19. Die Wahl- oder absetzbaren Hohenpriester in der herodianischen und nachherodianischen Zeit.

[723] Herodes bat alle Heiligtümer des judäischen Volkes entweiht und besudelt. Auch die Hohenpriester hat er degradiert und demoralisiert. Da er dem letzten Hasmonäer nicht die Hohepriesterwürde lassen wollte oder konnte, so hat er zuerst einem Priester aus einer anderen Abteilung diese Stellung übertragen. So führte er Wahl-Hohepriester ein. Bei dieser Wahl war Interesse und Politik maßgebend. Später ging die Berechtigung zur aktiven Wahl auf die römischen Prokuratoren über, welche sie im römischen Interesse und öfter aus Rücksicht auf ihren Säckel ausübten. Die Aufeinanderfolge der absetzbaren Hohenpriester ist für die Geschichte dieser Zeit und noch mehr für die Chronologie von besonderer Wichtigkeit. Darum sei sie hier kritisch beleuchtet.

Die Zahl dieser Priester soll im ganzen achtundzwanzig betragen haben111. Indessen kommen nur siebenundzwanzig heraus, wenn man die Hohenpriester zusammenstellt, deren Einsetzung und Absetzung Josephus unter Herodes, Archelaus, der ersten Reihe der Prokuratoren, ferner unter Aprippa I., Herodes II. und Agrippa II. mit Nennung der Namen anführt112. Es fehlt also offenbar ein Name. Dieser muß zunächst aufgesucht werden.

Diejenigen Hohenpriester, welche zweimal fungiert haben, dürfen nur einmal gezählt werden; sonst kämen neunundzwanzig und mehr heraus, da Ananel unter Herodes und Joasar unter diesem König und Archelaus zweimal fungiert hat. Auffallend ist noch, daß Josephus erzählt, zur Zeit, als in dem letzten Jahre des Prokurators Felix ein Aufstand in Cäsarea ausgebrochen war, habe Agrippa II. den Hohenpriester Ismaël Phiabi eingesetzt113, ohne dabei wie sonst zu bemerken, wer sein Vorgänger gewesen ist. Felix' letztes Jahr war 59. Also innerhalb dieser Zeit ist Ismaël Hoherpriester geworden. Aber dann müßte der Hohepriester, den Josephus vorher einsetzen läßt, nämlich Anania, Sohn Nebedaï, welchen noch Herodes II. nach Agrippas I. Tod eingesetzt hatte (vor 48), mehr als 10 Jahr (47 bis 59) fungiert haben, was durchaus unannehmbar ist. Denn mindestens 48 fungierte ein Ismaël (w.u.). Außerdem lag es in der Politik der herodianischen Herrscher, keinen Hohenpriester lange im Amte zu lassen. Mehrere haben daher nur ein einziges Jahr fungiert. Dieser Umstand und das Fehlen eines Hohenpriesters, um die Zahl 28 voll zu machen, führt darauf, daß zwischen Anania b. Nebedaï und Ismaël b. Phiabi eine Lücke anzunehmen ist.

Die talmudischen Quellen bestimmen die Zahl der Wahl-Hohenpriester auf mehr denn 50. Sie zählen nämlich für die ganze Zeit des zweiten Tempels, 80 bis 85114. Da nun die Zahl der Hohenpriester nach der Rückkehr aus dem [723] Exile aus der Abteilung Jojada nur 12 betrug (von Josua b. Jozadok bis auf Jason), dazu die zwei von den syrischen Königen eingesetzten, Menelaos und Alkimos = 14, und da die Zahl der hasmonäischen Hohenpriester von Jonathan bis auf Antigonos und Aristobul III. sich auf neun und selbst mit Juda Makkabi, der gewiß auch einige Zeit fungiert hat, im ganzen auf 10 belief, beide zusammen also 24 betrugen, so müßte es an absetzbaren Hohenpriestern noch mehr als 50 gegeben haben. Die Zahl 80 mag demnach korrumpiert sein für 60, nämlich ס statt פ. Schade, daß im Siphre die Namen der Hohenpriester während des zweiten Tempels ausgefallen sind115, sonst hätten sie als Korrektiv dienen können. Mit Recht bemerken die talmudischen Quellen, daß diese Hohenpriester sich die Würde durch Simonie verschafft haben. Darum eben haben die Wähler öfter einen Nachfolger eingesetzt, um von diesem abermals reiche Summen zu erhalten.

An mehreren Stellen spricht Josephus von einem Hohenpriester Ananias, von seinem Reichtum, seinem Ansehen und seinem Einfluß, ohne irgendwo anzugeben, zu welcher Zeit er fungiert hat. Nachdem Josephus referiert hat, daß Agrippa II. beim Eintreffen des Prokurators Albinus, des vorletzten vor Florus, den Hohenpriester Anan b. Anan abgesetzt und an dessen Stelle Josua b. Damnaï eingesetzt habe, fährt er fort: »Der Hohepriester Anania nahm mit jedem Tage mehr an Ansehen zu und wurde von seinen Mitbürgern außerordentlich mit Zugetanheit und Hochachtung geehrt. Er war nämlich gewandt, Vermögen zu erwerben. Er hat also Albinus und den Hohenpriester mit Geschenken gewonnen116.« Also ein angesehener Hoherpriester Ananias während der Funktion eines andern, des Josua b. Damnaï! Das will also sagen, daß dieser Anania früher Hoherpriester gewesen war. Weiterhin schildert Josephus die gewalttätigen Fehden zwischen dem abgesetzten Hohenpriester Josua b. Damnaï und seinem Nachfolger Josua b. Gamaliel (Gamala) und fährt fort: »An Reichtum überragte Ananias, und zwar alle die, welche bereitwillig waren, Sold zu nehmen, gewinnend117.« Voraufgehend erzählt Josephus, die Sikarier hätten den Schreiber des Tempelhauptmannes Eleasar gefangen und in Fesseln abgeführt. Dieser Eleasar sei der Sohn des Ananias gewesen118. Darum hätten sich die Sikarier an diesen gewendet, den Prokurator Albinus zu bewegen, zehn ihrer Genossen aus dem Kerker zu befreien und ihm versprochen, unter dieser Bedingung den gefangenen Schreiber zu entlassen. Aus allem diesem folgt, daß vor Josua b. Damnaï ein Hoherpriester Ananias fungiert hat. Aber unmittelbar vor ihm ist kein Raum für ihn, auch nicht zwischen ihm und Ismaël b. Phiabi; denn vor ihm hat keiner mehr als 1 bis 2 Jahre fungiert, zwischen 60 bis 63 Ismaël, Joseph Kabi, Anan b. Anan und Josua b. Damnaï. Dieser Ananias muß also vor Ismaël b. Phiabi fungiert haben und ergänzt wohl [724] die Zahl 28. Er kann aber nicht identisch mit Ananias b. Nebedaï119 sein, wie die Chronologen seit Uscher annehmen. Denn dann würde immer noch der 28. fehlen, und das Auffallende wäre nicht beseitigt, daß Agrippa II. diesen so lange, mehr als zehn Jahre, sollte haben fungieren lassen.

Außerdem ergibt sich aus talmudischen Stellen, daß dieser Anania nicht identisch mit dem Sohn Nebedaïs gewesen ist. Wir haben oben gesehen, daß Josephus an diesem Anania den außerordentlichen Reichtum hervorhebt, daß er sämtliche Hohepriester an Vermögen übertroffen habe. Nun wird in talmudischen Quellen der Reichtum eines Hohenpriesters Eleasar b. Charsom als außerordentlich geschildert. Es wird erzählt, die Mutter des Ismaël b. Phiabi habe ihrem Sohne für seine Funktion am Versöhnungstage ein Gewand aus Linnen im Werte von 100 Minen anfertigen lassen, dagegen die Mutter des Eleasar b. Charsom gar eines im Werte von 20 000120. Wie übertrieben auch diese Relation ist, so muß ihr ein geschichtlicher Kern zugrunde liegen. Denn es wird in der Mischna als ausgemacht festgestellt, daß die Hohenpriester am Versöhnungstage mit teuren Gewändern von pelusischem und indischem Gewebe abzuwechseln pflegten121. Nun wurden allerdings aus dem linum pelusiacum Luxusgewänder verfertigt, und noch teurere aus linum indicum. Solche Halachas in der Mischna sind stets aus einem geschichtlichen Vorkommnis entstanden. Es muß also einmal einen so reichen Hohenpriester gegeben haben, daß er sich den Luxus gönnen konnte, des morgens ein pelusisches und nachmittags ein indisches Gewand anzulegen – und das kann nur [könnte am Ende] der als reich geschilderte Hohepriester Eleasar b. Charsom oder Anania gewesen sein. Von Eleasars Reichtum wird noch mit maßloser Hyperbel erzählt, er habe 1000 Städte auf dem Königsgebirge und 1000 Schiffe auf dem Meere besessen122. Reduzieren wir diese Zahl auf ein Minimum, so mag er eine Stadt oder ein Dorf auf dem Königsgebirge sein Eigentum genannt und einige Kauffahrteischiffe auf dem Meere gehabt haben.

