osten und Westen, durch Versklavung und Massenvernichtung der Menschen die Herrschaft über die ganze Welt an sich zu reißen, Diese Verbrechen wurden durch die Fortsetzung der kannibalistischen Theorien des deutschen Faschismus in die Tat umgesetzt.

In fast allen verbrecherischen Taten der Hitleristen finden wir Elemente des Begriffs »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. So wurden dem Gerichtshof schon zahlreiche Beweise für Tatsachen vorgelegt, die die Bedeutung der von den deutschen Faschisten begangenen Verbrechen erhärten, und zwar während des Vorbringens über die gegen die Zivilbevölkerung begangenen Kriegsverbrechen.

Die von den Hitleristen begangene verbrecherische Verletzung der Kriegsgesetze und -Gebräuche sowie die Massenvernichtung der Kriegsgefangenen gehören zu den schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Aber der Begriff »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« ist gleichzeitig viel weitreichender als der Begriff aller übrigen Verbrechen der deutschen Faschisten, für die dem Gerichtshof die Beweise bereits vorgelegt wurden.

[266] Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen und dem Erscheinen des Hakenkreuzes auf öffentlichen Gebäuden schien das Leben für die Bewohner der vorübergehend besetzten osteuropäischen Gebiete zu Ende gegangen zu sein.

Die erbarmungslose Maschine des faschistischen Staates wollte sie zwingen, sich von allem loszusagen, was als Ergebnis tausendjähriger menschlicher Entwicklung zum unlösbaren Bestandteil der Menschlichkeit geworden war.

So schwebte der Tod stets über ihnen, aber man zwang sie auf dem Wege zum Tode zu qualvollen Erniedrigungen, die gegen alle menschliche Würde verstießen, und die in ihrer Gesamtheit das bilden, was die Anklage »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« nennt.

Man versuchte sie zu zwingen, ihren Namen zu vergessen, indem man ihnen eine Nummer um den Hals hängte öder auf ihrem Ärmel ein Kennzeichen anbrachte. Man beraubte sie des Rechtes, ihre eigene Sprache zu lesen und zu sprechen. Man raubte ihnen ihr Heim und ihre Familie und ihr Vaterland, indem man sie gewaltsam viele Hunderte und Tausende von Kilometern weit verschickte. Man nahm ihnen das Recht, Kinder zu haben. Sie wurden täglich verhöhnt und beleidigt. Man verspottete ihre Gefühle und ihren Glauben. Und schließlich nahm man ihnen auch noch das letzte Recht, das Recht zu leben.

In zahlreichen Untersuchungen wurde festgestellt, daß die Opfer der Greueltaten der deutschen Faschisten körperlich vollkommen zusammengebrochen waren. Meist wurde auch die außerordentlichste seelische Depression an den Personen festgestellt, die durch irgendeinen Zufall der faschistischen Hölle entronnen waren.

Diese Opfer des Nationalsozialismus brauchten lange Zeit, um zur Welt ihrer gewohnten Begriffe, zu ihrem Wirkungskreis und zu den Sitten der menschlichen Gesellschaft zurückzufinden. Es ist schwer, all dies in juristische Formen zu bringen, aber meiner Meinung nach ist es sehr wesentlich für die Anklage gegen die Hauptkriegsverbrecher.

Ich bitte den Gerichtshof, nunmehr den Bericht der Polnischen Regierung zur Hand zu nehmen, der dem Gerichtshof als USSR-93 bereits vorliegt. Die Stelle, die ich verlesen will, werden die Herren Richter auf Seite 10 des Dokumentenbuches finden. Auf Seite 70 des russischen Textes dieses Berichtes finden Sie eine Stelle aus der Aussage eines Zimmermanns aus Warschau, Jakob Vernik, der ein Jahr im Vernichtungslager Treblinka 2 verbracht hat. Manchmal nennen die amtlichen deutschen Dokumente Treblinka 2 auch Treblinka B. Es ist jedoch ein und dasselbe. Es war eine der entsetzlichsten Sammelstellen zur Massenvernichtung von Menschen, die der deutsche Faschismus geschaffen hatte. In meinem [267] Bericht werde ich dem Hohen Gerichtshof Beweise über die Existenz dieses Lagers vorlegen.

Es folgt der Bericht, den Vernik der Polnischen Regierung über Treblinka erstattet hat, der Bericht, in dessen Einleitung er betont, daß der Wille, ihn zu übermitteln, für ihn der einzige Grund gewesen wäre, »sein elendes Leben fortzusetzen«:

»In wachem Zustand oder im Schlafe habe ich fortwährend schreckliche Visionen von Tausenden, die um Hilfe rufen, die um Leben und Erbarmen betteln. Ich habe meine Familie verloren, ich habe sie selbst in die Todeskammer geführt, ich habe mit meinen eigenen Händen die Todeskammer gebaut, in der sie ermordet wurden.

