28. Eine eigentümliche Volkszählung während des zweiten Tempelbestandes.

[815] Die talmudische Literatur referiert, übereinstimmend mit Josephus, daß einmal in Jerusalem eine Volkszählung vermittelst der geopferten Paschalämmer veranstaltet wurde. Die Zeit und Veranlassung dieser Zählung sind meines Wissens noch nicht untersucht worden; die Ermittelung dürfte ein interessantes Resultat ergeben. Im Talmud (Peßachim p. 64b) wird erzählt: Niemals sei in Jerusalem während der Opferung des Pascha ein Mensch erdrückt worden, nur ein einziges Mal sei zur Zeit Hillels ein Greis bei diesem Anlaß umgekommen, weshalb man dieses Paschafest das der Erdrückung genannt habe. ךעמתנ אל םלועמ ןנבר ונת ןקז וב ךעמתנש ללה ימיב היהש דחא חספמ ץוח הרזעב םדא ןיכועמ חספ ותוא ןיארוק היהו דחא. Unmittelbar darauf wird erzählt: Der König Agrippa habe einst die Volksmenge Israels kennen lernen wollen, und habe den Hohenpriester bedeutet, am Tage des Paschaopfers sich von jedem Paschalamme eine Niere liefern zu lassen; es hätten sich damals 60 Myriaden Paare von Nieren ergeben, und bei jedem Paschaopfer seien mindestens 10 Personen beteiligt gewesen, nicht gezählt die Unreinen und die Abwesenden. Dieses Pascha habe man ebenfalls durch einen Namen bezeichnet: .לארשי יסולכואב ויניע ןתיל ךלמה ספירגא שקב תחא םעפ ואצמנו דחא לכמ אילוכ לטנ םיחספב ךיניע ןת לודג ןהכל ול רמא אמטמ ץוח םירצמ יאצויכ םילפכ תוילכ יגוז אוביר םישש םש רתוי וילע ונמנ אלש חספו חספ לכ ךל ןיאו ,הקוחר ךרדב היהשו ןיכועמ חספ ותוא ןיארוק היהו םדא ינב הרשעמ. Diese Tradition ist der Tossefta (Peßachim IV, 3) entlehnt. Hier kommen jedoch einige Varianten vor. Nicht dem Hohenpriester, sondern den Priestern habe Agrippa die Zählung vermittelst der Nieren des Paschaopfers [815] aufgetragen: :יל ושירפה םינהכל םהל רמא. Dann heißt es dort zum Schlusse: Der Tempelberg habe die große Volksmenge nicht fassen können, und man habe dieses Pascha das der Erdrückung genannt: לארשי וסנכנ ןיכועמ חספ ארקנ היהו ןקיזחמ היה אלו תיבה רהל. Dieselbe Nachricht kommt auch im Midrasch zu Threni vor (Anfang hinter der Einleit. [zu 1, 1 םע יתבר ריעה]), ohne Angabe des Namens. Darauf wird eine Nachricht von der Erdrückung eines Greises am Paschafeste mitgeteilt, wie die oben angeführte im Talmud, aber ohne den Zusatz, daß es zur Zeit Hillels geschehen sei: םש היהו ןקיזחמ היה אלו תיבה רהל וסנכנ תחא םעפ חספ ןירוק היה חספה ותואו ,והוסמרו דחא ןקז

ןקזה תא וכעמש םש לע ןיכועמ.