Wir haben also zwei von einander unabhängige Nachrichten von einem außerordentlich reichen Hohenpriester, nur nennt ihn die eine Quelle Ananias und die andere Eleasar. Kann man sie nicht kombinieren? Erinnern wir uns, daß Anania einen Sohn hatte, welcher den Namen Eleasar führte. Es war nicht ungewöhnlich, daß der Sohn nach dem Großvater genannt wurde. So kann der Hohepriester Ananias Sohn des Eleasar gewesen sein, und die [725] talmudischen Quellen können recht gut den eigentlichen Namen desselben vergessen und den Namen des Vaters dafür substituiert haben123. Hätte dieser reiche Hohepriester Schiffe ausgerüstet – und zwar, wie sich denken läßt, zum Warentransport – so wäre auch erklärt, was Josephus von Ananias erzählt, er sei gewandt in Erwerbung von Reichtümern gewesen ἦν γὰρ χρƞμάτων ποριστικός. Die talmudische Quelle würde uns die Mittel angeben, wodurch dieser Hohepriester so reich geworden ist. Es bleibt auch keine Wahl übrig. Wir brauchen durchaus einen Hohenpriester, der die Zahl 28 ergänzen und zwischen Anania (oder Jochanan) b. Nebedaï und Ismaël, zwischen 48 bis 60124, fungiert haben muß. Nun findet sich ein solcher, den zwei verschiedene Quellen als außerordentlich reich schildern. Einen können wir nur unterbringen; folglich müssen wir die Namen kombinieren. Man kann also mit historischer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß der Hohepriester, welcher die Zahl und die Lücke ausfüllen helfen muß, Anania b. Eleasar geheißen hat. Diesen hat wohl Agrippa II. ein- und abgesetzt.

Es ist wohl überhaupt nicht anzunehmen, daß Agrippa den Sohn Nebedaïs mehrere Jahre hindurch habe fungieren lassen. Josephus erzählt, daß zur Zeit der Hungersnot während der Anwesenheit der Königin Helena in Jerusalem ein Hoherpriester Ismaël fungiert hat (w.u.). Wir kennen aber nur Hohepriester Ismaël mit dem Beinamen b. Phiabi. Folglich hat um 46 bis 48 ein Hoherpriester dieses Namens fungiert. Wir müssen aber diese Zeit noch mehr limitieren. Im fünften Jahre seiner Regierung hat Claudius nach Agrippas I. Tode (44) Herodes II. die Verfügung über die Pontificalia und das Einsetzungsrecht der Hohenpriester gewährt. Das wäre das Jahr 45. Herodes machte sogleich Gebrauch davon, setzte Elionaios b. Kantheras ab und wählte Josephus b. Kameï (Kamit). Das wäre 45 bis 46. Dann setzte er diesen ab und ernannte Anania (oder Jochanan) b. Nebedaï, also 46 bis 47. Darauf starb Herodes II. (48). Da nun aber während der Prokuratur des Tiber Alexander (46 bis 48) die Hungersnot in Jerusalem wütete, und während der Hungersnot ein Hoherpriester Namens Ismaël fungiert hat125, so folgt zwingend daraus, daß Ismaël b. Phiabi im Jahre 48 zum Hohenpriester eingesetzt wurde, und zwar, wie sich denken läßt, von Agrippa II., welcher nach dem Tode seines Oheims das Ernennungsrecht erhalten hatte. Es war der erste Hohepriester, den er ernannt hat. Selbstverständlich muß er den Vorgänger Anania b. Nebedaï abgesetzt haben; dieser hat also nicht 10 Jahre, sondern höchstens 2 Jahre [726] fungiert. Nun berichtet aber Josephus ausdrücklich, daß Agrippa später, während Felix' alleiniger Prokuratur (53 bis 59), Ismaël eingesetzt habe (o. S. 723) das muß also zum zweiten Male gewesen sein. In der Zwischenzeit muß der reiche Ananias oder Eleasar b. Charsom oder richtiger Ananias b. Eleasar fungiert haben. Josephus hat durch irgend ein Versehen die Ernennung dieser beiden Hohenpriester übergangen.

Die Aufeinanderfolge der Hohenpriester ließe sich genauer fixieren, wenn wenigstens die Amtsdauer der Prokuratoren, die von Agrippas I. Tode (44) bis zum Ausbruch der Revolution in Judäa (66) Rom und den Kaiser in Judäa vertreten haben, fixiert wäre. Allein man ist dabei ebenfalls nur auf Kombinationen angewiesen; daher werden die Amtsjahre einiger dieser Landpfleger verschieden gezählt. Die Kombination geht von dem chronologischen Konnex aus. Wenn Josephus ein Faktum chronologisch bestimmt und unmittelbar dabei von der Ernennung oder Absetzung eines Landpflegers oder eines Hohenpriesters erzählt, so wird diese als gleichzeitig gesetzt. Allzusicher ist aber diese Übertragung nicht; denn es bleibt fraglich, ob Josephus diese Gleichzeitigkeit beabsichtigt hat, und noch fraglicher, ob er, der sich manche chronologische Irrtümer hat zuschulden kommen lassen, diese chronologische Anreihung zweier Tatsachen aus einer guten Quelle geschöpft oder sie nur kombiniert hat. Anderweitige Quellen für die chronologische Fixierung gibt es nur wenige, und eine, die für die Präzisierung der Amtsdauer zweier Prokuratoren gewöhnlich herangezogen wird, ist unlauter, ich meine die Apostelgeschichte. Es müssen daher anderweitige Datumsangaben hinzugezogen werden, um die chronologische Reihenfolge der Prokuratoren und damit auch der Hohenpriester zu präzisieren. Diese kritische Vergleichung stellt allerdings Josephus' Angabe in ein günstiges Licht.

Bekannt ist nur Anfang und Ende der zweiten Reihe der Prokuratoren. Der Erste in der Reihe, Cuspius Fadus, wurde nach dem Tode Agrippas I. mit der Verwaltung betraut, also etwa Sommer 44, und der letzte, Gessius Florus, hat nur zwei Jahre das Amt inne gehabt und verlor es beim Ausbruch der Revolution. Sommer 66 (Jos. Altert. XIX, 9, 2 und XX, 11, 1); also von 44 bis 64 in 20 Jahren sechs Prokuratoren, etwa 3 Jahre auf je einen. Die ersten beiden, Fadus und Tiberius Alexander haben das Amt nicht einmal so lange inne gehabt. Laut der Zusammenstellung bei Josephus (XX, 5, 2): Cumanus sei Alexanders Nachfolger geworden, und Herodes II sei im achten Jahre Claudius' gestorben, muß man wohl annehmen, daß Tiberius Alexander nur bis 48 fungiert hat. Fadus' Amtsentsetzung hing wohl mit der durch ihn verursachten Bewegung in Jerusalem wegen der Pontificalia zusammen. Fadus verlangte, daß die hohenpriesterlichen Gewänder, nach vollendetem Gebrauche bei der priesterlichen Handlung, der römischen Wache in der Antonia wieder überantwortet werden sollten, wie z.Z. der ersten Reihe der Prokuratoren. Die Aufregung wegen dieser Zumutung war aber in Jerusalem so groß, daß der Statthalter von Syrien, Cassius Longinus, selbst in der Hauptstadt eintraf, um einen etwaigen Aufstand niederzuschlagen (das. XV, 11, 4; XX, 1, 1). Dieser Vorfall ist jedenfalls 44 bis 45, nach Agrippas I. Tod, anzusetzen. Darauf entschied Claudius auf das Gesuch der judäischen Gesandten und auf Agrippas II. Verwendung zugunsten der Judäer, betraute damit Herodes II. und stellte darüber eine Urkunde aus. Diese Urkunde enthält mehrere Data, die aber nicht miteinander stimmen. Das sicherste Datum darin ist wohl Claudius' fünftes Tribunat, d.h. [727] das Jahr 45 (o. S. 361 f.). Also im Jahre 45 hat Claudius die Ernennung und Überwachung der Hohenpriester dem Landpfleger entzogen. Infolgedessen wird wohl Fadus wegen seiner Einmischung abberufen und Tiberius Alexander ernannt worden sein. Es ist daher zu vermuten, daß der erstere das Amt nur 44 bis 45 inne gehabt hat. Die übrigen drei oder vier Jahre 45 bis 48 kämen demnach auf den letzteren.