Alles schreckt mich. Ich fürchte, daß alles, was ich gesehen habe, auf meinem Gesicht eingeprägt ist. Alt und gebrochen, ist das Leben für mich eine schwere Last. Aber ich muß mich aufraffen und leben, um der ganzen Welt zu erzählen, was ich an deutschen Verbrechen und deutscher Barbarei gesehen habe.«

Für die Menschen, die nach Treblinka kamen, war, wie ich schon sagte, das Leben zu Ende. Aber waren sie die einzigen? Die Untersuchung der Beweise über die Verbrechen der deutschen Faschisten zeugt unwiderlegbar dafür, daß nicht nur diejenigen, die in die richtigen Vernichtungslager kamen, dasselbe Schicksal teilten, sondern auch noch so viele andere, die in den vorübergehend besetzten Gebieten Osteuropas Opfer dieser Verbrecher wurden.

Ich möchte den Gerichtshof bitten, mir zu erlauben, eine kurze Stelle aus dem als USSR-46 vorgelegten Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission über die Verbrechen der deutschfaschistischen Angreifer in der Stadt Orel selbst und im Gebiet von Orel zum Beweise zu verlesen. Das Dokument enthält eine besondere Mitteilung eines berühmten russischen Gelehrten, eines Arztes, der Präsident der Akademie für medizinische Wissenschaft und Mitglied der Außerordentlichen staatlichen Kommission war, des Akademikers Burdenko.

Die Herren Richter werden diese Mitteilung in Absatz 6 auf Seite 14 des Dokumentenbuches finden.

»Die Szenen, die ich Gelegenheit hatte zu sehen,« sagt Burdenko, »übersteigen jede Vorstellung. Meine Freude, als ich die Befreiten erblickte, war mir dadurch verdorben, daß sie wie erstarrt aussahen. Wir wunderten uns darüber, welches wohl die Ursache hierfür wäre. Augenscheinlich hatten die Schmerzen, die sie erlitten, den Gesichtern der Lebenden den Stempel der Gleichheit zwischen Leben und Tod aufgedrückt. Drei Tage lang habe ich diese Leute beobachtet, ihre Wunden verbunden und sie abtransportiert, doch [268] der Ausdruck seelischer Erstarrung wich nicht von ihnen. Ähnliches konnte man während dieser ersten Tage in den Gesichtern der Ärzte bemerken.«

Ich will Ihre Zeit, meine Herren Richter, nicht damit in Anspruch nehmen, daß ich die Ihnen bekannten Stellen aus »Mein Kampf« und dem »Mythus des 20. Jahrhunderts« verlese. Wir sind in erster Linie am verbrecherischen Vorgehen der deutsch-faschistischen Unholde interessiert.

Ich habe vorhin bereits gesagt, daß der Tod ständig über den Köpfen derer schwebte, die Opfer des Faschismus wurden. Der Tod konnte ganz plötzlich kommen, wenn ein Sonderkommando irgendwo erschien. Dann konnte aber auch die Todesstrafe für irgendeine Tat mit Sonderentscheidungen verhängt wer den, die wie zum Hohn deutsch-faschistische »Gesetze« hießen.

Sowohl ich, als auch die anderen Vertreter der Sowjetanklage haben schon mehrere Beispiele für diese terroristischen Gesetze, Weisungen und Befehle der deutsch-faschistischen Behörden angeführt. Ich möchte mich nicht wiederholen, muß aber doch den Gerichtshof bitten, mir zu gestatten, eines von diesen Dokumenten zu verlesen, weil es für alle vorübergehend besetzten Ostgebiete galt. Dem Verfasser dieses Dokuments, dem Angeklagten Alfred Rosenberg, genügte als Grund zur Veröffentlichung die Tatsache, daß diese vorübergehend besetzten Gebiete von Nichtdeutschen bewohnt waren. Dieses Dokument ist ein charakteristischer Beweis für die Verfolgung der Menschen aus rassischen, nationalen und politischen Gründen.

