Anhang I: Schlußfolgerungen

[175] Nach Beobachtung und Untersuchung des Rudolf Heß haben die Unterzeichneten folgende Schlüsse gezogen:

1. Es wurden keine wesentlichen körperlichen Abweichungen vom Normalzustand beobachtet.

[175] 2. Sein Geisteszustand ist von gemischtem Typus. Er ist eine unausgeglichene Persönlichkeit, welche man in der Fachsprache als psychopathische bezeichnet. Die Angaben über seine Krankheit während der letzten vier Jahre, die von einem von uns, der ihn in England beobachtete, unterbreitet wurden, zeigen, daß er den Wahn hegte, vergiftet zu werden und andere ähnliche paranoische Vorstellungen.

Teilweise bewirkt durch das Fehlschlagen seiner dortigen Mission, vermehrten sich die anormalen Anzeichen und führte zu Selbstmordversuchen. Zu dem oben Erwähnten kommt noch, daß er erkennbare hysterische Neigungen besitzt, die eine Entwicklung verschiedener Symptome verursachten, hauptsächlich des Gedächtnisschwundes, der vom November 1943 bis Juni 1944 andauerte. Die hysterischen Neigungen bewirkten auch, daß er sich allen Heilungsversuchen widersetzte.

Bei veränderten Umständen können die Symptome des Gedächtnisschwundes verschwinden.

Die zweite Zeitspanne des Gedächtnisschwundes begann im Februar 1945 und dauert auch gegenwärtig noch an.

3. Gegenwärtig ist er nicht geisteskrank im engeren Sinne dieses Wortes. Sein Gedächtnisschwund hält ihn nicht vollständig vom Verstehen der Ereignisse um ihn ab, behindert jedoch seine Fähigkeit, seine Verteidigung zu führen oder Einzelheiten der Vergangenheit zu verstehen, die als Tatbestand hier von Bedeutung sein könnten.

4. Zur Klarstellung der Lage empfehlen wir, daß eine Analyse unter Narkose mit ihm angestellt werde; wenn der Gerichtshof entscheidet, gegen ihn zu verhandeln, sollte die Frage nachträglich noch einmal vom psychiatrischen Standpunkt aus untersucht werden.

Die Schlußfolgerung, die die Ärzte der britischen Delegation, Lord Moran, Dr. T. Kees und Dr. G. Riddoch, und die Ärzte der sowjetischen Delegation, die Professoren Krasnushkin, Sepp und Kurshakov, am 14. November gezogen haben, wurde auch von dem Vertreter der französischen Delegation, Professor Jean Delay, am 15. November angenommen.

Nach Untersuchung des Herrn Heß, die am 15. November 1945 stattfand, haben sich die unterzeichneten Professoren und Sachverständigen der sowjetischen Delegation, Krasnushkin, Sepp und Kurshakov sowie Professor Jean Delay, der Sachverständige der französischen Delegation, auf folgende Erklärung geeinigt:

Herr Heß weigerte sich kategorisch, sich einer Analyse unter Narkose zu unterziehen und widersetzte sich allen anderen Maßnahmen, die die Heilung seines Gedächtnisschwundes herbeiführen sollten; er erklärte, daß er erst nach dem Prozeß bereit sei, sich einer Behandlung zu unterziehen. Das Verhalten des Herrn Heß [176] macht es möglich, die im Absatz 4 des Berichtes vom 14. November vorgeschlagenen Methoden anzuwenden und den Vorschlag dieses Absatzes in seiner gegenwärtigen Form zu befolgen.


Unterschrift: PROFESSOR KRASNUSHKIN

Doktor der Medizin


Unterschrift: PROFESSOR E. SEPP

Wissenschaftler

Ordentliches Mitglied der Medizinischen Akademie


Unterschrift: PROFESSOR KURSHAKOV

Doktor der Medizin, Chefarzt des Gesundheitskommissariats der USSR


Unterschrift: PROFESSOR JEAN DELAY

an der Medizinischen Fakultät Paris.


Quelle:
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 1, S. 175-177.
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