Die Berichtigung dieser Angaben und die Zeit und die Veranlassung zu dieser Zählung ergibt die Nachricht bei Josephus (Jüd. Kr. VI, 9, 3). Josephus erzählt: Der römische Legat von Syrien habe einst dem Kaiser Nero, der das Volk der Juden wegen seiner Geringzähligkeit verachtete, den Beweis von der großen Volksmenge derseben geben wollen, und habe die Priester gebeten, wenn es möglich wäre, die Menge zu zählen. Bei dem bevorstehenden Paschafeste seien 25 Myriaden (oder 27 Myriaden) und noch dazu 6500 Opfer dargebracht worden, und auf jedes Opferlamm seien wenigstens 10 Mann gekommen. So habe die Zählung 2 Millionen und 700 000244 ergeben, außer der Zahl der Unreinen, welche das Pascha nicht mitfeiern durften. Ὀτ$ δ᾽ἐχώρει τοσούτους ἡ πόλις, δῆλον ἐκ τῶν ἐπὶ Κεστίου συναριϑμƞϑέντων, ὃς τὴν ἀκμὴν τῆς πόλεως διαδƞλῶσαι Νέρωνι βουλόμενος καταφρονοῠντι τοῠ ἔϑνους, παρεκάλεσεν τοὺς ἀρχιερεῖς, εἴ πως δυνατὸν εἴƞ τὴν πλƞϑὺν ἐξαριϑμἠσασϑαι. οἱ δ᾽ ἐνοτάσƞς ἑορτῆς, ἣπάσχα καλεῖται, καϑ᾽ ἥν ϑύουσιν μὲν ἀπὸ ἐνάτƞς ὤρας μέχρις ἑνδεκάτƞς. ὤσπερ δὲ φρατρία περὶ ἑκάστƞν γίνεται ϑυσίαν, οὐκ ἔλασσων ἀνδρῶν δέκα, μόνον γὰρ οὐκ ἔξεστιν δαίνυσϑαι, πολλοὶ δὲ καὶ συνείκοσιν ἀϑροίζονται, τῶν μὲν οὖν ϑυμάτων εἰκοσιπέντε μυριάδας ἠρίϑμƞσαν, πρὸς δὲ ἑξακισχίλια καὶ πεντακόσια. Γίνονται ἀνδρῶν, ἵν᾽ ἑκάστου δέκα δαιτυμόνας ϑῶμεν, μυριάδες ἑβδομἠκοντα καὶ διακόσιαι καϑαρων ἁπάντων καὶ ἁγίων. οὔτε γὰρ λεπροῖς οὔτε γονοῤῥοιίκοις, οὔτε γυναιξὶν ἐπεμμἠνοις οὔτε τοῖς ἄλλως μεμιασμένοις ἐξὸν ἦν τῆσδε τῆς ϑυσίας μεταλαμβάνειν.

Nach diesem Berichte war es also der Legat Cestius Gallus, der diese Volkszählung veranlaßt hat. Darin liegt kein Widerspruch gegen die Angabe der talmudischen Quelle, daß Agrippa dieselbe veranstaltet habe, da schwerlich der Legat sich direkt mit den Priestern in Verbindung gesetzt, sondern ihnen wohl den Auftrag nur durch den König Agrippa II. zugestellt haben wird.

Beachten wir Josephus' Bericht sorgfältig, so ergibt sich daraus ein wichtiges Faktum. Cestius wollte vermittelst der Zahlung dem Kaiser Nero die Überzeugung beibringen, daß das judäische Volk numerisch nicht so zu unterschätzen sei, wie es diesem schien oder von seinen Höflingen dargestellt wurde. Er wollte also durch eine Tatsache feststellen, daß Judäa eine imposante Männerzahl ins Feld zu senden imstande sei und daher nicht gereizt werden dürfe. Um dieses Resultat zu erzielen, mußte dafür gesorgt werden, daß an dem Pascha, welches eine annähernde Volkszählung liefern sollte, eine besonders starke Beteiligung stattfinde. Es ist also wohl von Cestius Gallus, dem Könige [816] Agrippa, den priesterlichen Autoritäten und anderen Behörden dem Volke die Weisung zugegangen, sich recht zahlreich zu diesem Pascha einzufinden. Schicken wir voraus, was sich von selbst versteht, daß die talmudischen Quellen und Josephus von einer und derselben Zählung am Pascha sprechen.

Aus diesen Quellen (genauer: aus diesen beiden Quellen, denn sämtliche talmudische Nachrichten fließen aus einer und derselben Tradition und sind nur als Varianten anzusehen) ergibt sich, daß die Beteiligung außerordentlich stark war. Es hatte sich eine so große Menge zu diesem Paschaopfer eingefunden, daß der Tempelberg sie kaum hat fassen können: אל תיבה רה ןקיזחמ היה. Natürlich handelte es sich doch um eine politische Demonstration, durch die dem Kaiser in Rom die Tatsache aufgedrängt werden sollte, daß Judäa eine starke Bevölkerung besitze, und daß auch außerhalb des Landes viele Verehrer Jerusalems und des Tempels existierten, denen das Land der Heiligtümer keineswegs gleichgültig sei. Es galt also als eine Ehrensache, oder richtiger als eine Pflicht für jeden, der zur Schonung des Landes und Volkes beitragen wollte, von diesem Pascha nicht fern zu bleiben. Wie Josephus im Eingange zu dieser Relation zu verstehen gibt, waren auch viele Judäer aus dem Auslande zu diesem Pascha herbeigeströmt245. Es ergibt sich daraus, daß nicht bei jedem Pascha, wie bei diesem, eine so starke Beteiligung war, welche eben als politische Demonstration benutzt werden sollte.