Ich bitte den Gerichtshof, das von mir als USSR-395 vorgelegte Dokument zu den Akten zu nehmen. Es ist die Photokopie der von Alfred Rosenberg am 17. Februar 1942 herausgegebenen sogenannten »Dritten Verordnung zur Ergänzung der strafrechtlichen Vorschritten in den besetzten Ostgebieten«. Die Herren Richter werden dieses Dokument auf den Seiten 19 und 20 des Dokumentenbuches finden. Ich will das Dokument vollständig verlesen, und beginne mit Paragraph 1:

»Paragraph 1. Mit dem Tode, in minder schweren Fällen mit Zuchthaus wird bestraft, wer es unternimmt, gegen das Deutsche Reich oder die in den besetzten Ostgebieten ausgeübte Hoheitsgewalt eine Gewalttat zu begehen, wer es unternimmt, gegen einen Reichsdeutschen oder deutschen Volkszugehörigen wegen seiner Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum eine Gewalttat zu begehen, wer es unternimmt, gegen einen Angehörigen der Deutschen Wehrmacht oder ihres Gefolges, der Deutschen Polizei einschließlich ihrer Hilfskräfte, des Reichsarbeitsdienstes, einer deutschen Behörde oder einer Dienststelle oder Gliederung der NSDAP [269] eine Gewalttat zu begehen, wer zum Ungehorsam gegen eine von den deutschen Behörden erlassene Verordnung oder Anordnung auffordert oder anreizt, wer Einrichtungen der deutschen Behörden oder Dienststellen oder Sachen, die deren Arbeit oder dem öffentlichen Nutzen gewidmet sind, vorsätzlich beschädigt, wer es unternimmt, deutschfeindlichen Bestrebungen Vorschub zu leisten oder den organisatorischen Zusammenhalt von Vereinigungen, die von den deutschen Behörden verboten worden sind, aufrechtzuerhalten, wer durch gehässige oder hetzerische Betätigung eine deutschfeindliche Gesinnung bekundet oder durch sein sonstiges Verhalten das Ansehen oder das Wohl des Deutschen Reiches oder des deutschen Volkes herabsetzt oder schädigt, wer vorsätzlich eine Brandstiftung begeht und dadurch allgemein- deutsche Belange oder das Vermögen....«

VORSITZENDER: Haben Sie das nicht schon einmal verlesen?

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich habe im Protokoll nachgesehen, und, soviel ich feststellen konnte, ist diese Verordnung noch nicht verlesen worden.


VORSITZENDER: Gut.


OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Es kann sein, daß ähnliche Befehle verlesen wurden. Vielleicht Befehle Franks oder von jemand anderem, die ihrem Inhalt nach sehr ähnlich sind; jedenfalls habe ich dieses Dokument im Protokoll nicht finden können.

Ich fahre fort:

»..... wer vorsätzlich eine Brandstiftung begeht und dadurch allgemein-deutsche Belange oder das Vermögen eines Reichsdeutschen oder deutschen Volkszugehörigen beschädigt.«

Paragraph 2. Dieser Paragraph ist besonders charakteristisch.

»Ferner wird mit dem Tode, in minder schweren Fällen mit Zuchthaus bestraft, wer die Begehung einer nach Paragraph 1 strafbaren Handlung verabredet, in eine ernsthafte Verhandlung darüber eintritt, sich zu ihrer Begehung erbietet oder ein solches Erbieten annimmt oder wer von einer solchen Tat oder ihrem Vorhaben zu einer Zeit, zu der die Gefahr noch abgewendet werden kann, glaubhaft Kenntnis erhält und es vorsätzlich unterläßt, einer deutschen Behörde oder dem Bedrohten rechtzeitig Anzeige zu erstatten.

Paragraph 3. Die Todesstrafe wird zur Sühne einer nicht unter Paragraph 1 und Paragraph 2 fallenden Straftat auch dann verhängt, wenn sie nach den allgemeinen deutschen Strafgesetzen und den Anordnungen der deutschen Behörden nicht angedroht ist, die Tat aber von besonders niedriger [270] Gesinnung zeugt oder aus anderen Gründen besonders schwer ist; in diesen Fällen ist die Todesstrafe auch gegen jugendliche Schwerverbrecher zulässig.

Paragraph 4. (1) Zur Aburteilung ist, soweit nicht die Zuständigkeit eines Standgerichtes begründet ist, das Sondergericht zuständig.

(2) Die für die Wehrmacht erlassenen Sonderbestimmungen werden hierdurch nicht berührt.«

Paragraph 5 lasse ich aus.

Diese Verordnung Rosenbergs war nur ein Glied in der Kette der Verbrechen der Führer des deutschen Faschismus, die auf die Vernichtung der slawischen Völker hinzielten.

Ich gelange nun zum ersten Teil meines Vertrags über die Vernichtung der slawischen Völker.

Hier will ich zeigen, wie die verbrecherischen Pläne der Hitleristen zur Vernichtung der slawischen Völker ausgeführt wurden.

Ich beabsichtige, Tatsachen aus dem Bericht der Jugoslawischen Regierung zu bringen, die der Gerichtshof auf Seite 56 des russischen Textes des Berichtes und auf Seite 76, Absatz 3, des Dokumentenbuches findet.