Seine Abberufung und Ersetzung durch Ventidius Cumanus hing wahrscheinlich mit Hofintriguen zu sammen, die der Beleuchtung bedürfen. Tacitus erzählt ganz bestimmt, daß mit Cumanus zugleich Felix zum Prokurator über einen Teil des judäischen Gebietes eingesetzt worden sei (Annal. 12, 54): Atque interim Felix ... aemulo ad deterrima Venditio Cumano, cui pars provinciae habebatur, ita divisis, ut huic Galilaeorum natio, Felici Samaritae parerent, discordes olim, et tum contemptu regentium minus coercitis odiis. Die Vorgänge unter Cumanus heben sich in der Tat deutlicher ab, wenn man die Eifersüchtelei zweier Landpfleger gegen einander als Hintergrund ansieht. Zunächst muß aber Tacitus' Angabe berichtigt werden. Wenn die Provinz geteilt worden war, so kann nicht Cumanus Galiläa und Felix Samaria zugewiesen worden sein, sondern umgekehrt. Abgesehen davon, daß der erstere sonst die Verwaltung über zwei räumlich von einander entfernte und durch das seinem Nebenbuhler zugewiesene Verwaltungsgebiet noch mehr getrennte Landesteile gehabt haben müßte, ich sage: auch abgesehen von dieser Unwahrscheinlichkeit, zeigte sich in der Fehde und dem Prozeß zwischen Samaritanern und Galiläern unter Cumanus, daß dieser für die Samaritaner, Felix dagegen für die Galiläer Partei genommen hat. Josephus erzählt (jüd. Kr. II, 12, 4 bis 5), Cumanus sei bei der Klage der Judäer über den Mord einiger Galiläer durch Samaritaner untätig geblieben, er habe dagegen, als er vernommen, daß an den Samaritanern Repressalien geübt worden seien, sofort eine Cohorte aus Cäsarea gezogen, um den Samaritanern zu Hilfe zu eilen. Ja, er bewaffnete die Samaritaner zum Kampfe (Altert. XX, 6, 1): τόυς τε Σαμαρεῖτας καϑοπλίσας. Daraus geht mit Entschiedenheit hervor, daß Samaria zu Cumanus' Verwaltungsgebiete gehört hat, Galiläa dagegen ihm gleichgültig war. Wir können schon jetzt den Grund erraten. Tacitus muß also die Landesteile der Provinz Judäa mit einander verwechselt haben. Das Sachverhaltnis erfordert vielmehr, daß wenn eine Teilung stattgefunden hat, die beiden Nachbarterritorien Judäa und Samaria verbunden geblieben und Cumanus zugeteilt, dagegen das im Norden gelegene Galiläa Felix zur Verwaltung überlassen worden waren Auch Josephus scheint die Geteiltheit des Landes unter Cumanus anzudeuten. Er berichtet, scheinbar überflüssig, daß nach Cumanus' Sturz Felix zum Prokurator von Galiläa, Samaria und Peräa ernannt wurde (jüd. Kr. II, 12, 8) ἐπίτροπον Φἠλικα. ... τῆς τε Σαμαρείας καὶ Γαλιλαίας κτλ. Cumanus vor ihm muß also nicht sämtliche Teile verwaltet haben. In der Tat, das, was Josephus von den Vorgängen unter Cumanus erzählt, wird erst durch den bitteren Haß der beiden Landpfleger gegen einander erklärt. Tacitus bemerkt nämlich weiter: demzufolge, (d.h. infolge der Feindschaft Cumanus' und Felix' gegen einander) kamen Plünderungen gegen einander vor, Loslassen von Raubgesindel, Ränke, zuweilen auch Kämpfe, und die Beute wurde den Prokuratoren überbracht. Diese freuten sich anfangs darüber, bald aber wurden, bei zunehmender Verderbnis, da das römische Militär sich einmischte, Soldaten getötet. In der Provinz wäre ein Krieg entbrannt, wenn Ummidius Quadratus, Statthalter von Syrien, [728] nicht dazwischen getreten wäre126 [Anders Schürer I3, S. 570, vergl. bes. Anm. 14 das.].

Also die Ermordung galiläischer Festreisender, und was daraus folgte, entstand durch die haßerfüllten Reibungen der beiden Landpfleger gegen einander. Der Klage über diesen Landfriedensbruch gab Cumanus kein Gehör. Natürlich. Er hat diese Überfälle gegen Galiläer, die zur Jurisdiktion seines Gegners gehörten, heimlich begünstigt. Darauf schritten die Galiläer zur Selbsthilfe und forderten den Zelotenführer Eleasar ben Dinai auf, gegen die Samaritaner zu ziehen. Diese wurden wieder von Cumanus aufgestachelt, »den Untertanen seines Gegners Schaden zuzufügen.« Die Galiläer mit ben Dinai (und Alexander) verbrannten einige Dörfer der Samaritaner an der Grenze von Akrabatene. Darauf bot Cumanus die römische Militärmacht auf, und es kam zum Kampfe, wobei, wenn auch die Judäer eine vollständige Niederlage erlitten, römische Soldaten, wie sich denken läßt, umgekommen sind. Das will eben Tacitus mit dem Passus sagen: quum arma militum interjecissent, caesi milites. Eben deswegen hat Quadratus, der die Streitsache untersuchte, die gefangenen Judäer (nach jüd. Kr. II, 12, 6 achtzehn an der Zahl) hinrichten lassen, weil er darin eine Auflehnung gegen die Majestät des römischen Staates erblickt hatte (nach Altert. XX, 6, 2 hat er sie kreuzigen lassen). Quadratus wollte aber die Verantwortlichkeit dieses erbitterten Prozesses nicht übernehmen und wies ihn an den Kaiser selbst. Warum? Weil es sich in letzter Instanz nicht um Galiläer und Samaritaner, sondern um die beiden einander feindlichen Prokuratoren handelte, und beide am Hofe Protektoren hatten. Cumanus mußte sich in Rom einstellen und zwar als Angeklagter. In dem Prozeß, zu dessen Entscheidung der Kaiser selbst eine Gerichtssitzung anberaumte, sollte also im Grunde entschieden werden, welcher von den beiden Landpflegern der moralische Urheber des Gemetzels und in weiterer Folge des Todes römischer Soldaten gewesen sei. Beide machten daher die größte Anstrengung, eine Entscheidung zu ihren Gunsten herbeizuführen. Für Cumanus und die Samaritaner arbeiteten einige Freigelassene des Kaisers, gegen sie Agrippina, die Kaiserin, auf Agrippas warme Verwendung (Jos. Altert. das. 6, 3): σπουδὴ δὲ μεγίστƞ τῷ Κουμανῷ καὶ τοῖς Σαμαρεῠοιν ἦν παρὰ τῶν Καίσαρος ἀπελευϑέρων καὶ φίλων ... Ἀγρίππας ... ἐδεἠϑƞ πολλα τῆς τοῠ αὐτοκράτορος γυναικὸς Ἀγριππίιƞς ... Die Freunde und Ratgeber Claudius' waren Narcissus, Pallas und noch andere. Hier erblicken wir eine Parteigruppierung am Hofe. Ägrippina war mit Pallas eng verbunden, man bezichtigte sie geheimer unzüchtiger Verbindung (Tacitus und Dio Cassius); Pallas war Felix' Bruder. Agrippina und Pallas bemühten sich demnach für Felix' Freisprechung und Cumanus' Verurteilung, andere kaiserliche Libertini und Günstlinge für Cumanus. So stellt es auch Tacitus dar. Die ersteren trugen den Sieg davon; die Entscheidung fiel strenge aus. Cumanus wurde in die Verbannung geschickt (Tacitus und Josephus), die samaritanischen Gesandten wurden hingerichtet, und der Militärtribun Celer, welcher gewiß auf Cumanus' Geheiß gegen die Judäer gewütet hatte, wurde gefesselt nach Jerusalem geschickt und zum warnenden Beispiel öffentlich enthauptet. [729] Pallas hat also seine gegnerischen Mitgünstlinge ausgestochen, und dieser Sieg kam den Judäern zustatten. Felix wurde nicht bloß freigesprochen sondern auch zum Landpfleger über ganz Judäa mit allen Teilen ernannt – aber allerdings scheinbar auf Gesuch der judäischen Abgeordneten; so muß es zwischen der Kaiserin, Pallas und Agrippa abgemacht worden sein.

