17. Die Makkabäer-Psalmen.

[406] Es war ein kühner Griff für die Psalmenauslegung, die Stimmungen einiger Klage- oder Triumphpsalmen durch Vorgänge aus der Zeit der Makkabäerkämpfe zu erklären. So manche dunkle oder rätselhafte Wendung in denselben wird dadurch klar und verständlich. Der erste, welcher diesen Fund systematisch angewendet hat, war Esromi Rudinger, ein Jünger der ersten deutschen Reformatoren, welche eine rationelle Bibelexegese angebahnt haben. Einige Kirchenväter haben zwar auch hin und wieder manchen Psalm auf die Makkabäerzeit bezogen, Melanchthon hat ebenfalls manche Psalmen durch den makkabäischen Hintergrund erklärt, aber Rudinger hat diesen Weg mit Konsequenz verfolgt. Mehr als 20 Psalmen führte er auf diese Zeit zurück. Sein vierbändiges Werk lautet: libri Psalmorum paraphrasis latina (Görlitz 1581). Ihm folgten in dieser Erklärungsweise im vorvorigen Jahrhundert v.d. Hardt, Venema, und in dem verflossenen Jahrhundert nahmen sie wieder auf Bengel, Paulus, Bertheau und andere. Häsler, Hesse und de Jong schrieben eigene Monographien de psalmis Maccabaeorum. Hitzig überbot seine Vorgänger mit der Behauptung, daß sämtliche Psalmen vom Ps. 73 an, also die letzten drei Bücher des Psalters, der Makkabäerzeit angehören. Noch weiter ging Olshausen, welcher eine sehr große Zahl von Psalmen, besonders die Bitt- und Klagepsalmen, dieser Zeit vindiziert. Hitzig und Olshausen führen sogar die Psalmenliteratur bis auf die Zeit Jonathans und sogar Jochanan Hyrkanos' herab. Die Annahme von Makkabäer-Psalmen hat selbstverständlich auch starken Widerspruch erfahren. Besonders trat Gesenius aus seiner philisterhaften Anschauung von der Bibelliteratur heraus als Gegner derselben auf. Seine und anderer Einwendungen dagegen sind indes bereits widerlegt worden. Ein Argument jedoch, das Ewald zuerst gegen diese Hypothese geltend machte, und das auch für Hupfeld so überzeugend schien, daß auch er sich gegen Psalmen aus der Makkabäerzeit erklärte, ist indes, bei näherer Betrachtung, ebenso schwach wie die von Gesenius geltend gemachten. Dieses Argument stützt sich darauf, daß schon der Verfasser der Chronik die Fünfteilung des Psalters gekannt haben müsse, da (das. I, 16, 35) nicht nur zwei Psalmenfragmente aus dem vierten Buche, sondern auch die Schlußdoxologie zu diesem Buche zu Ps. 106 David in den Mund gelegt werden. Folglich müsse der ganze Psalter zur Zeit der Chronisten bereits abgeschlossen gewesen sein. Dieser Gegenbeweis steht aber auf schwachen Füßen. 1. Die Einteilung des Psalters in fünf Teile stammt erst aus späterer, nachchristlicher Zeit, als man im judäischen Kreise zum Behufe von homiletischen Vorträgen dem Pentateuch ein Seitenstück an dem Psalter gegeben hat. 2. Die Doxologie in der Chronik bildet keineswegs den Schluß zu Ps. 106, sondern zu Ps. 105, welcher im Psalter selbst sie nicht hat. 3. Die Doxologien kamen bei jedem Psalm vor, welcher im Tempel gesungen wurde; sie bilden eine Aufforderung an die Gemeinde, durch ihr »Amen, Amen« den Inhalt des Psalmes ihrerseits anzuerkennen [406] (vergl. darüber Monatsschr. Ig. 1872, S. 481 f. die Doxologien in den Psalmen). Es ist also nicht erwiesen, daß dem Chronisten bereits unsere ganze Psalmensammlung bekannt war, und ebensowenig, daß sie dem älteren Sirach bereits vorgelegen hat, weil ihm neben der Bekanntschaft mit dem νόμος und den Propheten noch die Kunde von anderen heiligen Schriften – τὰ ἄλλα – vindiziert wird. Die Beweisführung von dem Vorhandensein des hagiographischen Kanons zur Zeit Sirachs hat durchaus keine Beweiskraft, wie bereits an anderen Orten nachgewiesen wurde.

Es liegt also gar nichts vor, was gegen die Annahme von Makkabäer-Psalmen spräche. Aber darin muß Hupfeld zugestimmt werden, daß nur dann die makkabäische Zeitlage eines Psalmes mit Notwendigkeit folge, wenn jede andere Beziehung ausgeschlossen ist (Komment. zu Ps. IV, S. 457). Diese zwingende Notwendigkeit ist bisher nicht nachgewiesen worden. Ja, bei den meisten Psalmen, welche Hitzig und Olshausen der Makkabäerzeit vindizieren, drängt sich vielmehr die Annahme einer anderen geschichtlichen Beziehung auf. Der Gegensatz von םיקידצ oder םידיסח und םיעשר, welchen Olshausen als Kriterium für die Makkabäerzeit geltend macht, war schon früher, noch vor dem Falle des salomonischen Tempels vorhanden. Die Gemeinde der םיונע bildete sich schon unter den älteren Propheten. Will man Psalmen historisch für die genannte Zeit verwerten, sie als Quelle für die kampfreiche Epoche benutzen, um deren Stimmung und Vorgänge zu erkennen, so muß man eine strenge Beweisführung anwenden, daß nach der negativen Seite diese in keiner anderen Zeit gedichtet sein können, und daß sie nach der positiven diese Zeit nach allen Seiten hin reflektieren. Aber nicht bloß die Makkabäerzeit im allgemeinen, sondern ein bestimmter Zeitabschnitt in derselben, welcher durch einen individuellen Zug markiert ist, muß nachgewiesen werden, wenn die Beziehung überzeugend sein soll. Eine solche Beweisführung lassen selbstverständlich nur wenige Psalmen zu, welche hier vorgeführt werden sollen.