»Abgesehen von den Tausenden in den Kämpfen gefallener Jugoslawen haben die Eindringlinge mindestens 11/2 bis 2 Millionen Menschen, größtenteils Kinder, Frauen und Greise, vernichtet. Von insgesamt 15 Millionen Jugoslawen, die es vor dem Kriege gab, wurden in der verhältnismäßig kurzen Zeit von 4 Jahren fast 14 % der Gesamtbevölkerung vernichtet.«

In dem Bericht der Tschechoslowakischen Regierung, Seite 36 und 37 des russischen Textes, wurden Beweise erbracht, daß die hitleristischen Verbrecher einen Plan für die zwangsweise Umsiedlung aller Tschechen und die Ansiedlung von deutschen Kolonisten in der Tschechoslowakei ausgearbeitet hatten.

Der Bericht enthält einen Auszug aus einer Aussage von Karl Hermann Frank, in der er zugab, daß ein solcher Plan bestanden hatte und erklärt, daß er, Frank, eine Denkschrift verfaßt habe, in der er gegen einen solchen Plan Einspruch erhoben habe.

Ich verlese diese Stelle aus der Aussage von Karl Hermann Frank, die der Gerichtshof im Absatz 4 auf Seite 81 des Dokumentenbuches findet:

»Ich hielt diesen Plan für sinnlos, da meiner Meinung nach ein hierdurch entstehendes Vakuum die Lebensfunktionen von Böhmen und Mähren aus verschiedenen Gründen geopolitischer, verkehrstechnischer, industrieller und anderer Natur [271] ernstlich gestört haben würde und eine unmittelbare Anfüllung dieses Vakuums mit neuen deutschen Siedlern unmöglich war.«

In Polen wurde der Plan zur Vernichtung der slawischen Völker unter Anwendung verschiedener verbrecherischer Methoden ausgeführt; unter diesen Methoden wurde jene am häufigsten angewandt, die darin bestand, Menschen durch Arbeiten, die über ihre Kräfte gingen, völlig zu erschöpfen und sie dann Hungers sterben zu lassen. Die Verbrecher wandten bewußt die Methoden an, Millionen von Menschen durch Aushungerung zu vernichten. Dies ist durch ein von meinen Kollegen und mir mehrfach zitiertes Dokument bewiesen, dem Tagebuch von Hans Frank.

Ich will einige kurze Stellen aus diesem Dokument verlesen. Zunächst einen Auszug aus dem Protokoll einer Besprechung beim Gouverneur vom 7. Dezember 1942 in Krakau. Der Gerichtshof findet die Stelle, die ich zitieren will, auf Seite 89 des Dokumentenbuches, letzter Absatz, Spalte 1:

»Wenn der neue Ernährungsplan durchgeführt werden solle, so bedeute das allein für die Stadt Warschau und ihre nächste Umgebung, daß 500000 Menschen keine Verpflegung mehr bekämen.«

Dann habe ich noch einen anderen kurzen Auszug aus dem Protokoll einer Regierungssitzung vom 24. August 1942. Die Richter werden dieses Zitat auf Seite 90 des Dokumentenbuches, 1. Absatz finden. Dr. Frank sagt:

»Bei allen Schwierigkeiten, die Sie hier irgendwo in Gestalt von Krankheiten Ihrer Arbeiter, beim Zusammenbrechen Ihrer Genossenschaften usw. feststellen, müssen Sie immer daran denken, daß es noch viel besser ist, wenn ein Pole zusammenbricht, als daß der Deutsche unterliegt. Daß wir 1,2 Millionen Juden zum Hungertod verurteilen, sei nur am Rande festgestellt. Es ist selbstverständlich, daß ein Nichtverhungern der Juden hoffentlich eine Beschleunigung der antijüdischen Maßnahmen zur Folge haben wird.«

Der dritte kurze Auszug aus dem Protokoll über die Arbeitsbesprechung der Politischen Leiter der Deutschen Arbeitsfront der NSDAP im Generalgouvernement vom 14. Dezember 1942 lautet wie folgt, der Gerichtshof wird die Stelle auf Seite 89 im Dokumentenbuch, Spalte 2, Absatz 2, finden:

»... und wir deshalb vor folgendem Problem stehen: Können wir schon ab Februar über 2 Millionen der fremdvölkischen Bevölkerung dieses Raumes aus der allgemeinen Ernährungsfürsorge völlig ausschalten oder nicht?«

Als der Hauptankläger der USSR in seiner Einführungsrede über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit sprach, verwies er [272] auf die Notizen von Martin Bormann. Die Notizen von Martin Bormann wurden dem Gerichtshof bereits als USSR-172 vorgelegt. Der Hauptankläger der USSR hat folgende Stelle besonders hervorgehoben, die der Gerichtshof auf Seite 97 des Dokumentenbuches, letzter Absatz finden wird.