Versetzen wir uns an den Anfang zurück. Cumanus und Felix bewarben sich gleichzeitig um Palästina's Landpflegerschaft – sie muß sehr einträglich gewesen sein. Beide hatten ihre Protektoren, der letztere seinen eigenen Bruder Pallas, und Cumanus einen oder mehrere der übrigen Günstlinge des Kaisers, die später in dem Prozeß für ihn eintraten. Claudius' Schwäche wollte den einen nicht vor dem andern zurücksetzen, und so traf er die ausgleichende Entscheidung, daß die Provinz Judäa (wie sie Tacitus nennt) geteilt werde, wiewohl sie bis dahin geeint war und nur einem einzigen Prokurator unterstanden hatte. Die Ernennung beider erfolgte – nach Josephus' Andeutung – im Jahre 48. In diesem Jahre wurde Messalina umgebracht, und Agrippina begann ihre Intriguen spielen zu lassen, um Kaiserin zu werden. Am nachdrücklichsten unterstützte sie Pallas (Tacitus Annal. 12, 2). Es war Gegenstand des eigennützigsten Eifers unter Claudius' Freigelassenen, dem Kaiser eine neue Gemahlin und Beherrscherin zu geben (Tacitus das. 12, 1: Orto apud libertos certamine, quis deligeret uxorem Claudio). Pallas' und Agrippinas Schlauheit waren von Erfolg gekrönt. Pallas hat aber nicht uneigennützig geraten; er war, wie gesagt, mit Agrippina aufs innigste verbunden. Er wollte auch seinen Bruder zum Prokurator Palästinas befördert wissen, und Agrippa stand ihm darin kräftig bei. Sobald die Entscheidung getroffen war, daß zwei Prokuratoren über Judäa ernannt werden sollten, mußte Tiberius Alexander, der sämtliche Teile Judäas verwaltet hatte, abberufen werden. Man kann also annehmen, daß seine Amtsentsetzung und die Ernennung des Cumanus über Judäa und Samaria und des Felix über Galiläa nach Messalinas gewaltsamem Tode erfolgt ist, nach Herbst 48. Tiberius Alexander hat also von 45 bis Ende 48 fungiert.

Wie lange die beiden gegnerischen Prokuratoren gemeinschaftlich gewirtschaftet haben, ist von Josephus nur angedeutet. Er erzählt gewissermaßen als gleichzeitig: Claudius sandte Felix zum Verwalter von Judäa und beschenkte Agrippa mit Philipps Tetrarchie nach vollendetem 12. Jahre von Claudius' Regierung (im jüd. Kr. II, 12, 8 bemerkt er, daß Felix sämtliche Landesteile unterstellt wurden, d.h. daß sie wieder vereinigt waren). Wir haben gesehen, daß eine gemeinschaftliche Abmachung unter Agrippina, Pallas, dem König Agrippa und den judäischen Delegierten stattgefunden haben muß, Cumanus' Verurteilung durchzusetzen und Felix zum alleinigen Prokurator der Provinz Judäa ernennen zu lassen. Beides ging durch. Aber Agrippa durfte nicht leer ausgehen; auch er sollte belohnt werden, damit den Judäern eine Genugtuung mehr gegeben werde. Wenn es heißt: »Claudius hat beschenkt«, so will es so viel sagen, als: »Agrippina hat es im Vereine mit Pallas durchgesetzt.« Beide Tatsachen, Agrippas Belehnung mit der ansehnlichen Tetrarchie und dem Königstitel, und Felix' Ernennung zum alleinigen Prokurator, stehen demnach wohl in enger Verbindung. Sie sind beide von denselben leitenden Persönlichkeiten ausgegangen. Da nun Agrippa sicher diese Tetrarchie im Jahre 53 erhalten hat127, so ist wohl Felix' Ernennung gleichzeitig erfolgt. [730] Er ist demnach im Jahre 53 alleiniger Landpfleger geworden. Cumanus hat also nur bis dahin die Verwaltung inne gehabt, von 49 bis 53. Tacitus erzählt zwar Felix' Geschichte unter den Begebenheiten des Jahres 52. Aber das ist nur Schein. Er erzählt eigentlich nur von Pallas' Auszeichnung in diesem Jahre (12, 53) und knüpft daran die häßliche Geschichte seines Bruders Felix (das. 54): At non frater ejus, cognomento Felix, pari moderatione agebat. Diese und seine Reibungen mit Cumanus fallen früher, Cumanus' Verurteilung dagegen kann später erfolgt sein. Von Felix' Nachfolge spricht Tacitus an dieser Stelle gar nicht. Es kann also mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß Cumanus (gleichzeitig mit Felix) von 49 bis 53 fungiert und Felix die alleinige Prokuratur 53 erhalten hat.

Über die Amtsdauer dieses verworfenen Landpflegers gehen die Meinungen auseinander. Weil er und sein Nachfolger Festus in der Apostelgeschichte genannt werden, und die chronologische Bestimmung des Aufenthaltes des Apostels Paulus und seines Prozesses in Jerusalem, seiner Gefangenschaft und endlich seiner Ankunft in Rom davon abhängig ist, haben die Theologen diesen beiden Landpflegern außerordentlich viel Aufmerksamkeit geschenkt. Voluminöse Abhandlungen sind darüber verfaßt worden. Ganz besonders hat sich Wieseler angelegen sein lassen, diesen Punkt ins Licht zu setzen (Chronologie des apostolischen Zeitalters, in seinem Kommentar zum Galaterbrief, Exkurs und a.a. St.). Die modernen Bearbeiter der neutestamentlichen Zeitgeschichte Renan, Keim, Holtzmann, Hausrath, und die neueren Bearbeiter der Kaisergeschichte, Lehmann (Claudius und Nero) und Hermann Schiller, zogen selbstverständlich von neuem diesen chronologischen Kalkul in ihre Forschungen [Weitere Literatur bei Schürer I3, S. 577, Anm. 38]. Alle diese Forscher differieren aber von einander bezüglich Felix' Amtsdauer um 4 Jahre. Lehmann setzt das Ende derselben 58; andere gehen bis 61 hinab; die meisten jedoch nehmen das Jahr 60 an. Da Josephus keinerlei chronologische Andeutung darüber gibt, so sind alle diese Berechnungen nur Vermutungen. Schürer gesteht zwar aufrichtig ein (neutest. Zeitgesch. 308 N. [jetzt I3, 579]), daß eine sichere Berechnung der Zeit des Wechsels – Felix-Festus – leider nicht möglich sei; nichtsdestoweniger versucht auch er an der Hand der Apostelgeschichte das Jahr 60 für das Ende von Felix' und den Anfang von Festus' Verwaltung wahrscheinlich zu machen. Aber mit dieser Quelle ist nichts anzufangen; sie enthält nur Sagenhaftes und Tendenziöses über Paulus' letzte Anwesenheit in Jerusalem. Woher hätte der Verfasser der Apostelgeschichte das Geheimschreiben des Hauptmannes Lysias an Felix über Paulus (23, 26 ff.) bezogen? Paulus soll zwei Jahre unter Felix in Gefangenschaft in Cäsarea gehalten und erst von Festus nach Rom gesandt worden sein (24, 27; 27, 1 fg.)! So lange? Die Paulus in den Mund gelegte Anrede an Felix: »Dieweil ich weiß, daß du in diesem Volke viele Jahre ein Richter bist, will ich unerschrocken reden« (24, 10), ist historisch ebensowenig zu gebrauchen. Die Zeit von Paulus' letzter Reise nach Jerusalem ist kontrovers. Wir sind also bei der Fixierung von Felix' Prokuratur auf Josephus' Angabe allein angewiesen, und aus dieser ist ein sicheres Datum nicht herauszubringen.