1. Psalm 44. Sein so zu sagen makkabäisches Gepräge ist so auffallend, daß schon die Kirchenväter Chrysostomus und Theodoret ihn auf diese Zeit bezogen haben, und auch Calvin. Die ganze Situation des Leidensstandes in derselben ist hier geschildert. V. 12, daß das Volk dem Schlachtvieh gleich geachtet wurde, V. 14-15, daß es den Nachbarn zur Schmähung und zum Gespötte diente, V. 17, daß der Feind Gott schmähte und lästerte, V. 20, daß treue Bekenner Gottes in die Wüste verstoßen waren, V. 23, daß sie um Gottes Willen den Tod erlitten haben, V. 24, daß ihnen ein fremder Gott aufgezwungen wurde. Die ganze Summe der Leiden faßt V. 25 zusammen. Das sind unverkennbare Züge aus der Leidenszeit – und zwar ehe noch Juda Makkabi entscheidende Siege errungen und die Tempelweihe vollzogen hatte. Noch deutlicher tritt der Hintergrund dieser Zeit heraus, wenn man den pointierten Gegensatz ins Auge faßt, was von den Auslegern nicht scharf genug beobachtet wurde. Der Psalmist stellte die alte Zeit der Eroberung des Landes in idealer Verklärung der Gegenwart gegenüber. Die Vorfahren haben das Land ohne Kriegsmacht eingenommen, denn Gott allein hat die es bewohnenden Völker mit seiner starken Rechten vertrieben. V. 3a ist bisher mißverstanden worden. םעטתו wird fälschlich auf die Israeliten bezogen, obwohl das unmittelbar vorangehende Objekt םיוג ist. Man muß dafür lesen םעסתו [vetisa'am] »du hast sie (die Völker) ausgerissen«. Dann ist auch der Parallelismus des V. abgerundet; denn םחלשתו kann nur bedeuten: »du hast sie (die Völker) vertrieben«. Die Bedeutung »ausbreiten« ist gegezwungen. [407] Also ךדי התא םחלשתו םימאל ערת םעסתו תשרוה םיוג. So ohne Waffen hat das Volk in alter Zeit das Land eingenommen, und so sollte Gott auch in der Gegenwart die Feinde aufreiben (V. 5-8). Leider, so klagt der Ps., ist es in der Gegenwart nicht so. Das Volk mußte zu den Waffen greifen und ist nicht glücklich im Kriege (V. 10-11). Um den Gegensatz voll heraustreten zu lassen, muß man (V. 10) ךא lesen statt ףא, das nur gezwungenerweise im Sinne von »und doch« ausgelegt wird. Der Psalmist erwartete also keine Rettung von den Waffen, sondern von Gottes wunderbarem Eingreifen. Mithin gehörte er der chassidäischen Partei an, welche zuerst waffenscheu war und gleich dem Verf. des Buches Daniel das Aufhören der Leiden auf wunderbare Weise erwartete. Dieses Wunder erfleht der Psalmist für das Volk. Alle die hier aufgeführten Momente passen auf keine Zeitlage der israelitischen Geschichte, nur einzig und allein auf die Makkabäerzeit, aber wohlverstanden noch vor den errungenen Siegen. Vielmehr deutet der Ps. an, daß allerdings eine Schar Kämpfer bereits zu den Waffen gegriffen, aber kurz vorher eine Niederlage erlitten hatte: אצת אל .רצ ינמ רוחא ונבישת - וניתואבצב

Abzuweisen ist daher die Annahme Hitzigs, der Ps. sei zur Zeit gedichtet worden, als die Unterfeldherrn bei Jamnia eine Niederlage erlitten hatten, und ebenso die Annahme Olshausens, er stamme aus der Zeit unmittelbar nach dem Tode Juda Makkabis. Denn der Ps. setzt voraus, daß der Feind noch immer Lästerung gegen Gott ausgestoßen hat, und das geschah lediglich von Antiochos Epiphanes. Der Ps. setzt ferner, wie schon gesagt, voraus, daß ein fremder Gott zur Verehrung aufgezwungen worden, und der Psalmist beteuert für sich und seine Partei, daß sie sich nicht einmal heimlich einer solchen Apostasie schuldig gemacht haben, wofür sie mit Recht Gottes Strafgericht hätte treffen müssen. In diesem Sinn sind V. 21-22 aufzufassen. Aber der Zwang, den Zeus Hellenios anzubeten bestand lediglich solange Antiochos lebte. Seine Nachfolger Eupator und Demetrios haben den Religionszwang aufgegeben und die Judäer nur als Aufständische bekämpft. Ps. 44 ist also zur Zeit gedichtet worden, als Juda Makkabi bereits eine Schar um sich gesammelt hatte, aber einmal vom Feinde geschlagen wurde. Das erste Makkabäerbuch erzählt zwar nicht von einer solchen Niederlage, aber das Stillschweigen ist kein Gegenbeweis. Diese Quelle berichtet nur von den Siegen und dem Aufschwung, und wo sie von Niederlagen spricht, will sie entweder die entscheidenden Folgen derselben nachweisen oder die Verschuldung aufdecken. Sollen die Makkabäer immer und immer gesiegt haben? Kleine Unfälle sind ohne Zweifel vorgekommen, aber der Verf., wenn er Kunde davon hatte, hielt es nicht der Mühe wert, davon zu sprechen, da sein Zweck nicht war, alle Begebenheiten annalistisch zu verzeichnen.

2. Psalm 74. Dieser Ps. spiegelt ebenso deutlich das ganze Pathos der Makkabäer-Zeit ab. V. 4, 5, 6, 7 sprechen von Verwüstungen am Tempel, V. 4, 23 von dem Wutgeschrei der Feinde bei der Verwüstung, V. 10, 18, 22 von der höhnischen Lästerung des Feindes, V. 8b vom Verbrennen sämtlicher Versammlungshäuser (Synagogen = לא ידעומ) im Lande, V. 19-20 von der allgemeinen Gedrücktheit und Verzweiflung, endlich V. 9 von dem völligen Erlöschen des Prophetentums und der dadurch entstandenen entmutigenden Ungewißheit. Beachtenswert ist V. 5 דחי היחותפ תעו »Jetzt eben haben sie allsamt ihre Pforten ... zerschlagen«; denn statt היחותפ muß man nach LXX. (τὰς ϑύρας) und Peschito (אערת) lesen: היחתפ, und das [408] Suffix bezieht sich wohl auf Stadt und Mauer. Das, was dagegen geltend gemacht wurde: שאב וחלש ךשדקמ, wolle aussagen, der Tempel sei verbrannt worden, was nicht auf diese Zeit passe, ist von keinem Gewichte, denn שאב וחלש ist nur eine Versetzung der Präposition für ךשקמב שא חלש; denn 'ב שא חלש kommt häufiger vor als שאב וחלש und dieses bedeutet »Feuer werfen an etwas«. Dieser Akt ist tatsächlich am Tempel geschehen, denn die Torflügel, welche von Zedernholz waren, sind wirklich verbrannt worden, die Mauern aber konnten nicht verbrannt werden. Man braucht daher nicht mit Hitzig und Olshausen den Einwand durch Unterscheidung von ἱερόν und ναός zu machen. Weist ja auch der zweite Halbvers darauf hin, daß hier nicht vom Zerstören des Tempels die Rede ist. Denn ךמש ןכשמ וללח ץראל bedeutet »verächtlich zertreten« wie Ps. 89, 40b: ורזנ ץראל תללח. Die ganze Schilderung bezieht sich also notwendig auf die makkabäische Zeitlage und auf keine andere.

Einige dunkle Ausdrücke kommen noch in diesem Verse vor, welche, wenn richtig erklärt, diese Beziehung noch mehr beweisen. V. 5 חלעמל איבמכ עדוי kann unmöglich die richtige L.-A. sein; denn sie widerstrebt allen Auslegungsversuchen. Man muß wohl dafür lesen: עורי, der Feind zertrümmerte, als wollte er in ein Baumgestrüpp Äxte bringen, d.h. er behandelte bei der Zertrümmerung das Heiligtum noch dazu mit Verächtlichkeit. Das tempus עורי wie ןומלהי. V. 6 ist Aorist ohne das Augmenta ו – V. 19 תיחל ןתת לא muß man lesen תומל, also ganz wie Ps. 44, 23 und 79, 11 התומת ינב, daß die Treuen dem Tode preisgegeben waren. – V. 20 ץרא יכשחמ kann auch nicht richtige L.-A. sein, sondern dafür wohl zu lesen ץרא יבחרמ. Auch V. 8 םנינ ist unstreitig eine Korruptel. Die makkabäische Zeitbeziehung dieses Ps. zugegeben, so kann er nur gedichtet sein, als Antiochos' Schergen und darunter Kallisthenes die Tore verbrannt und die Zellen und Hallen zerstört hatten (Makkab. I, 38; II, 8, 33).

3. Psalm 149. Auch dieser Psalm hat unstreitig einen makkabäischen Charakter. Nicht weil darin die םידיסח eine Rolle spielen, sondern weil die Chassidäer lobsingend und kämpfend vorgeführt werden (V. 5): םדיב תויפיפ ברחו םנורגב לא תוממור und eine zusammenstehende Partei bildeten: םידיסח להקב ותלהת, was doch unabweislich an συναγωγὴ Ἀσιδαίων der Makkab. erinnert (o. S. 250, Anm. 4). Er stammt also aus der Zeit, als die Chassidäer sich bereits und noch am Kriege beteiligt haben. Erwägt man, daß sie sich bereits unter Alkimos von den Kämpfen zurückziehen wollten, um ihrer friedlichen Beschäftigung zu leben, so kann man diesen Psalm unmöglich mit Olshausen und anderen in die Zeit des Hyrkanos setzen, sondern zur Zeit eines großen Sieges, an dem die Chassidäer noch teilgenommen haben. Der ganze Ps. atmet Jubel über einen errungenen Sieg über die Völker; er fordert auf, ein neues Lied Gott zu singen, und hegt die Hoffnung, daß die Zeit sich verwirklichen werde, in der das »Volk der Heiligen« die Könige in Fesseln schlagen werde, wie es das Buch Daniel verkündet hatte. Das Lied scheint den Sieg über Nikanor zum Hintergrunde zu haben.

4. Psalm 30. Diesem Psalm sieht man allerdings auf den ersten Blick seine Verwandtschaft mit Mak kabäerpsalmen nicht an. Scheinbar ist es das Danklied eines Genesenen für die Errettung von einer schweren Krankheit und dem Tode. Wäre nicht die Überschrift, daß der Psalm sich auf »Einweihung des Hauses« תיבה תכנח beziehe, so würde allerdings der Gedanke fern liegen, daß dieser so individuell und okkasionell ausgeprägte Ps. die makkabäische Zeitlage[409] reflektieren sollte. Aber die Überschrift gibt gerade wegen ihrer Seltsamkeit zu denken, ob nicht der äußere Schein auch hier trügt. Von den 12 Überschriften, welche die betreffenden Psalmen auf ein Faktum und zumeist auf eine Begebenheit in Davids Leben beziehen, paßt diese am allerwenigsten. Es ist darin auch nicht eine schattenhafte Spur von der Einweihung eines Hauses, sei es des Tempels oder des Palastes, zu bemerken. Wie kamen nun die Psalmensammler, welche die Überschriften vorangesetzt haben, auf den befremdenden Gedanken, den Psalm mit einer Einweihung in Verbindung zu setzen? So völlig gedankenlos werden sie doch schwerlich dabei verfahren sein! Sie müssen also, da sie die Beziehung unmöglich aus dem Inhalt entnommen haben können, sie aus der Tradition gehabt haben. Es muß in der Periode der nachexilischen Zeit eine Überlieferung in Umlauf gewesen sein, daß dieser Psalm bei der Einweihung des Tempels gebraucht worden ist. Denn, bemerken wir hier ein für alle Mal: der Ausdruck תיבה [habait] kann nichts anderes als der »Tempel«, das »Gotteshaus« bedeuten, und durchaus nicht der »Palast«. In der Erzählung von Salomos Bauten bedeutet stets תיבה schlechtweg »der Tempel«, der Palast dagegen wird durch den Ausdruck ותיב bezeichnet. Die Sammler der Ps. müssen also notwendigerweise einer Tradition gefolgt sein, daß Ps. 30 bei der Einweihung des Tempels gedient hat.

Auch aus anderen Momenten in diesem Ps. geht hervor, daß die Annahme, er habe seine Entstehung der Genesung des Dichters zu verdanken, nur Schein ist. Er dankt nämlich nicht bloß für die Errettung vom Tode, sondern auch für die Genugtuung, daß seine Feinde nicht Schadenfreude an ihm erlebt haben (V. 2) יל יביא תחמש אלו. Und deswegen sollen auch die Frommen Gott preisen (V. 5) רכזל ודוהו וידיסה 'הל ורמז ושדק. Nun, das Leben eines einzelnen kann doch unmöglich so wichtig sein, daß in der Erhaltung desselben Gottes besondere Gnade erkannt werden könne! Wenigstens durfte doch der Dichter sein Leben nicht so hoch schätzen. Selbst der König Hiskija, dessen Leben einen hohen Wert für das ganze Volk hatte, hat in seinem Dankliede die Errettung desselben nicht so hoch angeschlagen, daß er die Frommen aufgefordert hätte, dafür Gott zu preisen. Und daß der Psalmist ein König gewesen wäre, dazu gibt doch der Inhalt auch nicht einen schwachen Anhalt. Es ist also offenbar, daß der Psalmist, wenn man ihm nicht häßlichen Hochmut zur Last legen will, unter »Errettung, Leben«, nicht Genesung von einer Krankheit, sondern als Tropus verstanden wissen wollte, und nicht mißverstanden zu werden befürchtete. Für einen Tropus zeugt doch jedenfalls V. 7: טומא לב יולשב יתרמא ינאו םלועל; denn, vor einer Krankheit ist man doch wohl auch im größten Glücke nicht gefeit! Was soll also der Passus bedeuten: »in meinem Glücke meinte ich, ich werde nimmer wanken«? Das Verbum טומ, das ursprünglich vom Wanken der Erde bei einem Erdbeben gebraucht wird, hat nur tropische Bedeutung, zu Falle kommen, in ein großes Unglück geraten. In letzterem Sinne muß es hier gebraucht sein; denn es wird vorausgesetzt, daß Gott gezürnt hat, und darum sei das Unglück eingetroffen (V. 6): ופאב עגר יכ. Noch deutlicher ist diese Voraussetzung durch V. 8 bestätigt.

Diesen V. haben nämlich sämtliche Ausll. mißverstanden, weil sie übersehen haben, daß der Text nicht unverdorben sein kann. Der Parallelismus des V. hätte sie aber darauf führen müssen, daß es damit nicht geheuer sein kann:


זע יררהל תדמעה ךנוצרב 'ה a.

להבנ יתייה ךינפ תרתסה b.


[410] Sollte es ein antithetischer Parallelismus sein, so hätte b vor a stehen müssen, nämlich zur Not: »du hast dein Antlitz verborgen, ich war entsetzt, aber in deinem Wohlgefallen hast du meinen Berg der Stärke aufgestellt«. Ich sage, zur Not; denn daß תדמעה »aufrichten« bedeuten soll, ist schon ein Notbehelf, man würde eher תומקה erwarten oder gar ein anderes Verbum. Ohnehin ist es unpassend, von einer Errettung zu sagen: »du hast meinen mächtigen Berg aufgerichtet«. Nun steht gar dieser Halbvers voran. Es ist also gar nicht daran zu denken, daß er diesen Sinn haben kann. Er ist vielmehr korrumpiert. Nämlich ךנוצרב steht für ךנורחב, wie Genes. 49, 6: םנוצרבו statt םנורחב, Parall. zu םפאב. Ferner תדמעה steht statt תדעמה wie Ezech. 29, 7b םינתמ לכ םהל תדמעה (LXX συνέκλασας, Pesch. תלרעו; vergl. Raschi und Kimchi z. St.), יררה [hareri] ist ohnehin eine Unform; es muß entschieden dafür gelesen werden זע יררהל [leharerei...] oder vielleicht gar: דע יררהל. Also זע יררהל תדעמח ךנורחב 'ה. »In deinem Zorn hast du die Berge der Macht wankend gemacht.« Gottes Unwille hat es herbeigeführt, daß ein bedeutender Unfall eingetreten ist.

Nach dieser Richtigstellung können sich die Klage und der Dank des Psalmes unmöglich auf das Geschick einer Einzelpersönlichkeit beziehen, sondern sie müssen ein allgemeines nationales Interesse zum Hintergrunde haben. Der Psalmist läßt die Nation in der ersten Person sprechen, wie Ps. 124 und 129, wobei freilich das redende Subjekt durch אנ רמאי לארשי angedeutet ist, aber auch 123 und mindestens 118 auch ohne diese Andeutung. Die Nation spricht demnach, wie Olshausen es richtig aufgefaßt hat: »Ich verherrliche dich J., weil du mich herausgezogen und meinen Feind nicht hast über mich triumphieren lassen ... Ich meinte in meinem Glücke, ich werde nie mehr zu Falle kommen, aber du hast in deinem Zorne die festen Berge wankend gemacht, hast dein Antlitz verhüllt, und ich war entsetzt. Da rief ich zu dir« usw. Selbstverständlich müssen die Verba .. ארקא 'ה ךילא ןנחתא als Aoriste verstanden werden. So richtig Olshausen und falsch Hupfeld. Unzweideutig genug hat bei demselben Worte das Imperf. diese Tempus-Beziehung Ps. 3, 5: יננעיו ארקא 'ה לא ילוק; 18, 4, 7: יל רצב ארקא u.a. St. – »Und dieses Gebet hat Gott erhört, meine Trauer in Tanz verwandelt, damit meine Seele dich stets preisen kann.« Statt דובכ zu lesen ידובכ, in der Bedeutung von Seele. So richtig Hupfeld z.d. Ps.

Der Inhalt setzt demnach keineswegs die Genesung von einer Krankheit voraus. Einige Ausleger haben sich zu dieser Annahme durch das Verbum ינאפרתו verleiten lassen. Es hat aber an verschiedenen Stellen die erweiterte Bedeutung »von Gefahr erretten«. Der Inhalt setzt vielmehr voraus, daß die Nation in Todesnöten war (רוב ידרימ..לואש ןמ), daß sie im Vertrauen auf ihren Wohlstand Gottes Zorn provoziert hat, und dadurch sind auch die festesten Stützen ins Schwanken geraten. Aber Gottes Zorn dauerte nur einen Augenblick (V. 6 ופאב עגר); mit seiner Gnade hat er das Leben der Nation erhalten (ונוצרב םייח), und der Wechsel folgte rasch: abends in Tränen und des Morgens schon in Jauchzen. Diesen Wechsel hat Gott auf das Flehen der Nation eintreten lassen, damit sie, welche zur Verherrlichung Gottes bestimmt ist, ihn ewig preisen könne. – Nach dieser einzig richtigen Auseinandersetzung des Inhalts erkennt man, daß die Überschrift diesen Ps. richtig als »Lied zur Einweihung des Tempels« bezeichnet hat. Nur in der Makkabäerzeit und in keiner anderen kann er gedichtet sein. Er gibt die Stimmung vollkräftig wieder, welche im Gemüte der Frommen herrschte, als sie den raschen [411] Wechsel erlebten. Kurz vorher war die Schar der Kämpfer noch bei Bethsur bedrängt, und gleich darauf war der grimmige Feind, welcher Israel den Garaus zu machen beabsichtigt hatte, so geschlagen und entmutigt, daß die Einweihung des Tempels stattfinden konnte. Der Ps. ist mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der makkabäischen Tempelweihe gesungen worden. Auf die Einweihung des Heiligtums unter Serubabel kann sich der Ps. unmöglich beziehen, da damals die Nation keineswegs in Todesnöten war.

5. Psalm 1. Auch dieser Psalm scheint makkabäisch oder vormakkabäisch zu sein, als sich die Feindseligkeit zwischen den Hellenisten und Chassidäern zuspitzte. Nicht etwa weil darin die םיקידצ und םיעשר gegensätzlich dargestellt sind – ein solcher Gegensatz bestand schon früher –, sondern weil die Frommen noch dadurch charakterisiert werden, daß sie sich emsig Tag und Nacht mit der Thora beschäftigen. וצפח 'ה תרותב (V. 2) bedeutet »sein Wohlgefallen, sein ganzes Interesse, seine Freudigkeit an der Thora haben, wie Makkab. I. (1, 57): εἴ τις συνευδόκει τῷ νόμῳ, d.h. הרותב ץפח םא, wenn sich jemand mit dem Gesetze beschäftigte, darin zu lesen oder es zu lehren, sollte er dem Tode verfallen. Auch הלילו םמוי הגהי ותרותבו bedeutet in der Thora lesen. Das waren also ganz andere םידיסח oder םיקידצ als die vorexilischen, sie waren zugleich Gesetzeskundige und Gesetzeslehrer. Solche gab es erst in der Zeit nach Esra und Nehemia. Man erwäge noch, daß die םיעשר hier noch dazu als םיצל charakterisiert werden, als leichtsinnige Spötter, welche sich über die Frommen lustig machten. Die Frommen dagegen waren nach dem Inhalt des Psalmes in eine geschlossene Gemeinde gruppiert und hielten zusammen. Sie bildeten םיקידצ תדע (vergl. B. II. 1. Hälfte, S. 407). Rudinger bezeichnete daher mit Recht diesen Psalm als makkabäisch.

Außer diesen vier oder fünf Psalmen erweist sich sonst keiner mit exegetisch-historischer Notwendigkeit als makkabäischer. – Ps. 83 schmeichelt sich zwar förmlich als ein makkabäischer ein –, wenn nur רושא nicht darin genannt wäre! Die Ausdeutung derer, welche ihn in diese Zeit setzen, daß unter Assyrien Syrien zu verstehen sei, ist ein zu schlechter Notbehelf. Auch paßt es durchaus nicht; denn in dem V. םג םמע הולנ רושא liegt doch der Sinn, daß sich das betreffende Volk den übrigen Feinden Israels lediglich angeschlossen hat, d.h. mit ihnen in zweiter Reihe gegangen ist, während in den Makkabäerkämpfen die Assyrier, d.h. Syrer doch in erster Reihe die Israeliten verfolgt haben. In diesem Ps. erscheinen dagegen als Hauptfeinde Ammon und Moab (V. 9): ינבל עורז ויה טול. Die früher genannten Völker – und Aschur mit einbegriffen – waren lediglich der Arm für die Lotiden. Nun ist es möglich, daß רושא gar eine Korruptel ist, vielleicht für רושג. Dann müßte dieser Volksstamm damals noch existiert haben, was aber erst recht die Makkabäerzeit ausschließen würde. Außerdem spricht gegen diese Zeit, daß der Psalmist doch im Grunde die Bekehrung der Feinde zum Gott Israels erfleht (V. 17b): 'ה ךמש ושקבי, (V. 19): התא יכ ועדיו 'וגו ךמש. Ein solcher propagandistischer Wunsch ist aber der Situation der Makkabäerzeit wenig angemessen. Kurz, ohne Zwang läßt sich der makkabäische Charakter dieses Ps. nicht durchführen. – Ps. 80, den mehrere als solchen stempeln, ist sicherlich nicht makkabäisch, sondern setzt die ägyptische Vasallenschaft unter Necho voraus (vergl. Monatsschrift Jahrgang 1874, S. 391 f.). Ps. 66, dessen zweite Hälfte mit der zweiten Hälfte von Ps. 108 übereinstimmt, stammt noch viel weniger aus dieser Zeit. Allenfalls könnten die Hallel-Psalmen 115 bis [412] 118 dieser Zeitlage entstammen, aber es liegt keine zwingende Notwendigkeit vor. Dasselbe gilt von Psalm 144. Nur dürfte man beide nicht in so späte Zeit, etwa unter Johanan Hyrkanos setzen, sondern, wenn man die große Gefahr erwägt, von welcher in beiden gesprochen wird, so konnten sie allenfalls der Zeit der ersten Makkabäerkämpfe angehören. Über Ps. 79 II. 1. Hälfte, S. 365.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1902], Band 2.2, S. 406-413.
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