»Zusammenfassend wolle der Führer noch einmal feststellen: 1. Der letzte deutsche Arbeiter und der letzte deutsche Bauer muß wirtschaftlich immer noch 10 % besserstehen als jeder Pole.«

Was geschah in Wirklichkeit? Ich will zeigen, wie diese Weisungen Hitlers von dem Angeklagten Frank gebilligt und in Polen ausgeführt wurden. Zu diesem Zweck bitte ich, dem Gerichtshof als Beweisstück ein deutsches Originaldokument vorlegen zu dürfen.

Unter anderen faschistischen Instituten, die alle möglichen pseudowissenschaftlichen Experimente durchführten, haben die deutschen Verbrecher ein eigenes Institut für Wirtschaftsforschung geschaffen. Dieses Institut hat ein Dokument: »Die Bedeutung des Polenproblems für die Rüstungswirtschaft Oberschlesiens« herausgegeben. Mit diesen Forschungen hat das faschistische wissenschaftliche Institut für Wirtschaftsforschung beschlossen, die Ursachen des Herabsinkens der Leistungsfähigkeit der polnischen Arbeiter zu untersuchen.

Über die Zwecke dieser Forschung werden am besten zwei ganz kurze Zitate Zeugnis ablegen. Auf Seite 39 dieses Originaldokuments lesen wir, der Gerichtshof wird diese Stelle, die ich verlesen will, in Absatz 2 auf Seite 101 des Dokumentenbuches finden. Ich lege dieses Dokument dem Gerichtshof als USSR-282 vor. Der Gerichtshof findet diese Stelle auf Seite 101 des Dokumentenbuches, Absatz 2:

»Die vorliegende Untersuchung hat in keiner Weise die Absicht, eine Mitleidspropaganda zu treiben.«

Auf Seite 149 des zitierten Dokuments, es ist immer noch Seite 101 des Dokumentenbuches, Absatz 3, heißt es:

»Wir sprechen hier, nicht um die Polen zu schützen, sondern um die Wehrmachtsproduktion nicht zu gefährden.«

Nach Verlesung dieser kurzen Stellen, welche die Ziele und den Charakter der Forschung kennzeichnen, werde ich einige Auszüge verlesen, welche die Lage der polnischen Arbeiter und die Verwirklichung der obenerwähnten Weisungen Hitlers durch den Angeklagten Frank zeigen.

Ich zitiere auf Seite 38 des Originaldokuments, es ist Seite 101, Absatz 7, des Dokumentenbuches:

»Die Mitteilungen über die Lage der Polen und die Anschauungen, die sich auf die zweckmäßigsten Maßnahmen [273] beziehen, gehen in vielem weit auseinander. In einem Punkt jedoch besteht volle Übereinstimmung aller Mitteilungen... Das Ergeb nis kann hier in 3 Worten zusammengefaßt werden: Der Pole hungert! Es bedarf an sich nicht allzu vieler und manchmal nur kleiner Beobachtungen, um dies darzulegen: Ein Berichterstatter geht in der Frühstückspause eines Rüstungsbetriebes über den Werkhof. Die Leute stehen oder sitzen apathisch in der Sonne herum, einige rauchen eine Zigarette. Der Berichterstatter zählt etwa 80 Leute. Ein einziger davon ißt ein Frühstücksbrot, die anderen haben nichts, obwohl die Arbeitszeit 10 bis 12 Stunden beträgt.«

Ich gehe nun auf Seite 72 des Originaldokuments über, es ist Seite 102 des Dokumentenbuches:

»Nach den Beobachtungen der Betriebe erlauben die jetzigen Rationen den polnischen Arbeitskräften in der Regel nicht einmal, einen ausreichenden Mundvorrat zur Arbeit mitzubringen. Vielfach haben die Leute überhaupt kein Frühstücksbrot bei sich. Wenn sie aber etwas mitführen, ist es nur Kaffee und 1 oder 2 Stück trockenes Brot oder rohe Kartoffeln, ja sogar in der schlimmsten Zeit nicht einmal dies, sondern rohe Mohrrüben, die dann während der Arbeit auf einem Ofen geröstet werden.«

Ich fahre auf Seite 150 des Originaldokuments fort:

»In diesem Zusammenhang ist zu sagen, daß bereits bei der Besichtigung der Gruben beobachtet wurde, daß zirka 10 Prozent der polnischen Arbeiter beim Schichtwechsel in der Grube ohne jegliche Nahrung waren und zirka 50 Prozent nur mit trockenem Brot oder rohen Kartoffeln, die in Scheiben geschnitten und auf der Herdplatte geröstet werden, den Dienst antraten.«

Das Institut begann seine »wissenschaftlichen Berechnungen« damit, die Kalorienzahlen, die die Polen in Oberschlesien bekamen, und die Kalorienzahlen, die die deutsche Bevölkerung bekam, zu vergleichen.