Lehmanns Annahme, daß Felix bereits 58 abberufen worden sei, weil ein Bruder Pallas in diesem Jahre bei Nero in Ungnade gefallen sei (I, 38), ist nicht richtig, da nach Tacitus' Bericht diese Ungnade bereits im Jahre 55 erfolgt ist Schillers Beweisführung von der Übersendung einiger gefangener Priester unter Felix noch Rom und deren Befreiung durch Josephus im [731] Jahre 63 ist auch nicht stichhaltig. Josephus erzählt nämlich, Felix habe wegen einer ganz unbedeutenden Sache einige mit Josephus befreundete Priester zur Verantwortung vor Nero nach Rom gesandt, und er sei nach seinem 26. Lebensjahre, also im Jahre 63, nach Rom gereist, um ihre Befreiung zu erwirken zumal als er erfahren hatte, daß sie aus Skrupulosität sich nur von Früchten genährt hätten und keine andere Speise hätten genießen mögen (Vita 3). Wenn, so folgert Schiller (a.a.O. S. 212 N.) gegen Lehmann, Felix im Jahre 58 seinen Posten verloren haben sollte, so müßten die genannten Priester mindestens in diesem Jahre nach Rom transportiert worden sein, und »es wäre doch mehr als sonderbar, wenn Josephus 5 bis 6 Jahre hätte verstreichen lassen, ehe er Schritte zu ihrer Befreiung getan. Seine Worte lassen vielmehr das Gegenteil vermuten, daß er von Anfang an ihre Befreiung im Auge hatte, und dies noch besonders rasch betrieb, als er von ihrer dürftigen Lebensweise Kunde erhielt. Eine solche Kunde brauchte aber keine 4 bis 5 Jahre.« Aber diese Argumentation beweist zu viel. Diese Kunde hätte Josephus in einem einzigen Jahre erhalten können, und da er erst im Jahre 63 sich nach Rom zu ihrer Befreiung begab, so müßten sie spätestens im Jahre 62 von Felix transportiert worden, folglich dieser in diesem I. noch Prokurator gewesen sein. Aber bis zu diesem Jahre kann er ja tatsächlich nicht fungiert haben.

Mit diesen gefangenen Priestern muß es übrigens eine eigene Bewandtnis gehabt haben. Sie müssen jedenfalls wegen eines politischen Vergehens angeklagt worden sein; denn wegen einer Kleinigkeit hätte sie Felix nicht in Fesseln zur Verantwortung nach Rom geschickt. Josephus will offenbar dieses Vergehen bemänteln, wenn er angibt: διὰ μικρὰν καὶ τὴν τυχοῠσαν αἰτίαν. Vorauszusetzen ist, daß sie zu den streng Frommen oder zu den Gesetzeslehrern gehört haben, da sie außer Früchten von Heiden nichts genießen mochten: τῆς εἰς τὸ ϑεῖον εὐσεβείας. Hätten sie nun einen Akt der Rebellion begangen, so brauchte sie Felix nicht zur Rechtfertigung oder Bestrafung dem Kaiser zuzuschicken, sondern hätte sie vermöge seiner Vollmacht hinrichten lassen können. Sie müssen also als strenge Pharisäer in Äußerungen oder Vorträgen etwas ausgesprochen haben, was den Römern mißfällig schien. Möglich, daß sie messianische Hoffnungen rege gemacht haben. Wie dem auch sei, sie galten als politische Delinquenten. So war es gefährlich, sich für sie zu verwenden, um nicht in ihren Prozeß verwickelt zu werden. Josephus konnte es daher nicht eher wagen, einen Schritt zu ihrer Befreiung zu tun, als bis er erfahren hatte, daß Poppäa Sabina tatsächlich Kaiserin geworden war, und daß sie eine Vorliebe für das Judentum hegte128. Kaiserin ist Poppäa erst im Sommer 62 geworden, und erst als sie [732] festen Fuß im Palatium gefaßt hatte, mag sie, die Kluge, ihre Zuneigung zum Judentum haben durchblicken lassen. Vielleicht haben es nur eingeweihte Judäer in Rom gewußt und nach Jerusalem berichtet. Unter dem Schutz der Kaiserin konnte Josephus den Schritt wagen, sich für die wegen irgend einer für politisch verdächtig gehaltenen Äußerung oder Versammlung gefangenen Priester zu verwenden, deren Los ihm besonders nahe ging, als er erfahren hatte, daß sie sich aus übertriebener Religiosität im Kerker kasteiten. Da nun Poppäa erst Sommer 62 Kaiserin geworden war, so reiste Josephus bei Eintritt der für die Schiffahrt günstigen Jahreszeit 63 nach Rom. Also dieses Argument beweist weder für eine längere, noch für eine kürzere Amtsdauer des Prokurators Felix etwas.

Man muß also dem Datum seiner Abberufung von einer anderen Seite auf die Spur zu kommen suchen. Es ist durchaus sicher, daß die Umwandlung von Cäsarea Philippi in Neronias im Jahre 61 erfolgt sein muß, da das Datum der Münzen darauf hinweist129. Nun subsumiert Josephus [Altert XX, 9, 4] diese Tatsache unter die Begebenheiten unter dem Prokurator Albinus. Wir haben gefunden, daß seine Angaben von gleichzeitigen Tatsachen sich bewähren. Dieses Faktum fiel nun gar in Josephus' angehendes Mannesalter; er hatte also ganz sichere Kunde von der Zeit. Daraus ergibt sich der unanfechtbare Rückschluß, daß Albinus bereits im Jahre 61 Prokurator gewesen sein muß. Da nun vor ihm Festus fungiert hat, so kann Felix unmöglich bis zum Jahre 61 fungiert haben, ja nicht einmal bis zum Jahre 60, da doch ein Raum für Festus zwischen Felix und Albinus bleiben muß. Wir können also für den ersteren höchstens das Jahr 59 als Endtermin vindizieren. Dann könnte allenfalls Festus von 59 bis 61 die Verwaltung inne gehabt haben.

Das Datum 59 als Ende von Felix' Prokuratur könnte vielleicht auch noch von einer anderen Seite bestätigt werden. Josephus erzählt ausdrücklich, daß eine Gesandtschaft der Cäsareensischen Judäer sich nach Rom begeben habe, um Felix wegen seiner Bluttat in ihrer Stadt anzuklagen (Altert. XX, 8, 7-9). Daraus folgt, daß Felix wegen dieser Untat abberufen und Festus an seiner Stelle ernannt worden ist. Wer hat seinen Sturz herbeigeführt? Unter Claudius müssen wir bei allen Staatsaktionen darauf hinweisen: cherchez la femme. Felix wurde durch die Gunst Agrippinas ernannt, weil er der Bruder ihres Freundes war. Sie hat ihn wohl auch noch, nachdem Pallas in Ungnade gefallen war, gehalten. Aber im Frühjahr 59 ist Agrippina von ihrem eigenen Sohne ermordet worden. Damit fiel die letzte Stütze für Felix. Mit Agrippinas Tod ging für Poppäa die Glückssonne auf. Es kann nach Tacitus' Angaben nicht zweifelhaft bleiben, daß Poppäa ihren Buhlen Nero zum Muttermord aufgestachelt hat. Agrippina wurde im März 59 ermordet. Es war daher für Poppäa eine Kleinigkeit, Agrippinas Kreatur, Felix zu stürzen, sobald sie Kunde von dem Blutbad, der Plünderung und Einkerkerung der Judäer Cäsareas unter Felix' Teilnahme erhalten hatte. Hat sie doch auch Albinus gestürzt und Gessius Florus zum Landpfleger gemacht. So kann sie auch Felix' Sturz und Festus' Ernennung bewirkt haben. Als Felix abberufen worden war, wagten die Cäsareenser, Klage gegen ihn zu führen, vielleicht ebenfalls auf Poppäas Gunst rechnend. Allein hier kam das römische Interesse ins Spiel, welches erforderte, daß Cäsarea, gewissermaßen die römische Hauptstadt für Judäa, der [733] Garnisonsort der römischen Cohorten, den Rom treuen Heiden, und nicht den Judäern zur Verfügung stehe. Insofern hatte Felix in römischem Interesse gehandelt. Josephus sagt zwar, Pallas habe seinen Bruder gedeckt; das kann jedoch nicht richtig sein, da Pallas damals bereits in Ungnade war. Aber einer von den übrigen Staatslenkern und Neros Vormündern, damals noch Seneca und Sophronius Burrus, praefectus praetorio, mögen diesen Gesichtspunkt geltend gemacht haben. Josephus sagte, Neros Erzieher und Sekretär Burrus habe vom Kaiser ein für die Judäer Cäsareas ungünstiges Dekret erlangt. Da sich aber Nero wenig um Staatsgeschäfte zu kümmern pflegte, so mögen die Minister diesen Schulmeister nur gebraucht haben, um von Nero dieses Dekret zu erwirken. Seneca war ein abgesagter Feind des judäischen Geschlechtes; er nennt es [o. S. 402 N.] sceleratissima gens. Er hat wohl entschieden für die Zurücksetzung der Cäsareensischen Judäer gegen die Syrer heimlich gearbeitet. Poppäas Einfluß war damals noch nicht befestigt genug, um, wie später, selbst gegen das römische Interesse zugunsten der Judäer zu intervenieren. Sie hatte eben erst das Hindernis ihrer Verbindung mit Nero, die Kaiserin-Mutter, beseitigt. Ist Nero dafür gewonnen worden, die Gleichstellung der Cäsareensischen Judäer nicht anzuerkennen, sie vielmehr den Syrern gegenüber zurückzusetzen, so durfte Felix wegen seines in demselben Sinne geltend gemachten Verfahrens in Cäsarea eigentlich nicht verurteilt werden. Es zeigt sich auch hierin die Launenhaftigkeit der Neronischen Regierung. Felix wurde wegen seines Verfahrens in Cäsarea abgesetzt und doch nicht verurteilt. Felix' Abberufung scheint jedenfalls mit Agrippinas Tod und mit Poppäas Sieg über dieselbe in Zusammenhang zu stehen, und dieses Moment führt auf das Jahr 59. Bei der Ernennung der Prokuratoren Felix, Festus, Albinus und Florus waren die Weiber am Hofe hinter den Kulissen tätig.