Man darf also annehmen, daß jeder fromme oder politisch überlegte Judäer, der nicht durch Unreinheit oder sonst wie verhindert war, sich an diesem Pascha beteiligt haben wird. Die Kategorie der Entfernten (הקוחר ךרדב) gab es dieses Mal schwerlich. Je größer die Zahl war, desto eher konnte auf eine nachhaltige Wirkung der Demonstration gerechnet werden. Daher war das Gedränge bei diesem Pascha so groß, daß Menschen erdrückt wurden, und daß man es später, weil das Andenken daran lebendig geblieben ist, das Pascha der Erdrückung genannt hat. Eigentlich sagt der Wortlaut ןיכועמ חספ aus, daß mindestens mehrere erdrückt wurden. Die Angabe, daß bloß ein einziger Greis den Tod dabei gefunden habe, ist gewiß ungenau. Von selbst leuchtet ein, daß die Lesart im Talmud ןיבועמ חספ falsch ist; es muß auch da wie in der Hauptquelle, aus der die Nachricht entlehnt ist, in der Toßefta nämlich, lauten: ןיכועמ חספ. Damit ist auch die zuerst aus dem Talmud zitierte Relation beseitigt, als habe auch zur Zeit Hillel's ein solches ןיכועמ חספ stattgefunden. Dazu war damals keine Veranlassung. Nur ein einziges Mal kam eine so zahlreich besuchte Paschafeier vor, zur Zeit Cestius Gallus' und Agrippas, aber weder vorher noch nachher. Die Relation über Hillel entstand [vielleicht] aus dem Faktum, daß Hillel seine Würde durch eine Entscheidung in Angelegenheit eines Pascha erlangt hat, wobei er eine Debatte führen mußte. Daher nahm diese Quelle an, daß auch dieses Pascha so stark besucht gewesen sei, daß man es das der Erdrückung genannt habe. Es braucht nicht weiter bewiesen zu werden, daß diese Relation sagenhaft ist.

Daß dagegen das »Pascha der Erdrückung« sich zur Zeit Agrippas oder Cestius Gallus' ereignet hat, ist historisch unanfechtbar. Man kann dadurch auch das Jahr dieses »Pascha der Volkszählung« fixieren. Josephus erzählt nämlich von einem Paschafeste, an welchem Cestius Gallus in Jerusalem anwesend war und an dem eine starke Volksdemonstration stattgefunden hat. Diese Nachricht ist für unser Thema wichtig; daher müssen wir sie beleuchten. Josephus [817] berichtet (das. II, 14, 3) über die tyrannische und empörende Regierungsweise des letzten römischen Prokurators in Judäa Gessius Florus und bemerkt, daß trotz des unerträglichen Druckes niemand gewagt habe, bei dem ihm vorgesetzten Statthalter Cestius Gallus Klage gegen ihn zu führen. Einst aber, zur Zeit des Paschafestes, als Cestius Gallus in Jerusalem anwesend war, habe das Volk, nicht weniger als dreißig Myriaden (3 000 000 Menschen), denselben angefleht, Mitleid mit dem Elende des Volkes zu haben, und die Pest des Landes, Gessius Florus, zu entfernen. Cestius Gallus habe darauf dem Volke Abhilfe für die Zukunft versprochen. Μέχρι μὲν οὖν ἐν Συρίᾳ Κέστιος Γάλλος ἦν διέπων τὴν ἐπαρχίαν, οὐδὲ πρεσβεύσασϑαί τις πρὸς αὐτὸν ἐτόλμƞσεν κατὰ τοῠ Φλώρου. Παραγενόμενον δὲ εἰς Ιεροσόλυμα τῆς τῶν ἀζύμων ἑορτῆς ἐνεστώσƞς, περιστὰς ὁ δῆμος οὐκ ἐλλάττους τριακοσίων μυριάδων ἱκέτευον ἐλεῆσαι τὰς τοῠ ἔϑνους συμφορὰς καὶ τὸν λυμεῶνα τῆς χώρας Φλῶρον ἐκεκράγεσαν. ὁ δὲ παρὼν, καὶ τῷ Κεοτίῳ παρεστὼς διεχλεύαζεν τὰς φωνάς: ὅ γε μὴν Κέστιος τὴν ὁρμὴν τοῠ πλἠϑους καταστείλας καὶ δοὺς ἔμφασιν, ὡς πρὸς τὸ μέλλον αὐτοῖς τὸν Φλῶρον κατασκευάσειν μετριώτερον, ὑπέστρεφεν εἰς Ἀντιόχειαν.

Aus diesem Bericht ersehen wir, daß Cestius Gallus einst am Paschafeste, d.h. an dem Tage, an welchem das Pascha geopfert wurde, in Jerusalem anwesend war (denn mit dem »Feste der ungesäuerten Brode« תוצמה גח = τῶν ἀζύμων ἑορτἠ bezeichnet Josephus auch das Pascha des vierzehnten Nissan, vergl. das. II, 1-3 und öfter). Diese Anwesenheit des Legaten von Syrien in der judäischen Hauptstadt ist auffallend. Nur die Prokuratoren pflegten alljährlich zur Zeit der Paschafeier mit einer Heeresabteilung sich von ihrer Garnisonsstadt Cäsarea nach Jerusalem zu begeben, um die Entstehung von Unruhen zu verhüten oder enstandene Tumulte zu dämpfen. Aber der höchste Beamte Syriens, wovon Judäa geographisch doch nur einen kleinen Teil bildete, der Stellvertreter des Kaisers in dieser Gegend, war zu vornehm, um sich in der judäischen Hauptstadt blicken zu lassen. Es muß also eine ganz besondere Veranlassung gewesen sein, die dieses Mal den Legaten Cestius Gallus nach Jerusalem geführt hat. Es ist auch in der oben betrachteten Relation nicht angedeutet, daß er sich etwa im Auftrage des Kaisers dahin begeben hätte, um die beginnende Volksgährung kennen zu lernen und zu überwachen. Wir fanden im Gegenteil, daß Nero die Widerstandskraft des judäischen Volkes viel zu sehr verachtete, als daß er selbst bei gespannter Unzufriedenheit es für nötig erachtet haben sollte, dem Legaten den Befehl zugehen zu lassen, sich an den Herd der Unzufriedenheit zu begeben.

Aus dem oben Auseinandergesetzten geht indessen klar hervor, welche Veranlassung Cestius Gallus nach Jerusalem geführt hat. Er ist aus eigener Initiative dahin gegangen, um sich von dem Stande der Angelegenheiten in Jerusalem, von dem Umfang der Mißstimmung und ganz besonders von der Zahl der Bevölkerung mit eigenen Augen zu überzeugen und dann an den Kaiser Bericht darüber erstatten zu können. Es kann kein Zweifel darüber sein, daß Cestius Gallus' Anwesenheit in Jerusalem zur Paschazeit mit der Volkszählung vermittelst der Paschaopferlämmer in innigem Konnex stand. Drei Millionen Menschen umstanden den römischen Legaten und flehten ihn an, Judäa von der Pest Gessius Florus zu befreien. Eine solche große Menge kann doch unmöglich in gewöhnlicher Zeit in Jerusalem anwesend gewesen sein! Aber diese Menge Hilfeflehender bestand eben aus den zum Paschafeste Eingetroffenen, wozu Jerusalemer, Bewohner der judäischen Städte und der Nachbarländer,[818] Syrer, vielleicht auch Babylonier gehörten. Wegen Gessius Florus, der die Hauptstadt und das Land mit unerhörter Grausamkeit peinigte, war Cestius Gallus nach Jerusalem gekommen.

Bemerken wir noch, daß Josephus die Anwesenheit des Statthalters in Jerusalem zur Paschazeit im Jahre der Revolution verzeichnet, also im Jahre 66, so erhalten wir dadurch ein vollständiges Situationsbild von den Vorgängen in Judäa, ehe die judäische Nation zu den Waffen griff, um sich entweder die Freiheit zu erkämpfen oder endgültig unterzugehen.

Der Klazomenier Gessius Florus, eine Neros würdige Kreatur, der die Freundin der Kaiserin Poppäa zur Frau hatte, tyrannisierte seit zwei Jahren das judäische Volk und hatte einen solchen Schrecken um sich verbreitet, daß niemand wagte, Klagen gegen ihn, sei es beim Kaiser in Rom oder beim Legaten in Antiochien, anzubringen. Schon war dem Volke die Geduld ausgegangen, wie Tacitus bemerkt: duravit tamen patentia Judaeis usque ad Gessium Florum procuratorem (Hist. V, 10). Im stillen bildete sich eine Revolutionspartei, die alles daran setzen wollte, sich des römischen Joches zu entledigen. Der Nominalkönig Agrippa II. und die Römerfreunde, wozu auch die regierenden Hohenpriesterfamilien gehörten, welche Kunde von der gährenden Unzufriedenheit im ganzen Lande und von dem Wunsche, mit Rom zu brechen, hatten, müssen Vorstellungen bei dem Legaten gemacht haben, Gessius Florus zu entfernen oder eines revolutionären Aufstandes gewärtig zu sein. Cestius Gallus durfte sich aber nicht herausnehmen, den blutdürstigen Prokurator ohne weiteres abzusetzen, da dieser vom Kaiser selbst eingesetzt war und zu dessen Lieblingen gehörte. Er scheint indessen Nero den Stand der Angelegenheiten in Judäa geschildert und dabei bemerkt zu haben, daß ein Aufstand in sicherer Aussicht stände, wenn Gessius Florus nicht abberufen würde. Der Kaiser aber verachtete das judäische Volk und achtete nicht auf die geschilderten Gefahren (Νέρων καταφρονῶν τοῠ ἔϑνους). Um seinen Vorstellungen Nachdruck zu geben, verabredete er mit dem König Agrippa und den Hohenpriestern eine Volkszählung, durch welche die Widerstandskraft des judäischen Volkes mit Zahlen konstatiert werden sollte. Das nächste Paschafest sollte die Probe abgeben. Da es üblich war, daß das Oberhaupt des Synhedrions zur Paschazeit Rundschreiben an die Gemeinden erließ, so wurde ohne Zweifel auch dieses Mal eine Enzyklika an die Gemeinden Judäas und der angrenzenden Länder gerichtet mit der Aufforderung, sich so zahlreich als möglich bei dem nächsten Paschafeste zu beteiligen, weil die Rettung des Landes davon abhinge.

Diese Weisung wurde befolgt. Eine gewaltige Volksmenge traf in Jeruselem ein, 250 000 (oder 270 000) Paschalämmer wurden an diesem Paschafeste des Jahres 66 geopfert, was die Zahl von mindestens 2 500 000 oder 2 700 00 Beteiligten ergab. Cestius Gallus war zu diesem Zwecke selbst in Jerusalem eingetroffen. Es war das Pascha der Erdrückung, weil bei der großen Menge, die der Tempelberg kaum fassen konnte, Erdrückungen unvermeidlich waren. Diese 2 700 000 oder drei Millionen Menschen in runder Zahl, die Josephus aufstellt, umstanden ihn und flehten ihn an, sie von Gessius Florus zu befreien. Das war eine gewaltige Volksdemonstration. Cestius Gallus durfte aber dennoch nicht die Amtsentsetzung des Prokurators vornehmen. Er wollte nur mit der statistischen Erfahrung, die er in Jerusalem bei dieser Gelegenheit gesammelt hatte, den Kaiser von der Notwendigkeit, Gessius Florus abzuberufen, überzeugen. Diese Absicht behielt er für sich. Das Volk aber tröstete er für den Augenblick mit der Versicherung, er werde sich bemühen, den Prokurator milder zu stimmen.

[819] Hätte Nero dieser Vorstellung seines Legaten Gehör gegeben, so wäre die Katastrophe von Jerusalem und dem Tempel für den Augenblick abgewendet worden. Unglücklicherweise hatte aber Nero bereits Öl ins Feuer gegossen. Ehe er noch den Bericht des Cestius Gallus in Händen hatte, hatte er schon den Streit um das Bürgerrecht in Cäsarea zwischen den Judäern und Heiden zugunsten der letzteren entschieden. Dadurch entstand ein Kampf in dieser Stadt in dem Monate, welcher auf das »Pascha der Erdrückung« folgte. Gessius Florus schürte das Feuer des Aufstandes noch mehr, um durch Niederwerfung desselben gegen Cestius Gallus Recht zu behalten. Die Volkszählung vermittelst der Paschalämmer fand demnach im Jahre der Revolution 66, einen Monat vor dem Ausbruche des Kampfes in Cäsarea und des dadurch herbeigeführten Aufstandes in Jerusalem, statt. Es war die letzte friedliche Demonstration gegen Rom.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1906, Band 3.2, S. 815-820.
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