Ich will keine ausführlichen Verlesungen aus diesem Dokument vornehmen, sondern mich nur auf kurze Tatsachen beschränken.

Ich beginne mit dem Zitat auf Seite 63 des Forschungsberichts, das ist Seite 102, letzter Absatz des Dokumentenbuches:

»Der Kalorienvergleich ergibt für die Polen Oberschlesiens gegenüber den deutschen Sätzen bereits ein Weniger von 24 %. Dieser Abschlag erhöht sich auf 26 % bei den Karten für nichtarbeitende Polen. Bei den Jugendlichen zwischen dem 14. und 20. Lebensjahr steigt der Abstand zu den deutschen Sätzen bis fast 33 % insgesamt. Dieser Satz von 33 % betrifft aber wohlgemerkt nur die arbeitenden Jugendlichen [274] von 14 Jahren an. Bei den polnischen Kindern zwischen 10 bis 14 Jahren ist die Minderzuteilung im Vergleich zu dem, was die deutschen Kinder erhalten, noch krasser. Hier besteht ein Unterschied von nicht weniger als 65 %, was auch das äußere Erscheinungsbild dieser unterernährten Jugend bezeugt. Für Kinder bis zu 10 Jahren ergeben sich gleichfalls Unterschiede ge genüber den entsprechenden deutschen Sätzen bis zu 60 %. Wenn die ärztlichen Ermittlungen auf der anderen Seite ergeben haben, daß die Ernährungsverhältnisse der Säuglinge nicht ungünstig sind, so ist dies nur ein scheinbarer Widerspruch. Solange das Kind von der Mutter gestillt wird, nimmt es sich aus dieser Quelle das, was es braucht. Die Folgen der Unterernährung treffen nicht das Kind in diesem Stadium, sondern ausschließlich die Mutter, deren Gesundheit und Arbeitskraft dadurch noch weiter herabgesetzt wird als es sonst bei den unzureichenden Lebensmittelrationen bereits der Fall wäre.«

Ich setze die Verlesung auf Seite 178 des Originals fort; es ist Seite 103, Absatz 2, des zweiten Dokumentenbuches:

»... von allen Verbraucherkategorien die polnischen Jugendlichen im Vergleich zu den Deutschen weitaus am schlechtesten gestellt sind. Der Abstand geht bis zu 60 % und mehr gegenüber den deutschen Zuteilungen.«

Auch die in dem Forschungsbericht angeführten Auszüge aus den Berichten der Deutschen Arbeitsfront sind nicht uninteressant. Besonders auf Seite 76 finden wir Auszüge aus dem Bericht der Deutschen Arbeitsfront vom 10. Oktober 1941 nach Besichtigung eines der Kohlenbergwerke in Polen:

»Es ist festgestellt worden, daß täglich in den verschiedenen Ansiedlungen Polen (Hauer) vor Er schöpfung zusammenbrachen... Da die Männer über Magenkrämpfe klagen, wurden die Ärzte befragt, welche Gründe vorliegen könnten, und es wurde einheitlich erklärt, es sei ein Zeichen von Unterernährung.«

Ich will zum Abschluß dieser von den deutschen Verbrechern selbst, und was noch mehr bedeutet, von den »gelehrten« Verbrechern, gegebenen Beschreibung des körperlichen Befindens der polnischen Arbeiter noch eine kurze Stelle aus demselben Forschungsbericht verlesen, die der Gerichtshof auf Seite 106, Absatz 6, des Dokumentenbuches findet.

»Die Betriebe weisen aber immer wieder darauf hin: man kann unmöglich einen arbeitsunfähigen unterernährten Menschen nur mit KZ-Lagerdrohung zu erhöhter Leistung anspornen. Eines Tages wird der geschwächte Körper dann doch zusammenbrechen.«

[275] In diesem Dokument befindet sich auch eine kurze Beschreibung der Rechtslage der polnischen Arbeiter während der deutschen Besetzung Polens, die ganz eindeutig ist. Diese Beschreibung ist umso wertvoller für uns, als, wie bereits oben hervorgehoben wurde, die Verfasser des Forschungsberichts ausdrücklich betonten, daß ihnen »jede humanitäre Tendenz fernliegt«.

Ich beginne meine Verlesung auf Seite 127 des erwähnten Dokuments. Es ist Absatz 2, Seite 110 des Dokumentenbuches.

»Das Gesetz erkennt dem Angehörigen des polnischen Volkstunis in seinem Lebensbereich einen Rechtsanspruch zu. Alles, was den Polen gewährt wird, ist eine freiwillige Leistung der deutschen Herren. Den schärfsten Ausdruck findet diese Rechtslage vielleicht in der ›Besitzlosigkeit der Polen vor dem Gesetz‹.... In der Rechtspflege besitzt der Pole keine eigene Vertretung vor Gericht. In der strafrechtlichen Verhandlung ist der Gesichtspunkt des Gehorsams maßgeblich. Die Durchführung der gesetzlichen Anordnung ist in erster Linie Angelegenheit der Polizei, die nach eigenem Ermessen entscheiden oder in einzelnen Fällen die Sache den Gerichten überweisen kann.«

Auf Grund des Erlasses vom 26. August 1942 waren die polnischen Arbeiter verpflichtet, sich gegen Krankheit, Unfall und Invalidität in der gleichen Weise wie die Deutschen zu versichern. Die Lohnabzüge der polnischen Arbeiter hiefür waren höher als diejenigen der Deutschen. Während indessen der deutsche Arbeiter die Leistungen dieser Versicherungen erhielt, war der polnische Arbeiter praktisch davon ausgeschlossen. Zur Bekräftigung dieser Behauptung werde ich zwei kurze Stellen aus dem Forschungsbericht anführen. Der Gerichtshof wird diese im Absatz 4 auf Seite 111 des Dokumentenbuches finden. Es ist Seite 134 des eben verlesenen Originaldokuments:

»Die Unfallversicherung, die den Berufgenossen schaften obliegt, enthält besondere Harten für die Polen. Die Anerkennung einer Invalidität durch Unfall erfolgt in wesentlich engeren Grenzen als bei den Deutschen. An Stelle einer 30prozentigen Entschädigung bei einem Deutschen wird bei Zerstörung eines Auges für einen Polen nur eine solche von 25 % anerkannt. Die Zahlung einer Unterstützung ist überhaupt an die Voraussetzung einer Erwerbsunfähigkeit von 331/3% geknüpft.«

Ich setze meine Verlesung auf Seite 135 des Originaldokuments, beziehungsweise Seite 111, letzter Absatz des Dokumentenbuches fort:

»Die größte Härte trifft die Hinterbliebenen von tödlich Verletzten. Die Witwe darf erst dann eine Zahlung in Höhe [276] des halben Richtsatzes erhalten, wenn sie mindestens 4 Kinder unter 15 Jahren zu erziehen hat oder selbst Invalide ist. Die Begrenzung der Rechte der Polen wird durch ein Beispiel beleuchtet. Eine deutsche Witwe mit drei Kindern bekommt 80 % des Jahreseinkommens ihres verunglückten Mannes ausgezahlt, das heißt, bei RM. 2000.- Lohn eine Rente von RM. 1600.-. Die Polin würde in einem ähnlichen Falle nichts erhalten.«

Die deutsch-faschistischen Hauptkriegsverbrecher schickten in die von ihnen vorübergehend besetzten Ostgebiete nicht nur Soldaten und SS-Leute, sondern diesen folgten Sonderbeauftragte faschistische »Wissenschaftler«, »Wirtschaftsberater« und alle möglichen anderen »Forscher«. Einige kamen vom Amte Ribbentrops, die anderen waren von Rosenberg entsandt.

Ich bitte den Gerichtshof, eines von diesen Dokumenten zu den Akten zu nehmen. Ich lege es als USSR-218 vor.

Es ist der Bericht, den der Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Befehlshaber der 17. Armee, Hauptmann Pfleiderer1, an seinen Kollegen von der Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes, von Rantzau, gerichtet hat.

Dieses Dokument wurde von Truppen der Roten Armee auf dem Gute Dirksens in Oberschlesien gefunden.

Wenn man dieses Dokument liest, entnimmt man daraus, daß Pfleiderer in den Jahren 1941/42 eine Reise durch die besetzten Gebiete machte und dabei folgende Städte besuchte: Jaroslaw in der Ukraine, Lemberg, Tarnopol, Proskurow, Winnietza, Uman, Kirowograd, Alexandria, Krementschug am Dnjepr.

Zweck dieser Reise war das Studium der wirtschaftlichen und politischen Lage der besetzten ukrainischen Gebiete. Daß der Verfasser dieses Dokuments auch von jeder sogenannten humanitären Tendenz frei war, ersieht man aus einem kurzen Auszug aus seinem Bericht vom 28. Oktober 1941, in dem Pfleiderer schreibt, der Gerichtshof wird diese Stelle auf Seite 113, Absatz 2 des Dokumentenbuches finden, ich verlese lediglich einen Satz:

»... besteht die zwingende Notwendigkeit, aus dem Lande alles für die Sicherstellung der deutschen Ernährung herauszupressen.«

Aber trotz seiner Neigung zur Grausamkeit und Raubsucht war Pfleiderer offenbar doch entsetzt über das Vorgehen seiner Landsleute, so daß er es für notwendig hielt, die Aufmerksamkeit des Chefs des Auswärtigen Amtes darauf zu lenken.

Ich zitiere den Bericht Pfleiderers, der den Titel trägt:

»Voraussetzungen für die Sicherheit des Nachschubs und die Gewinnung höchster Ernährungsüberschüsse in der Ukraine.

[277] ... Stimmung und Lage der Bevölkerung Ende Oktober 1941«.

Die verehrten Herren Richter werden diese Stelle auf Seite 114, Absatz 3 des Dokumentenbuches finden:

»Die Stimmung der Bevölkerung hat sich meist schon wenige Wochen nach dem Einrücken der deutschen Truppen wesentlich verschlechtert. Woran liegt das? Wir zeigen... eine innere Abneigung, ja, einen Haß gegen dieses Land und eine Überheblichkeit gegen dieses Volk.... Daß wir im dritten Kriegsjahr stehen und in einem unwirtlichen Lande den Winter über bleiben müssen, bringt manche Schwierigkeiten mit sich, die durch Haltung und Selbstdisziplin zu überwinden sind. Wir dürfen aber nicht unsere Mißstimmung über dieses Land an einer Bevölkerung auslassen... wieviel häufiger waren aber die Fälle, in denen wir unpsychologisch gehandelt haben und durch leicht zu vermeidende Fehler alle Sympathien bei der Bevölkerung verloren haben. Das Erschießen von Gefangenen, die nicht weiterlaufen können, mitten in Dörfern und größeren Ortschaften und das Liegenlassen der Leichen sind Tatsachen, die die Bevölkerung nicht verstanden hat... Da die AVL der Truppe die Besorgung der Lebensmittel weitgehend überlassen, sind die Kolchosen in der Nähe der großen Heeresstraßen und der größeren Städte bereits meist ohne Zuchtvieh, ohne Saatgetreide und ohne Saatkartoffeln (Poltawa). Natürlich steht die Versorgung der eigenen Truppe an erster Stelle, aber die Art, wie sie gedeckt wird, ist nicht gleichgültig. Die Requisition des letzten Huhnes ist psychologisch genau so unklug, wie das Abschlachten tragender Säue und der letzten Kälber volkswirtschaftlich unklug ist.«

Ich verlese weiter auf Seite 115, Absatz 3, des Dokumentenbuches:

»Die Bevölkerung... ist führerlos. Sie steht abseits; sie fühlt, daß wir auf sie herabsehen, daß wir in ihrem Arbeitstempo und in ihren Arbeitsmethoden Sabotage sehen, ja, daß wir gar nicht den Versuch machen, den Weg zu ihr zu finden.«

Dokument USSR-439, das uns von den amerikanischen Kollegen freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde, ist ähnlich. Es wird von der Amerikanischen Anklagevertretung unter 303-PS geführt. Dem Gerichtshof wurde es bisher noch nicht vorgelegt. Es ist der Bericht eines deutschen Professors, Dr. Paul W. Thomson, geschrieben auf einem Briefbogen der Universität Posen, »Biologisch-Paläontologisches Institut«, und trägt die Anmerkung des Verfassers »nicht zur Veröffentlichung bestimmt«.

[278] Die Herren Richter werden dieses Dokument auf Seite 116 des Dokumentenbuches finden. Dieses Dokument führt uns in die völlige Rechtlosigkeit der der faschistischen Willkür ausgesetzten Bevölkerung in den vorübergehend besetzten Gebieten der Sowjetunion ein. Der faschistische Professor hat sie während seiner ganzen Reise durch die zeitweilig besetzten Gebiete der Sowjetunion »von Minsk bis zur Krim« beobachtet.

Ich verlese zwei kurze Stellen aus dem Dokument. Der Inhalt der von mir verlesenen Stellen zeigt auch bei diesem Verfasser das Fehlen jeder »humanitären Tendenz«. Wenn, wie Paul Thomson angibt, er von seiner Reise »den schlechtesten Eindruck« mitgebracht hat, so ist das noch ein weiterer Beweis dafür, wie unmenschlich und grausam die Herrschaft der deutschen Faschisten war. Der Gerichtshof wird diese Stellen auf Seite 116 des Dokumentenbuches finden. Ich beginne das Zitat:

VORSITZENDER: Wir werden die Verhandlung jetzt vertagen.


[Das Gericht vertagt sich bis

26. Februar 1946, 10.00 Uhr.]


1 Der Bericht vom »8. Oktober 1941«, den der russische Hauptankläger Smirnow erwähnt, ist nicht von Hauptmann Pfleiderer sondern von Oberleutnant Dr. Oberländer unterschrieben. [Errata, Bd. 23. S. 626]


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 8.
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