Die Amtsdauer der drei letzten Prokuratoren ist nach den gewonnenen Resultaten leichter zu bestimmen. Festus ist wohl im Jahre 59 an Felix' Stelle nach Judäa gesandt worden. Da, wie wir (o. S. 733) gesehen haben, Albinus bereits im Jahre 61 fungiert haben muß, so fällt demnach Festus' Tod in dasselbe Jahr. Aus Josephus' Relation über das Auftreten des wahnsinnigen Weherufers Jesus b. Ananias (w.u.) unter Albinus zur Zeit des Hüttenfestes – 4 Jahr vor dem Ausbruch des Krieges, 7 Jahr 5 Monate vor der Zerstörung Jerusalems – geht nur hervor, daß Albinus im Jahre 62 oder 63 bereits Prokurator war (Schürer a.a.O. 310 N. [jetzt I3, 583, Anm. 47]), aber nicht, daß er erst damals sein Amt angetreten hat. Er ist wohl bereits 61 Prokurator geworden, eben nach Festus' Tod. Da Gessius Florus im Jahre 64 nach Judäa geschickt wurde, so hat demnach Albinus von 61 bis 64 fungiert.

Die Aufeinanderfolge der Prokuratoren gestaltet sich demnach chronologisch ganz anders, als sie Schürer (a.a.O. 384 [jetzt I3, 565 ff.]) und andere Historiker aufgestellt haben130:


1. Cuspius Fadus.44-45

2. Tiberius Alexander.45-48

3. Cumanus über Judäa und Samaria

und Felix über Galiläa49-53

4. Felix allein über sämtliche Landesteile53-59

[734] 5. Festus.59-61

6. Albinus.61-64

7. Gessius Florus.13164-66



Mit der präziseren Einreihung der Prokuratoren in die Chronologie kann auch die Aufeinanderfolge der Hohenpriester während der letzten zwei Jahrzehnte, die Josephus noch mehr vernachlässigt hat, präziser bestimmt werden. Es ist bereits nachgewiesen worden, daß Josephus in dieser Zeit die Ein- und Absetzung einiger Hohenpriester übergangen hat (oben S. 723, 725). Es fehlen Ismaël b. Phiabi das erste Mal, ferner der wegen seines Reichtums einflußreiche Anania (oder Eleasar ben Charsom). Der erstere muß noch im Jahre 48 fungiert haben, während der großen Hungersnot und der Prokuratur des Tiberius Alexander. Der von Herodes II. eingesetzte Hohepriester Anania b. Nebedaï, welcher auf Joseph Kamit gefolgt war, kann also nicht 10 Jahre fungiert haben, sondern höchstens zwei Jahre. Ismaël fungierte also im Jahre 48. Wenn nun Agrippa, wie es scheint, in Felix' letztem Jahre (59) einen Hohenpriester namens Ismaël Φαβεῖ (richtiger τὸν Φιαβί) [Altert. XX, 8, 8] einsetzt, so muß Agrippa diesen zum zweiten Male ernannt haben. In der Zwischenzeit muß also ein anderer fungiert haben. Nun erzählt Josephus, infolge der Fehden zwischen Galiläern und Samaritanern in Cumanus' letztem Jahre habe Ummidius Quadratus die Hohenpriester Jonathan, ferner Anania und den Sohn dieses letzteren, Anan, Tempelhauptmann, nach Rom gesendet (j. Kr. II, 12, 6: τοὺς ἀρχιερεῖς Ἰωνάϑƞν καὶ Ἀνανίαν, τὸν τε τούτου παῖδα Ἄνανον). In den Altert. (XX, 6, 2) hat Jos. seine Angabe berichtigt; er erzählt, daß Quadratus die Leute des Hohenpriesters Anania und den Hauptmann Anan nach Rom geschickt habe: τοὺς δὲ περὶ Ἀνανίαν τόν ἀρχιερέα. Indessen muß Jonathan ebenfalls zur Gesandtschaft gehört haben, da Jos. selbst an anderer Stelle (das. 8, 5) erzählt, dieser Jonathan habe beim Kaiser petitioniert, Felix zum Prokurator zu ernennen. Aus der von Josephus selbst nachgetragenen Berichtigung ist also zu entnehmen, daß nicht der Hohepriester Anania nach Rom geschickt worden, sondern neben dem Hohenpriester Jonathan »die von Ananias Geschlecht«. Daraus geht jedenfalls hervor, daß zur Zeit dieser Gesandtschaft, d.h. in Cumanus' letztem Jahre 53, entweder Jonathan oder Ananias Hoherpriester gewesen sein muß. Es scheint indessen, daß selten ein fungierender Hoherpriester Jerusalem verlassen hat, da er der Repräsentant des Tempels war. Wenn es einmal geschehen ist, so wurde sofort ein anderer an seiner Stelle ernannt. Vgl. weiter unten. Da Josephus bei dieser Gesandtschaft verschweigt, daß an Jonathans Stelle, der faktisch nach Rom gesandt wurde, ein anderer ernannt worden wäre, so scheint es, daß nicht dieser, sondern Anania damals als Hoherpriester fungiert hat. Es folgt wohl auch aus dem Umstande, daß sein Sohn Anan, der Tempelhauptmann, und noch einige seines Geschlechtes nach Rom geschickt worden sind. Anania muß also damals eine [735] offizielle Persönlichkeit gewesen sein. Es würde also daraus folgen, daß dieser Anania, der übermäßig Reiche, im Jahre 53 als Hoherpriester fungiert hat. Aber Jonathan muß wohl auch nicht lange vorher fungiert haben, da er zur Vertretung der Gesandtschaft ausgewählt worden ist. Dieser Jonathan mag der Sohn Anans gewesen sein, welcher früher unter Vitellius eingesetzt worden war. Wir könnten also nach Ismaël b. Phiabi, welcher 48 fungiert hat, bis 53 zwei Hohepriester einschieben: Jonathan und Anania, den Reichen (Eleasar b. Charsom). In Felix' letztem Jahr, ungefähr gleichzeitig mit den Vorgangen in Cäsarea um 58-59, hat Agrippa II. Ismaël ernannt (XX, 8, 8), d.h. hat ihn zum zweiten Male eingesetzt. Wenn vor ihm nicht noch ein anderer fungiert hat, so hätten wir zwischen Ende 48 bis 50 in 10 bis 11 Jahren jedenfalls vier Hohepriester, Ismaël, Jonathan, Anania zum zweiten Male. So kämen auf jeden nicht viel über zwei Jahre Funktionsdauer.

Auf Ismaël folgte Joseph Σίμωνος παῖς, ἐπικαλούμεν$ς Καβί (XX, 8, 11), d.h. der Sohn des Simon Καμίϑου (XVIII, 2, 2), aus der Familie תיחמק, derselbe, welcher schon einmal vor Anania b. Nebedaï fungiert hat (XX, 5, 2 o. S. 726). Der Grund des Wechsels war, weil Ismaël nach Rom als Gesandter gegangen war, um den Streit wegen der Errichtung einer hohen Blendmauer im Tempelvorhofe vor Nero zum Austrag zu bringen. Da der Hohepriester nicht von Jerusalem abwesend sein durfte, so mußte ein anderer an seiner Stelle ernannt werden. Dieses ging während Festus' Amtsverwaltung vor, d.h. im Jahre 60. Denn ehe noch nach Festus' Tode Albinus eingetroffen war, ernannte Agrippa einen neuen Hohenpriester Anan b. Anan, eben den, der als Sadducäer auftrat (das. 9, 1), d.h. also im Jahre 61. Wegen Klagen über diesen sadducäischen Hohenpriester setzte ihn Agrippa nach dreimonatlicher Funktion ab und gab ihm Jesus b. Damnaï zum Nachfolger. Auch dieser begann also seine Funktion 61. Noch während Albinus' Verwaltung gab ihm Agrippa zum Nachfolger Jesus b. Gamala (Gamaliel, das. 9, 4) und zwar zur Zeit, als er Neronias erbaut hatte (61 bis 63). Der letzte Hohepriester herodianischer Wahl, Matthias b. Theophil, wurde zur Zeit des Beginnes der Revolution ernannt (das. 9, 7): καϑ ὃν καὶ ὁ πρὸς Ρωμαίους πόλεμος ἔλαβε τὴν ἀρχἠν (das.), d.h. 66. Folglich fungierten seine beiden Vorganger Jesus b. Damnaï und Jesus b. Gamala 61 bis 66, oder präziser von Ende 61 bis anfangs 66, also nur von 62 bis 65. Es kämen also auf jeden ungefähr 2 Jahre.

Die talmudischen Quellen haben einige wertvolle Traditionen bezüglich einiger Wahl-Hoherpriester, welche Josephus' Relation ergänzen und erklären. Besonders interessant ist der Weheruf über vier hohepriesterliche Familien, welche die Demoralisierung derselben unter der zweiten Reihe der Prokuratoren veranschaulicht. Dieser Weheruf wird tradiert Tossefta Menachot 13, 21 und b. Pessachim 57 a mit einigen Varianten.

Tossefta I.

ןישוע לעו ןהל המודה לעו ןהב אצויכ לעו ולא לע שיא ןנחוי ןב יסוי אבאו תינטב ןב לואש אבא היה ןהישעמכ תיבמ יל יוא ןתלאמ יל יוא סותיב תיבמ יל יוא :רמוא םלשורי V.) סורדק

.(סורתק

ןתשיחל תיבמ יל יוא ןנחלא תיבמ יל יוא ןסומלוקמ יל יוא ןב לאעמשי תיבמ יל יוא ןפורגאמ יל יוא עשילא תיבמ יל יוא ןילכרמא ןהינתחו ןירבזג םהינבו םילודג םינהכ םהש . יבאיפ. .תולקמב ונילע ןיטבוחו ןיאב ןהידבעו

Talmud II.

םושמ תינטב ןב לואש אבא רמא ןהב אצויכ לעו םהילע יל יוא . ןתלאמ יל יוא סותייב תיבמ יל יוא ןינח ןב ףסוי אבא ןסומלוקמ יל יוא סורתק תיבמ יל יוא ןתשיהלמ יל יוא ןינח תיבמ םינהכ םהש .ןפורגאמ יל יוא יבאיפ ןב לאעמשי תיבמ יל יוא . .תולקמב םעה תא ןיטבוח ןהידבעי .... .םילודג

[736] Augenscheinlich ist der Text in II besser erhalten als in I; denn die hier gegeißelten 4 hohenpriesterlichen Familien sind auch aus Josephus bekannt. Boëthos, Chanin (Chanan, Anan), Katheras (Kantheras) und Phiabi. Folglich ist ןנחלא verschrieben statt ןנח. Der Passus עשילא תיבמ ist eine Art Dittographie oder Randglosse, und dasselbe wie לאעמשי תיבמ, da Elisa, der Vater des Gesetzlehrers Ismaël aus der Priesterfamilie Ismaël Phiabi stammte132. – Kantheras wird in dieser drastischen Geißelung der ἀρχιερεῖς als eine eigene Familie bezeichnet neben den Boëthos. Josephus führt zwei aus diesem Hause auf: Simon und Elionaios. Er nennt aber den erstern Sohn des Boëthos, welcher mit seinen zwei Brüdern und seinem Vater die Würde inne gehabt hatte (Antiq. XIX, 6, 2): Σὺν τοῖς ἀδελφοῖς οὖν tὴν ἱερωουνƞν ἔσχεν ὁ Σίμων (Κ) καὶ σὺν τῷ πατρί. Er meint damit den Stammvater Boëthos, aus dessen Familie Herodes die zweite Mariamne geheiratet hat. Den Vater dieser Frau nennt Josephus an 3 [nur an 2, und zwar nicht im 18. Buch der Altert.] Stellen Simon b. Boëthos (XV, 9, 3; XVII, 4, 2; XVIII, 5, 1). An der vierten Stelle, eben da, wo er von Simon Kantheras und seinen zwei hohenpriesterlichen Brüdern spricht [XIX, 6, 2], macht er sich des Widerspruches schuldig, als wenn die zweite Mariamne Tochter des Boëthos gewesen, und dieser Boëthos von Herodes zum Hohenpriester eingesetzt worden wäre. Als zwei Söhne des Boëthos nennt Josephus Joasar und Eleasar (XVII, 6, 4; 13, 1). An der ersten Stelle bezeichnet er Joasar als Bruder der Mariamne II., folglich Sohn Simon Boëthos'. Damit stimmt die Angabe an der zweiten Stelle, daß Joasar Sohn des Boëthos, d.h. Simon b. Boëthos und Bruder des Eleasar gewesen ist. Er bezeichnet also immer Simon Boëthos als Vater der Mariamne und nicht Boëthos. Also an 5 Stellen, wo er von diesem Hause spricht, gibt er genau an, daß Simon der erste Hohepriester aus dem Hause Boëthos, oder der Vater der Mariamne, daß demzufolge der Stammvater Boëthos aus Alexandrien niemals Hoherpriester gewesen sei. Folglich ist die Angabe in der Stelle von Simon Kantheras, wo er von dem Hohenpriestertum des Vaters und dreier Söhne spricht, eine Konfusion. Außerdem leidet diese Genealogie an einem noch andern argen Widerspruch. Soll Boëthos Hoherpriester mit seinen drei Söhnen gewesen sein, so hätten zwei derselben den Namen Simon geführt, nämlich Simon unter Herodes und Simon Kantheras unter Agrippa II., und es hätte eigentlich vier Söhne des Boëthos gegeben, zwei Simon, Joasar und Eleasar.

Die Genealogie des Hauses Boëthos in XIX, 6, 2 ist daher als widerspruchsvoll wertlos. Der Stammvater Boëthos war nicht Hoherpriester, sondern sein Sohn Simon, dessen Tochter Mariamne II. war. Seine beiden Söhne waren ebenfalls Hohepriester: Joasar und Eleasar. Simon Kantheras dagegen stammte nicht aus dem Hause Boëthos, sondern bildete eine eigene Hohepriesterfamilie Kantheras, wie in den talmudischen Quellen angeführt wird, neben dem Hause Boëthos.

Von den beiden Familien hat die des Boëthos 3 Hohepriester gestellt (zur Zeit des Herodes und Archelaus), die des Kantheras 2. – Das Haus Anan dagegen hat 6 Hohepriester geliefert. Bei Gelegenheit der Wahl des sadducäischen Hohenpriesters Anan b. Anan bemerkt Josephus (XX, 9, 1), daß Anander Vater mit seinen fünf Söhnen die Würde inne gehabt habe: [737] τοῠτον δέ φαοι τὸν πρεσβύτατον Ἄνανον εὐτυχέοτατον γενέοϑαι. πέντε γὰρ ἔσχε παῖδας, καὶ τούτους πάντας συνέβƞ ἀρχιερατεῠσαι ... αὐτὸς πρότερος τῆς τιμῆς ἐπὶ πλεῖστον ἀπολαύσας ... Diese 5 Söhne waren: 1) Eleasar τοῠ Ἀνάνου, 2) Jonathan Ἀνάνου τοῠ ἀρχιερέως. 3) sein Bruder Theophilos, 4) Matthias, ebenfalls ein Bruder, und endlich 5) Anan b. Anan. Da es sonst keinen anderen Hohenpriester Namens Anan gegeben hat als Ἄνανος τοῠ Σέϑ, welchen Quirinius nach Amtsentsetzung des Boëthiden Joasar eingesetzt hat (XVIII, 2, 1), so war dieser Anan ben Seth Stammvater der fünf Söhne des Hauses Anan. – Der griechische Name Theophilos unter den Ananiden weist ebenso auf einen Auswärtigen hin wie Boëthos. Nun gab es zwei Hohepriester, deren Vater Theophilos hieß, Matthia b. Theophilos I. zur Zeit des Herodes und Matthia b. Theophilos zur Zeit des Aufstandes. Den letzteren bezeichnet Josephus als zum Hause des Boëthos gehörig (j. Kr. V, 13, 1) Ματϑίαν ... Βοƞϑοῠ παῖς ἦν ἐκ τῶν ἀρχιρέων. Stammte dieser aus dem Hause Boëthos, so vielleicht auch der gleichnamige Matthia b. Theophilos. Wenn diese Annahme richtig ist, so gehörten auch die Ananiden zum Hause Boëthos. Dafür spräche auch der Umstand, daß der Weberufer auch über das Haus Boëthos seine Klage erhebt, als dessen letzte Glieder doch Eleasar und Joasar nicht lange nach Herodes' Tode abgesetzt waren (o. S. 736 f.), daß es also zur Zeit der Tempelzerstörung erloschen wäre, wenn nicht angenommen wird, daß die Linie Theophilos es bis zu Ende fortgesetzt hätte.

Neben den Familien Boëthos, Anan und Kantheras hat der Weherufer auch das Haus Phiabi der Verworfenheit geziehen. Es betrifft Ismaël b. Phiabi II., der zweimal zuletzt Hoherpriester war. Dagegen der ältere, welcher unter den ersten Prokuratoren fungiert hat, muß ein edler Hoherpriester gewesen sein; denn im Talmud wird seiner mit Lob gedacht133.

Das Haus Kamit, welches drei Hohepriester gestellt hat, ließ der Weherufer unangefochten, ein Beweis, daß es nicht den übrigen an Demoralisation gleichkam. Der Name dieses Hauses ist in Josephus vielfach verschrieben. In Altert. XVIII, 2, 2 richtig Simon τοῠ Καμίϑου, das. XX, 5, 2 Joseph τοῠ Καμοιδὶ (Var. Κεμεδὶ, Καμύδυ, Κεμεδῆ) und derselbe (das. 1, 3) τοῠ Καμεὶ (V. Καμνὶ), das. 8, 11 Joseph, Sohn Simons τοῠ Καβὶ, wo es offenbar Kamith oder Kamid lauten soll. Den richtigen Namen gibt die talmudische Tradition תיחמק (Qamchit), d.h. Kamith (vgl. w. u).

Die Charakterisierung der ungebührlichen Handlungsweise jedes einzelnen der vier hohenpriesterlichen Häuser und die Tatsache, daß sie sämtlich das Volk mit Stöcken schlagen ließen, beweisen die volle Geschichtlichkeit der Relation von dem Weherufer. Die zuletzt genannte Tatsache bezeugt auch Josephus, daß die Sklaven der Hohenpriester mit Gewalt die Zehnten für sich aus der Tenne eintrieben und die Widersetzlichen mit Schlägen zu traktieren pflegten (Altert. XX, 9, 2).

Die Persönlichkeit dieses Weherufers läßt sich vielleicht noch eruieren. Er muß jedenfalls kurz vor dem Ausbruch des Krieges gelebt haben. Wenn die L. A. in der Tossefta richtig ist, hat er selbst die Mißhandlungen mit angesehen, welche von den Sklaven der Hohenpriester gegen das Volk ausgeübt wurden: תולקמב ונילע ןיטבוחו. Er zog auch das Haus Phiabi in seinen Weheruf und meinte damit Ismaël b. Phiabi, der um 58-59 fungiert hat. Die L.-A. in I: ןב לואש אבא ... יל יוא רמוא םלשורי שיא ןנחוי ןב יסוי אבאו תינטב [738] ist verdächtig. Das Wehe kann nur einer ausgerufen haben, und dann ist םלשורי שיא ןנחוי ןב יסוי eine Verwechselung mit einem älteren dieses Namens, dem Zeitgenossen von Jose b. Joeser (B. II, 2, 274). Richtig erscheint daher die L.-A. in II: אבא םושמ לואש אבא רמא ןינח ןב ףסוי. Der erstere, Abba Saul, welcher noch nach der Tempelzerstörung gelebt hat, überlieferte den Weheruf im Namen eines Abba Joseph b. Chanin oder Chanan. Irre ich nicht, so berichtet auch Josephus etwas von diesem Weherufer.

Dieser erzählt nämlich, daß das schrecklichste Vorzeichen für den Untergang Jerusalems das gewesen sei, daß ein schlichter Mann vier Jahre vor dem Ausbruche des Krieges hintereinander 7 Jahre und vier Monate an dem Hauptfeste Wehe über Jerusalem, den Tempel und das Volk gerufen habe: »Αἴ, αἲ Ιερουσαλἠμοις« (jüd. Kr. VI, 5, 3). Die Zeit des Beginnes wäre also 63. Den Namen dieses Weherufers nennt Josephus Ἰƞσοῠς τις υἱὸς Ἀνανίου τῶν ἰδιωτῶν ἄγροικος. Sollte es zwei Weherufer zur selben Zeit in Jerusalem gegeben und beider Vater Anan geheißen haben? Augenscheinlich ist der Jesus b. Anan bei Josephus und Joseph b. Anan im Talmud ein und derselbe. Leicht kann Joseph oder Jose mit Jesus, יסוי mit עושי, von einem oder dem andern verwechselt worden sein. War derjenige, welcher über Jerusalem Wehe gerufen, derselbe, welcher über die Hohenpriester-Familien Wehe gerufen, dann ist erklärlich, daß, wie Josephus erzählt, die Vornehmen ihn zum Prokurator Albinus geführt und dieser ihn habe geißeln lassen. Was ging eigentlich die Römer das Weherufen über Jerusalem an? Wenn aber der Weherufer die Hohenpriester-Häuser und ihr Treiben gebrandmarkt hat, dann ist es erklärlich, daß diese ein Interesse daran hatten, ihn stumm zu machen. Erstaunlich wäre nur in der Erzählung die Unempfindlichkeit des Weherufers gegen die Schläge und Schmerzen. Aber davon war Josephus nicht Augenzeuge; denn als dieser Jesus b. Anan oder Jose b. Anan zum ersten Male seinen Weheruf erhob (63), war der Geschichtsschreiber in Rom. Er kannte also nur den Vorgang vom Hörensagen und zwar mit Übertreibung. Auch das letzte Weherufen des Mannes über sich selbst und seinen Tod während der Belagerung hörte Josephus nicht mit eigenen Ohren; denn damals war er im Lager der Römer. Er vernahm dessen letztes Ende nur von Überläufern. Dagegen ist die Tradition von dem Weheruf über die Hohenpriester authentisch überliefert von Abba-Saul I., dem Sohne der Batanäerin (ןב תינטב), welcher den Tempeluntergang überlebt hat.

Einzelne Notizen über die Wahl-Hohenpriester, welche der Talmud erhalten hat, ergänzen Josephus' Nachricht über dieselben.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1906, Band 3.2, S. 723-739.
Lizenz:
Faksimiles:
723 | 724 | 725 | 726 | 727 | 728 | 729 | 730 | 731 | 732 | 733 | 734 | 735 | 736 | 737 | 738 | 739
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich

Deutsche Lieder aus der Schweiz

Deutsche Lieder aus der Schweiz

»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon