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[271] Messianische Spannung in den Gemütern. Verschiedene Auffassungsweisen von dem erwarteten Messias. Das essäische Himmelreich. Johannes der Täufer, sein Wirken, seine Gefangennahme. Jesus von Nazaret setzt Johannes' Werk fort. Seine Geburtsgeschichte. Seine Wirksamkeit, sein Verhalten zum Judentume und zu den Parteien. Seine wundertätige Krankenheilung und seine Austreibung der Dämonen. Sein geheimes Auftreten als Messias. Seine Reise nach Judäa. Anklage gegen ihn und seine Verurteilung. Die christliche Urgemeinde und ihre Vorsteher; die Ebioniten. Pilatus' Entfernung aus Judäa. Vitellius, Statthalter von Syrien, günstig gegen die Judäer gestimmt.
Während Judäa noch zitterte bei dem Gedanken, daß der Landpfleger Pontius Pilatus irgend einen neuen Streich der Gewalttätigkeit ausführen könnte, der neue Aufregung und neue Leiden zur Folge haben würde, rang sich eine Erscheinung ins Leben, die in ihren Anfängen so klein war, daß sie nach ihrer Geburt kaum beachtet wurde, die aber durch die eigentümliche Art des Auftretens und durch die Gunst der Umstände allmählich einen so gewaltigen Anlauf nahm und eine so riesige Macht erlangte, daß sie der Weltgeschichte neue Bahnen vorzeichnete. Es war nämlich die Zeit gekommen, in welcher die Grundwahrheiten des Judentums, bisher gebunden und nur von Tieferdenkenden in ihrem wahren Werte erkannt, sich der Fessel entschlagen und frei hinaustreten sollten, die Völker der Erde zu durchdringen. Die Fülle hehrer Gedanken von Gott und einem heiligen Leben für den Einzelnen, wie für den Staat, die den Grundkern des Judentums ausmachen, sollte in die Leerheit anderer Völker überströmen und diesen einen reichen Inhalt bringen. Israel sollte seine Aufgabe: Lehrer der Völker zu werden, ernstlich zu verwirklichen anfangen. Sollte die uralte Lehre von Gott und dem sittlich-göttlichen Leben des Menschen bei der gottentfremdeten und entsittlichten Heidenwelt Eingang finden, so mußte sie neue Namen und neue Formen annehmen, wenn die Gemüter und Geister dafür empfänglich werden sollten, weil das Judentum in seinem ausgeprägten Wesen mit seinem alten Namen im allgemeinen unter den Heiden nicht beliebt war. Die neue Erscheinung, die unter [271] Pilatus' Landpflegerschaft auftauchte, war es nun, welche eine größere, innigere Teilnahme der Heidenwelt an der Lehre des Judentums anbahnen sollte. Aber diese Erscheinung trat durch Aufnahme fremder Elemente, durch Selbstentfremdung und Entfernung von ihrem Ursprung bald in einen schroffen Gegensatz zu diesem. Die judäische Religion, welche diese Geburt in die Welt gesetzt, konnte keine Mutterfreuden an ihr haben, weil die Tochter sich bald unfreundlich von ihrer Erzeugerin abwandte und Richtungen einschlug, wohin zu folgen dieser unmöglich war. Wollte das Judentum nicht seinen eigentümlichen Charakter abstreifen und seinen uralten Überzeugungen untreu werden, so mußte es einen schroffen Gegensatz zu dem von ihm selbst Erzeugten einhalten. Daher hat denn auch die leichte schmerzlose Geburt des zu großen Dingen aufbewahrten Kindes dem Judentum hinterher Schmerzen und Drangsale in Fülle gebracht, wodurch es eine geraume Zeit hindurch beinahe verkümmerte. Diese neue Erscheinung, diese alte Lehre in neuem Gewande, oder richtiger dieses mit fremden Elementen versetzte Essäertum ist das Christentum, dessen Entstehung und erster Verlauf in diese Zeitepoche der judäischen Geschichte fallen.
Das Christentum verdankt seinen Ursprung einem überwältigenden, dunkeln Gefühle, das die höheren Schichten der judäischen Nation beherrschte, und das mit jedem Tage mächtiger wurde, je unbehaglicher und unerträglicher sich der politische Zustand mit seinen Folgen gestaltete. Die gehäuften, täglich sich erneuernden Leiden, welche die Schonungslosigkeit der Römerherrschaft, die Schamlosigkeit der herodianischen Fürsten, die Feigheit und Kriecherei der judäischen Aristokratie, die Selbstentwürdigung der hohenpriesterlichen Familien, die Zwietracht der Parteien erzeugten, hatten die Sehnsucht nach dem in den prophetischen Verkündigungen verheißenen Erlöser, nach dem Messias, in einem so hohen Grade gesteigert, daß es jedem höher Begabten leicht gelingen konnte, messianisch-gläubige Anhänger zu finden, wofern er nur, sei es durch seine äußere Erscheinung, sei es durch seine sittlich-religiöse Haltung für sich einzunehmen verstand: Waren die tieferen Geister ja ohnehin gewöhnt, den ganzen politischen Zustand, wie er sich nach dem babylonischen Exil gestaltete, als einen nur vorübergehenden, als eine bloße Vorbereitung zu betrachten, bis der wahre Prophet erscheinen, bis Elia wiederkommen werde, die Herzen der Väter mit den Herzen der Kinder zu versöhnen und die Stämme Jakobs wiederherzustellen1 Als das Volk in feierlicher Weise den Hasmonäer Simon zum Fürsten [272] erkor (o. S. 57), bestimmte es seine und seiner Nachkommen Herrschaft nur auf Zeit, bis zum Erscheinen des treuen Propheten, der die Königswürde dem wieder zuwenden würde, dem sie gebührt, und sie gebührte von Rechts wegen nach dem Ausspruche der Propheten dem Geschlechte Davids, dem Gesalbten (Maschiach). Als die gewaltige Erschütterung im römischen Reiche erfolgte und die drei trotzigen Gewaltmänner Octavian, Antonius und Lepidus scheinbar Cäsars Mörder züchtigen, im Grunde aber eine neue Staatsform in Rom einführen wollten und jeder sich selbst zum Alleinherrscher aufzuwerfen trachtete, als blutige Kriege alle drei Erdteile in Zuckungen versetzten, da erwartete ein judäischer dichterischer Schwärmer in Ägypten eine ganz andere Umwälzung, den Untergang der ganzen götzendienerischen Welt und den Anbruch des »Reiches Gottes«. In diesem Reiche werde ein heiliger König, der Messias, das Zepter führen:
»Wenn aber Rom dereinst auch herrschet über Ägypten
Und es zusammen regiert, dann wird das größte der Reiche
Des unsterblichen Königs unter den Menschen erscheinen.
Und es kommt ein heiliger König, die Länder der Erde
Alle beherrschend, alle Zeiten hindurch, wie die Zeiten hinschwinden.
Die messianische Zeit, die so bestimmt erwartet wurde, sollte eine ganz neue Ordnung herbeiführen, gewissermaßen »einen neuen Himmel und eine neue Erde« herstellen. Mit dem Erscheinen Elias, welcher des Messias Vorläufer sein sollte, werde die Auferstehung der Toten eintreten und eine zukünftige Welt sich gestalten. Die Thisbiten pries der Spruchdichter Sirach: »Glücklich, die Dich sahen und die entschlafen sind; denn auch wir werden des (ewigen) Lebens leben«2.
[273] Die messianische Spannung beherrschte also die Gemüter in den mittleren Schichten der Nation mit Ausnahme der Aristokraten und der Römlinge, welche mit der Gegenwart zufrieden waren und von einem Wechsel der Dinge eher Unheil zu fürchten, als Heil zu erwarten hatten. Daher traten denn auch innerhalb des kurzen Zeitraumes von dreißig Jahren eine Reihe schwärmerischer Männer auf, welche ohne betrügerische Absicht, nur dem inneren Drange folgend, das Joch der Leiden vom Nacken der Nation abzuschütteln, sich als Propheten oder als Messiasse ausgaben und Gläubige fanden, die [274] ihren Fahnen bis in den Tod treu blieben. So leicht es aber auch war, messianisch-gläubige Anhänger zu finden, so schwer war es, sich bei der ganzen Nation als Auserwählter geltend zu machen und zu behaupten. Die Erkenntnis war durch die vielfachen Reibungen und die Vertiefung in die heiligen Bücher zu sehr geweckt, das Volk zu sehr in Parteien gespalten, von denen jede andere Ansprüche an den künftigen Erlöser stellte, als daß eine mit Mes sias-Zeichen auftretende Persönlichkeit die ganze Nation hätte befriedigen können. Die republikanischen Zeloten, die Jünger Judas des Galiläers, erwarteten zunächst, der Messias werde die Feinde Israels mit dem Hauche seines Mundes besiegen, dem Römerreiche ein Ende machen und das goldene Zeitalter davidischer Regierung wiederherstellen. Die Schammaïten mochten zu diesem Bilde vom Messias noch die äußerst peinliche Religiosität und die tiefste Sittenreinheit hinzufügen. Die Hilleliten, minder politisch und minder fanatisch, dachten sich wohl unter dem Messias einen Friedensfürsten für die inneren und äußeren Reibungen. Sie alle waren aber darin einig, daß der Messias aus davidischem Geschlechte entstammt sein müsse, wie denn der Ausdruck Sohn Davids (Ben David) im Laufe der Zeit gleichbedeutend mit Messias geworden war. Die messianische Erfüllung müsse sich, so glaubte man damals allgemein, auch bewähren durch das Heimkehren der in alle Enden zerstreuten Stämme Israels, reich von den Völkern mit Geschenken beladen, als Sühne für die ihnen auferlegten langen Leiden. Selbst die Gebildeten, welche vom griechischen Geiste angehaucht waren, als deren Hauptrepräsentant der judäische Platoniker Philo gelten kann, statteten die zukünftige Zeit der Herrlichkeit mit Wundern aus. Eine übermenschliche Erscheinung, nur den Frommen sichtbar, werde die verbannten und reuigen Nachkommen Israels aus griechischen und barbarischen Landen heimführen3. Die messianische Zeit werde auch, so dachten die Gebildeten, die judäische Nation innerlich dazu vorbereitet finden, in altpatriarchalischer Lebensheiligkeit und in gehobener Gesinnung, die keinen Rückfall mehr in die alte Sündhaftigkeit zuließe, und der göttlichen Gunst teilhaftig. Dann würden die Gnadenquellen ehemaliger Glückseligkeit aus ewigem Born wieder fließen, die verödeten Städte wieder erstehen, die Wüste in fruchtbares Land verwandelt werden und das Gebet der Lebenden würde die Kraft haben, die Hingeschiedenen wieder zu erwecken4.
[275] Am meisten idealisch malten sich wohl die Essäer den Messias und die messianische Gnadenzeit aus, sie, deren ganzes asketisches Leben nur dahin zielte, das Himmelreich (Malchut Schamajim) und die kommende Zeit (Olam ha-Ba) zu fördern. Ein Messias, der die Zuneigung der Essäer gewinnen wollte, müsse ein sündenfreies Leben führen, der Welt und ihrer Nichtigkeit entsagen, Proben ablegen, daß er des heiligen Geistes (Ruach ha-Kodesch) voll sei, müsse Gewalt über die Dämonen besitzen und einen Zustand der Gütergemeinschaft herbeiführen, in welchem der Mammon nichts gelte, dagegen Armut und Hablosigkeit die Zierde der Menschen seien5.
Von den Essäern ging auch in dieser Zeit der erste Ruf aus, der Messias müsse in kurzer Zeit erscheinen, »das Himmelreich sei nahe«. Derjenige, welcher seine schwache Stimme zuerst in der Wüste erhob, dachte aber nicht daran, daß sie weithin über Länder und Meere erschallen und die Völker der Erde um das Panier eines Messias scharen würde. Er verkündete das Himmelreich nur, um die Sünder im judäischen Volke zur Buße und Besserung einzuladen. Er mochte glauben, wenn dieser erste Schritt von seiten Israels geschehen sein würde, werde Gott den Sohn Davids, der, wenn auch nicht gegenwärtig, doch vorhanden sei, senden, dem Volke das messianische Heil zu bringen und die Toten zu erwecken. Der Essäer, welcher diesen Aufruf ergehen ließ, war Johannes der Täufer (wohl nichts anderes als der Essäer, d.h. der täglich in Quellwasser Leib und Seele reinigt). Es sind nur wenig Nachrichten über Johannes auf uns gekommen6. Seine Jugendgeschichte, daß er der Sohn eines Priesters Zacharias gewesen, welchen die bereits betagte Frau Elisabeth ihrem ebenfalls alten Gatten geboren, und daß er aus der Priesterklasse Abia gewesen, sowie andere seiner Geburt vorangegangene und nachfolgende Wunder7, sind spätere Dichtungen; das einzig Geschichtliche [276] in dieser Darstellung ist wohl der Zug, daß Johannes ein Nasiräerleben geführt, d.h. zu den Essäern gehört hat. Seine Lebensweise [277] war in der Tat ganz nach essäischem Zuschnitte. Er nährte sich von Heuschrecken und wildem Honig und trug die Tracht der alten Propheten, ein Kleid von Kamelhaaren und einen Gürtel von Leder. Johannes scheint von der Überzeugung belebt gewesen zu sein, daß, wenn erst das ganze judäische Volk sich im Jordan unter Bekenntnis seiner Sünden baden, d.h. die essäische Lebensregel annehmen werde, die verheißene Messiaszeit nicht ausbleiben könne. Daher lud er das Volk ein, die Taufe im Jordan zu nehmen, die Sünden zu bekennen und abzulegen und so auf das baldige Herannahen des Himmelreiches gefaßt zu sein.
Johannes mag wohl mit andern Essäern in der Wüste, in der Nähe des toten Meeres seinen beständigen Aufenthalt gehabt haben, um zu jeder Zeit bereit zu sein, Bußfertige über die tiefere sittliche Bedeutung der Wassertaufe zu belehren. Sicherlich war damit die Aufnahme in den Essäerorden verbunden, vielleicht ohne die strenge Regel der Enthaltsamkeit von allem Unreinen und ohne Teilnahme an der Gütergemeinschaft. Es werden sich wohl nicht wenige gefunden haben, tiefere, schwärmerische Gemüter, Überdrüssige an der Jämmerlichkeit der Gegenwart, die zu dem essäischen Täufer hinausströmten. Wer wollte nicht zu dem großen Werke der Erlösung und der Förderung des Himmelreiches beitragen, wenn es durch etwas erreicht werden konnte, das im Kreise des Hergebrachten und Gewohnten lag! Ob die Menge gebessert von der Jordantaufe heimkehrte, und ob der symbolische Akt einen tieferen, sittlichen Eindruck hinterlassen hat, darüber fehlen uns zwar Nachrichten, aber die Frage läßt sich aus der Erfahrung leicht beantworten. Im ganzen brauchte das judäische Volk, namentlich in den mittleren Schichten der Städtebewohner, gar nicht dieser krampfhaften Erschütterung zu innerer Besserung; es war keineswegs so lasterhaft und entartet, und die Mittel, welche ihm die ausgeprägte Religionsform reichte, waren hinlänglich, es auf dem Wege des Guten zu erhalten. Zu keiner Zeit war die Opferbereitwilligkeit der Massen größer als in dieser, und dies setzt einen regen Sinn und eine gute Gesinnung voraus. Wenn Leidenschaftlichkeit den einen oder den andern zu Vergehungen oder Verbrechen hinriß, so liegen ja solche Ausschreitungen in der menschlichen Schwäche. Nach zwei Seiten hin hätte vielleicht Johannes' Aufruf zur Bußfertigkeit heilsam wirken können: nach oben und nach unten, auf die durch die Römer verderbten judäischen Aristokraten und Reichen und auf das durch die vielfachen Kämpfe verwilderte Landvolk. Aber die Großen verlachten wohl den gutmütigen Schwärmer, welcher durch die Jordantaufe das Wunder der messianischen Zeit herbeizuführen gedachte, und die Söhne [278] der Scholle (Am ha-Arez) waren viel zu stumpfsinnig, um dem Rufe zur Besserung zu folgen.
Johannes' Aufruf war auch viel zu harmlos und ging zu wenig über den Kreis gewohnter Vorstellungen hinaus, als daß er Anstoß bei der herrschenden Partei der Pharisäer hätte erregen können. Die Jünger, die sich ihm näher angeschlossen und die Lebensweise des Meisters fortgeführt haben, beobachteten das Gesetz in aller Strenge und fügten sich sogar den äußerlichen Fastengeboten8. Wenn die Pharisäer, d.h. in der damaligen Zeit die Hilleliten und Schammaïten, auch nicht sehr von der essäischen Schwärmerei und Übertreibung eingenommen waren, so befanden sie sich doch mit den Morgentäufern in keinem Gegensatze. Schwerlich wird also der Täufer mit den Trägern der Religion angebunden haben, um sie »Otterngezücht« zu nennen, »welches dem Zorn des jüngsten Gerichtes nicht entgehen werde«9. Von dieser Seite her hatte Johannes wohl kein Hindernis für seine Wirksamkeit; aber die Herodianer waren argwöhnisch gegen einen Mann, der soviel Volkszudrang hatte und der durch Schlagwörter, welche die Herzen aufs tiefste berührten, die Menge zu jeder Unternehmung hätte hinreißen können. Herodes Antipas, in dessen Gebiet Johannes sich aufgehalten, soll seine Trabanten abgesandt haben, ihn gefangen zu nehmen und in Haft zu bringen10. Ob er längere Zeit im Kerker geblieben und noch erlebte, wie einer seiner Jünger als Messias gehalten worden, wie man sich später erzählte11, das alles ist wegen der Unzuverlässigkeit der Quellen zweifelhaft. Gewiß ist es aber, daß ihn Antipas enthaupten ließ. Ein ausschmückender Zusatz, der den Tod des Täufers noch tragischer und interessanter zu machen den Zweck hat, berichtet, daß ihn Antipas gegen seinen Willen dem Tode geweiht und nur seiner Gemahlin Herodias aus Schwäche nachgegeben habe, welche den strengen Tadler ihrer gesetzlosen Ehe mit dem Schwager gehaßt. Herodias habe nämlich ihre Tochter überredet, wenn der Vater an seinem Geburtstage ihr einen Wunsch werde erfüllen wollen, sich das Haupt des Johannes auszubitten, das Mädchen [279] habe darauf der Mutter das blutige Haupt des Täufers auf einer Schüssel überbracht12 – lauter sagenhafte Züge.
Nach des Täufers Gefangennahme haben einige seiner Jünger sein Werk fortgesetzt13, unter denen keiner einen so gewaltigen Erfolg hatte wie Jesus aus Galiläa. Der Jünger wurde bald größer als der Meister und gab den ersten Anstoß zu einer Bewegung, welche der Weltgeschichte eine ganz andere Gestalt verlieh und durch tausend Verkettungen die tiefsten Veränderungen in Denkweise und Sitten, in Kunst und Wissenschaft, in Einzelverhältnissen wie in großen Staatskreisen hervorbrachte. Noch nie genoß ein Weibgeborener eine so schwärmerische göttliche Verehrung Jahrtausende lang. Er verdunkelte mit seinem Glanze die Eroberer und Gründer großer Reiche; ja Eroberer und Gründer, Helden und Kraftgeister beugten in Demut ihr Knie vor ihm. Zwei Galiläer, Juda und Jesus, sollten zwei entwickelungsfähige Lehren, der eine das Pharisäertum, der andere das Essäertum, in neue Bahnen führen.
Jesus (Jeschu abgekürzt von Jeschua, geb. um 4 vor Chr.) aus Nazaret14, einem Städtchen in Niedergaliläa südlich von Sepphoris, war der erstgeborene Sohn eines sonst unbekannten Zimmermeisters Joseph, von seiner Frau Mirjam oder Maria, den sie mit noch vier Söhnen Jacob, Jose, Simon und Juda und einigen Töchtern geboren hatte15. Ob Joseph, Jesu Vater, oder seine Mutter von davidischem Geschlecht abstammte, ist geschichtlich durchaus unerwiesen, obwohl seine judäischen Anhänger sich später Mühe gaben, seinen Stammbaum aufzustellen und bis David hinauf zu führen. Da aber ihre Berichte einer sicheren Grundlage entbehren, so enthalten sie über Jesu oder Josephs Abstammung arge Widersprüche. Auch hatten seine judäischen Bekenner sich bemüht, Jesus in Bethlehem des Stammes Juda, dem Wohnorte der davidischen Familie, geboren werden zu lassen, aber eben so vergeblich und mit Verstoß gegen anderweitige [280] Angaben. Aus Jesu Jugendzeit ist auch nicht eine einzige zuverlässige Nachricht bekannt, nur eine trübe Quelle will wissen, er habe bereits im zwölften Jahre bei einem Besuche seiner Eltern im Tempel mit den Lehrern der Nation tiefe Unterredungen gepflogen, worüber alle erstaunt gewesen seien16.
Das Maß seiner Kenntnisse läßt sich nur aus dem Bildungszustande seines engeren Vaterlandes Galiläa einigermaßen ermitteln. Die Galiläer, von der Hauptstadt und dem Tempel entfernt und noch dazu damals durch das Zwischenland Samaria am öfteren Tempelbesuche verhindert, standen in Kenntnissen und Gesetzeskunde weit hinter Judäa zurück17. Der lebendige Austausch der religiösen Gedanken und der Gesetzesdiskussionen, welche für die Tempelbesucher Lehre und Schrift zum Gemeingut machten, fehlte in Galiläa. Das Land, welches später die großen Hochschulen Uscha, Sepphoris und Tiberias besitzen und die letzten Blüten der Gesetzesentwickelung in Palästina treiben sollte, war vor der Tempelzerstörung arm an kenntnispflegenden Anstalten. Aber dafür waren die Galiläer streng und zähe in Gebräuchen und Sitten, sie ließen sich nicht ein Titelchen wegklügeln; auch das, was in Judäa für erlaubt galt, gestatteten sich die Galiläer nicht. Die galiläische Sittenstrenge erlaubte nicht dem verlobten Paar vertrauliches Zusammensein und andere Freiheiten, welche in Judäa ohne Anstoß geschehen durften18. Hier galt es für gestattet, am Vormittag des Rüsttages des Passah-Festes zu arbeiten, die Galiläer dagegen feierten ihn schon von des Morgens an19. Sie waren als jähzornig und rechthaberisch verrufen20. Von der heidnischen Nachbarschaft der Syrer hatten die Galiläer allerhand Aberglauben angenommen. Es gab in Galiläa so viele Besessene, von bösen Geistern Geplagte, weil die galiläische Beschränktheit die Krankheitsformen dem Einfluß der Dämonen zuschrieb. Wegen der Nachbarschaft mit Syrien war auch der galiläische Dialekt verdorben und mit aramäischen Elementen vermischt. Die Galiläer vermochten das Hebräische nicht rein auszusprechen, verwechselten und verwischten die Kehllaute so sehr, daß sie sich öfter den Spott der Judäer zuzogen, welche viel auf eine korrekte Aussprache hielten. Man erkannte den Galiläer am ersten Worte, das er sprach, und ließ daher Galiläer nicht gern zum Vorbeten [281] zu, weil ihre verwahrloste Aussprache Lachen erregte21. Jesu Geburtsort Nazaret bot nichts Besonderes dar; es war ein kleines Gebirgsstädtchen und keineswegs fruchtbarer als die übrigen Teile von Galiläa und hielt keinen Vergleich mit dem quellenreichen Sichem aus. In der Nähe befindet sich ein kleiner Hügel, von wo aus man die naheliegenden Kuppen, aber keineswegs das Meer oder den Jordan sehen kann22.
Vermöge seiner galiläischen Abstammung kann Jesus unmöglich auf der Höhe der Gesetzeskunde gestanden haben, wie sie die Schulen Schammaïs und Hillels in Judäa heimisch gemacht hatten. Er war mit dem geringen Maß seiner Kenntnisse und der verwahrlosten, halbaramäischen Sprache seiner Heimat auf Galiläa angewiesen. Was ihm indessen an Kenntnissen abging, das ersetzte bei ihm das Gemüt. Tiefsittlichen Ernst und Lebensheiligkeit muß er besessen haben. Das klingt aus allen den Äußerungen heraus, die sich als echt bewähren23, [282] es tönt sogar aus den entstellten Lehren heraus, welche seine Anhänger ihm in den Mund legten. Jesu Sanftmut und Demut erinnern an Hillel, den er sich überhaupt zum Muster genommen zu haben scheint, und dessen goldenen Spruch: »Was du nicht willst, daß man dir tue, tue auch anderen nicht« er zum Ausgangspunkt seiner Lehren machte24. Wie Hillel betrachtete Jesus die Friedfertigkeit und Versöhnlichkeit [283] als die höchste Tugend. Gewiß ist ihm kein Fluch gegen seine Feinde entfahren, und seine übertreibenden Verehrer taten ihm wohl Unrecht, wenn sie ihn Flüche ausstoßen ließen, oder ihm lieblose Worte gegen seine eigene Mutter in den Mund legten. Er mag in den leidenden Tugenden das Ideal erreicht haben, welches das Judentum, selbst das pharisäische, aufstellt: »Zähle dich zu den Unterdrückten und nicht zu den Unterdrückern, höre Schmähungen an und erwidere sie nicht, tue alles aus Liebe zu Gott und freue dich der Leiden«25. Jesus mag auch ein sympathisches, herzgewinnendes Wesen gehabt haben, wodurch sein Wort einen tieferen Eindruck machen konnte.
Seine ganze Gemütsrichtung, welche Gewalttätigkeit, weltliche Bestrebungen und Parteihader verabscheute, mußte Jesus zu den Essäern hinziehen, die ein beschauliches Leben führten, der Welt und ihrer Eitelkeit fremd waren. Als daher Johannes der Täufer, oder richtiger der Essäer, zur Taufe im Jordan, zur Buße und zur Förderung des Himmelreiches einlud, begab sich Jesus zu ihm und wurde von ihm getauft. Die ausschmückende Sage erzählt: Der Himmel habe sich bei diesem Akte geöffnet und der heilige Geist habe sich auf ihn in der Gestalt einer Taube niedergelassen und ihm seinen Beruf verkündet26. Wiewohl es sich nicht nachweisen läßt, daß Jesus förmlich in den Essäerorden aufgenommen wurde, läßt sich doch vieles aus seinem Leben und Wirken nur durch die Annahme erklären, daß er sich essäische Grundsätze angeeignet hatte. Wie die Essäer stellte Jesus die freiwillige Armut hoch und verachtete den Reichtum. Es werden [284] ihm Aussprüche in den Mund gelegt, die echt zu sein scheinen: »Selig sind die Armen, denn ihnen wird das Himmelreich«27. »Leichter ist es, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in den Himmel kommt«28. »Man kann nicht zweien Herren dienen, Gott und dem Mammon«29. »Sammelt euch nicht Schätze auf Erden, welche Motten und Rost zerfressen und Diebe stehlen können, sammelt euch lieber Schätze im Himmel«. In schwärmerischer Übertreibung, das Irdische zu verachten, warnte Jesus die Seinigen: »Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. Die Vögel des Himmels säen und ernten nicht, die Lilien auf dem Felde spinnen auch nicht. Sorget nicht für den andern Morgen, sondern trachtet nach dem Reich Gottes«30. Mit den Essäern teilte Jesus die Scheu vor der Ehe: »Es ist nicht gut, sich zu verheiraten«. Er lobte diejenigen, welche um des Himmels willen sich selbst entmannen31. Die Gütergemeinschaft, welche eine Eigentümlichkeit der Essäer war, muß Jesus ebenfalls nicht bloß gebilligt, sondern geradezu empfohlen haben. Denn seine unmittelbaren Jünger hatten eine gemeinschaftliche Kasse und lebten in Gütergemeinschaft32. Er schärfte ferner, gerade wie die Essäer, die Scheu vor jedem Eide ein. »Schwört überhaupt nicht«, so lehrte Jesus, »weder beim Himmel, noch bei der Erde, noch bei eurem Haupte, sondern euer Ja sei ja, und euer Nein sei nein«33. Kaum braucht es bemerkt zu werden, daß die Wunderheilungen, die ihm zugeschrieben werden, namentlich das Austreiben von Dämonen aus Besessenen durch Besprechen, in dem essäischen Kreise heimisch waren und dort als ein eigenes Geschäft betrieben wurden. Es galt seinen Anhängern nicht als besonderes Wunder, daß Jesus die Teufel beschwören konnte, sondern es wird nur an ihm hervorgehoben, daß er es den andern gleich getan habe, also nicht gegen essäische Beschwörer zurückgeblieben sei. Es ist wohl auch ein Rückschluß von seinem Kreise auf den [285] Stifter selbst erlaubt, daß er wie dieser dem Essäertum huldigte. Von seinem Bruder oder Verwandten Jakobus wird nämlich erzählt: Er habe ein Nasiräerleben geführt, habe keinen Wein getrunken, kein Tierfleisch genossen, sein Haar nie geschoren, kein Öl gebraucht und sich stets in Linnen gekleidet34. Aber es scheint, daß Jesus sich lediglich die [286] wesentlichen Züge des Essäertums angeeignet hat: die Vorliebe für die Armut, die Verachtung des Reichtums und des Besitzes, die Gütergemeinschaft, die Ehelosigkeit, die Scheu vor dem Eide und die Seltsamkeit, an Besessenen, Mondsüchtigen und dergleichen Leidenden Kuren anzuwenden. Die unwesentlichen Punkte dagegen, wie die strenge levitische Reinheit, das öftere Baden, das Tragen eines Schurzes und ähnliches hat er fahren lassen. Selbst auf die Taufe scheint er kein besonderes Gewicht gelegt zu haben, da nirgends von ihm erzählt wird, daß er diese Handlung vorgenommen oder eingeschärft hätte35.
Als Johannes von dem herodianischen Fürsten Herodes Antipas als staatsgefährlich in Gefangenschaft gebracht worden war, gedachte Jesus ganz einfach das Werk seines Meisters fortzusetzen. Er verkündete wie dieser: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe36,« vielleicht ohne daran zu denken, daß er im Himmelreich, d.h. in der bevorstehenden Messiaszeit, eine Hauptrolle haben werde. Indessen mag Jesus eingesehen haben, daß, wenn sein Ruf nicht wie der des Täufers in der Wüste verhallen, sondern eine Wirkung hervorbringen sollte, er sich damit nicht an das judäische Volk im allgemeinen, sondern an eine bestimmte Volksklasse wenden müsse. Der judäische Mittelstand, die Bewohner kleinerer und größerer Städte, war größtenteils derart von Gottergebenheit, Frömmigkeit und leidlicher Sittlichkeit durchdrungen, daß die Aufforderung, die Sünden zu bereuen und fahren zu lassen, für sie gar keinen Sinn hatte. Die Äußerung, die jener junge Mann, der das ewige Leben suchte, gegen Jesus getan haben soll: »Von Jugend auf habe ich die Gebote Gottes beobachtet, habe nicht gemordet, nicht Ehebruch getrieben, nicht gestohlen, nicht falsches Zeugnis abgelegt, habe Vater und Mutter geehrt, meinen Nächsten wie mich selbst geliebt37,« [287] diese Äußerung kann für die durchschnittliche sittliche Haltung des judäischen Mittelstandes in jener Zeit gelten. Die Schilderung der Spätern von der Verderbtheit des judäischen Volkes und von der Verworfenheit der Pharisäer zu Jesu Zeit ist rein erfunden und entspricht der damaligen Wirklichkeit nicht. Die Jünger Schammaïs und Hillels, die Anhänger des Eiferers Juda, die erbitterten Feinde der Herodianer und Römer waren nicht sittlich krank und bedurften allerdings des Arztes nicht. Sie waren nur zu sehr aufopferungsfähig. Mit Recht dachte Jesus gar nicht daran, diese bessern zu wollen. Aber ebensowenig warf er sich zum Verbesserer der Reichen und Vornehmen, der Freunde der Römer und Herodianer, auf. Diese würden den ungelehrten Sittenrichter und Prediger mit Spott und Hohn behandelt haben, wenn er sie an ihren Hochmut, ihre Käuflichkeit und Gesinnungslosigkeit gemahnt hätte. Jesus hat daher mit richtigem Takt sich lediglich an diejenigen wenden wollen, welche von der judäischen Gesellschaft ausgestoßen und als gebrandmarkt behandelt wurden. Es gab im judäischen Lande solche, welche gar keine Kunde von den Heilswahrheiten des Judentums, von seinem Gesetze, seiner alten glanzvollen Geschichte und seiner Zukunft hatten. Es gab Gesetzesübertreter ('Abarjanim), oder wie sie in der damaligen Sprache hießen, Sünder (ἁμαρταλοί), welche, wegen religiöser Vergehungen aus der Gemeinschaft ausgestoßen, ihre Rückkehr entweder nicht suchten oder nicht fanden. Es gab Zöllner und Steuerpächter, die, wegen ihrer Vorschubleistung der römischen Interessen von den Patrioten gemieden, dem Gesetze den Rücken kehrten und ein sittlich wildes Leben führten, unbekümmert um Vergangenheit und Zukunft. Es gab Unwissende, niedrige Handwerker und Knechte (Am ha-Arez), welche selten Gelegenheit hatten, nach der judäischen Hauptstadt zu kommen, den Tempel in seiner erhebenden Herrlichkeit zu schauen, oder die Lehre des Judentums zu vernehmen, und die sie, selbst wenn sie sie vernahmen, nicht verstanden. Für diese hatte der Sinaï nicht geflammt, hatten die Propheten nicht geeifert; denn die Gesetzeslehrer, mehr mit dem Ausbau der Lehre als mit der Belehrung der Masse beschäftigt, machten ihnen Gesetz und Propheten nicht verständlich und führten sie nicht in deren Gesichtskreis ein.
An diese Volksklassen wollte sich Jesus wenden, um sie aus der Verdumpfung ihrer Gottvergessenheit und Unwissenheit, aus dem Schmutze ihrer Lasterhaftigkeit, aus ihrer Entfremdung von Gott und seinem Gesetze herauszureißen. Er fühlte in sich den Beruf, »die verlorenen Schafe des Hauses Israel zu retten.« »Die Gesunden, d.h. die Gesetzeskundigen und Gesetzesbeflissenen, brauchen den Arzt nicht,« so äußerte er sich offenherzig, »sondern die Kranken, damit keins von den geringsten [288] verloren gehe«38, – gewiß ein edler, hoher Beruf! Indem Jesus seine Wirksamkeit auf einen bestimmten Kreis beschränkte, konnte diese nach menschlicher Berechnung eher Erfolg haben als die Johannes des Täufers, der seine Verkündigung unbestimmt in die Wüste hineinschrie. Auch in einem anderen Punkte unterschied sich Jesu Wirksamkeit von der des Täufers. Während dieser das Volk zu sich rief und es jedem überließ, dem Rufe zu folgen oder auch nicht, ging Jesus an die Besserungsbedürftigen heran, um sie an sich heranzuziehen und sie für die Wahrheiten, die er zu verkünden hatte, durch Wort und Beispiel empfänglich zu machen.
Von dieser hohen Aufgabe erfüllt, das niedrige, sündhafte, gesetzesunkundige, gottvergessene Volk, die Sünder, Zöllner und Dirnen, vermöge der halbessäischen Lebensweise zur Buße und zur Vorbereitung für die nahe Messiaszeit zu erwecken, trat Jesus zuerst in seiner Geburtsstadt Nazaret auf39. Aber hier, wo man ihn von Kindesbeinen an kannte und sich wohl dem Zimmermeistersohn an Frömmigkeit ebenbürtig, an Gesetzeskunde überlegen fühlte, fand er nur hämische Verachtung. Als er in der Synagoge am Sabbat von Buße sprach, fragten die Zuhörer einander: »Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns Joseph? Sind nicht seine Mutter und Geschwister bei uns?« Man rief ihm die Worte zu: »Arzt, heile Dich selbst zuerst!« und hörte nicht auf ihn. Einer unverbürgten Nachricht zufolge hätten die Nazaretaner ihn gar aus der Stadt gewiesen und ihm gedroht, ihn von dem Hügel der Stadt in den Abgrund zu stürzen40. Diese schimpfliche Behandlung in der eigenen Vaterstadt gab ihm Veranlassung zu dem Spruche: »Der Prediger gilt am wenigsten in seiner Heimat«41. Er verließ Nazaret, um nie wieder dort aufzutreten.
[289] Einen besseren und glänzenderen Erfolg fand Jesu Tätigkeit in der an der Nordwestküste des Tiberias-Sees gelegenen Stadt Kapernaum (Kefar Nachum). Die Einwohner dieser, in einem paradiesischen, von üppiger Fruchtbarkeit strotzenden Landstriche gelegenen Stadt unterschieden sich von den Nazaretanern, wie ein mildes Küstenklima von einer rauhen Gebirgslandschaft. Der beste Weizen in Galiläa gedieh bei Kapernaum und dem benachbarten Chorazin42. Es gab wohl in Kapernaum mehr Verweichlichte, mehr in Laster Versunkene und wohl einen größeren Gegensatz von Reichtum und Armut. Diese Stadt bot daher seiner Wirksamkeit mehr Spielraum. Seine eindringliche, ernste, dem tiefsten Gemüt entströmende Belehrung fand hier mehr Eingang. Zuhörer aus dem niedrigen Kreise fanden sich zu ihm, schlossen sich ihm an und folgten ihm nach. Zu seinen ersten Anhängern aus Kapernaum gehörten Simon, mit dem Beinamen Kephas oder Petrus43 (Felsen) und sein Bruder Andreas, die Söhne Jonas, beide Fischer, der erste halb und halb ein Gesetzesübertreter, der sich hin und wieder über die Speisegesetze hinwegsetzte; ferner die zwei Söhne eines gewissen Zebedaï, Namens Jakobus und Johannes, eifervolle Männer, die Söhne des Sturmes (Boanerges, Bene Ra'asch) genannt44. Auch ein reicher Zöllner, den die Quellen bald Matthäus, bald Levi45 nennen, und in dessen Haus Jesus beständig weilte und mit anderen Genossen von dem verachtetsten Stande verkehrte, folgte ihm. Auch Frauenzimmer von zweideutigem Rufe gehörten zu seinem Gefolge46, von denen am berühmtesten geworden ist Maria Magdalena (aus der Stadt Magdala-Tarichäa bei Tiberias), aus welcher sieben Teufel, d.h. nach dem damaligen Sprachgebrauch sieben Laster ausgetrieben werden mußten47. Jesus machte aus diesen verworfenen Sünderinnen reuevolle Büßerinnen. Es war dieses allerdings etwas Unerhörtes zur damaligen Zeit, daß [290] ein judäischer Lehrer mit Frauen und noch dazu von solchem Ruf verkehrte.
Indessen wußte Jesus diese Sünder und Zöllner, diese verwahrlosten und unsittlichen Geschöpfe durch Wort und Beispiel zu sich zu erheben, ihren Sinn mit Liebe zu Gott zu erfüllen, »daß sie würdige Kinder des Vaters im Himmel seien«, ihr Herz durch Innigkeit und Heiligkeit zu veredeln, ihren Lebenswandel durch die Aussicht, »in das Himmelreich einzugehen« zu bessern. Das war das größte Wunder, das er vollbracht hat. Das waren die Tauben, die er hören gemacht, die Blinden, denen er die Augen geöffnet, die Kranken, die er geheilt, die Toten, die er zum Leben geweckt hat. Ein Menschenbildner steht unendlich höher als ein Wundertäter. Jesus lehrte vor allem seine männlichen und weiblichen Jünger die essäisch leidenden Tugenden der Selbstverleugnung, der Demut, der Güterverachtung, der Verträglichkeit und Friedfertigkeit. Seinen Anhängern befahl er, weder Gold, noch Silber, noch Erzgeld in ihren Gürteln zu halten, noch zwei Kleider zu besitzen, noch Schuhe an ihren Füßen zu tragen48. Er stellte ihnen Kinder als Muster auf, daß sie so sündenrein wie diese werden und eine Wiedergeburt an sich vollziehen49, um Mitglieder des im Anzuge begriffenen messianischen Reiches werden zu können. Das Gebot der Nächstenliebe und der Verträglichkeit steigerte er bis zur Selbstlosigkeit. »So dir jemand einen Streich auf eine Wange gibt, so reiche ihm auch die andere hin, und so dir jemand das Oberkleid nimmt, so gib ihm auch das Hemd«50. Die Armen lehrte er, nicht für Speise und Trank und nicht für Kleidung zu sorgen; er wies sie auf die Vögel des Himmels und die Lilien des Feldes hin, die ohne Sorgen genährt und gekleidet werden. Die Reichen lehrte er auf die rechte Art Almosen zu geben, »daß die Linke nicht wisse, was die Rechte tut«51. Den Verstockten gab er die Weisung, wie sie im stillen Kämmerlein beten sollten, und stellte dafür eine kurze Formel auf (Vater unser), die möglicher Weise bereits bei den Essäern üblich war52.
An dem bestehenden Judentume rüttelte Jesus keineswegs, er dachte gar nicht daran, Verbesserer der judäischen Lehre zu werden, oder überhaupt etwas Neues zu stiften. Er wollte lediglich die Sünder belehren, daß auch sie Kinder Gottes seien, und sie für die messianische Zeit würdig machen. Die Einheit Gottes betonte er nachdrücklich und [291] wollte nicht im entferntesten an dem Gottesbegriff des Judentums modeln oder ihn gar abschwächen. Als ihn einst ein Gesetzeskundiger fragte, welches der Inbegriff des Judentums sei, antwortete er: »Höre Israel, unser Gott ist einzig und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«, das seien die Hauptgebote53. Als ihn jemand mit den Worten anredete: »Gütiger Lehrer!« wies Jesus die Anrede entschieden zurück und bemerkte dabei: »Nenne mich nicht gütig; nur Einer ist gütig, mein Vater im Himmel«54. Seine dem Judentum treugebliebenen Anhänger überlieferten von ihm die Äußerung: »Ich bin nicht gekommen, das Gesetz zu vermindern oder zu vermehren. Eher würden Himmel und Erde vergehen, denn ein Jota von dem Gesetze«55. Den Sabbat muß er heilig gehalten haben; denn seine dem Judentum anhänglichen Jünger haben die Sabbatfeier streng beobachtet, was sie nicht getan haben würden, hätte sich ihr Meister darüber hinweggesetzt. Nur gegen die schammaïtische Sabbatstrenge, nach welcher man am Sabbat nicht einmal heilen dürfe, eiferte Jesus und sprach sich darüber aus, daß es nach dem Gesetz wohl gestattet sei, am Sabbat Gutes zu [292] tun56. Gegen das bestehende Opferwesen hatte Jesus nichts einzuwenden, er verlangte lediglich, wie es auch die Pharisäer nicht anders lehrten, daß Aussöhnung mit den Menschen der Versöhnung mit Gott vorangehen müsse57. Selbst das Fasten verwarf Jesus nicht ganz und gar, sondern wollte es ohne Schaustellung und Scheinheiligkeit geübt wissen58. Er hatte an seinem Gewande die vom Gesetz vorgeschriebenen Quasten (Zizit)59. Er stand so ganz im Judentum, daß er sogar die Beschränktheit der damaligen Zeit teilte und die Heidenwelt, unter welcher man damals die knechtenden Römer und ihre noch schlimmeren Helfershelfer, die orientalischen Griechen und Syrer verstand, gründlich verachtete. Er wollte mit den Heiden nichts zu tun haben. »Man sollte nicht das Heilige den Hunden, die Perlen nicht den Säuen vorwerfen, auf daß sie dieselben nicht mit Füßen treten und vernichten«60. Als eine kanaanitische oder syrisch-griechische Frau aus Phönizien ihn um Heilung ihrer besessenen Tochter anging, erwiderte er mit Härte: »Ich bin nur zu den verlorenen Schafen Israels gesandt worden, und es ist nicht recht, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen«. Seinen Jüngern schärfte er ein: »Den Weg der Heiden sollt ihr nicht gehen, und in die Städte der Samaritaner nicht einkehren«61. Indem sich Jesus auf diese Weise streng innerhalb des Judentums hielt, wollte er durchaus keine neue Offenbarung bringen und keinen neuen Bund stiften62, sondern lediglich die vorhandenen [293] religiösen und sittlichen Elemente als Samenkörner in solche Herzen streuen, die bis dahin brach gelegen hatten. Nicht einmal die reine Unsterblichkeit der Seele, d.h. das Fortleben der Seele nach dem Abstreifen der leiblichen Hülle in himmlischer Seligkeit, lehrte Jesus, sondern einzig und allein die Auferstehung des Leibes63 aus dem Tode zu einer bestimmten Zeit, wie die übrigen Lehrer des Judentums zur damaligen Zeit. Die Auferstehung des Gerechten und Frommen werde hienieden auf Erden stattfinden und eine neue Ordnung der Dinge, die zukünftige Welt ('Olam ha-Ba), begründen. Diese mag sich Jesus wie die Pharisäer und Essäer im Zusammenhange mit der Messiaszeit, mit dem Eintreten des Himmelreiches, gedacht haben. Für die unbußfertigen Sünder nahm auch er eine feurige Hölle (Gehinnom, Geenna)64 an. Sein Verdienst besteht vorzüglich darin – und das ist nicht gering anzuschlagen – daß er die Vorschriften des Judentums verinnerlichen wollte, daß er sie mit Herz und Gemüt auffaßte, das Verhältnis der Israeliten zu ihrem Gotte, als Kinder zu ihrem Vater, nachdrücklich betonte, die Brüderlichkeit der Menschen scharf hervorhob, die Sittengesetze in den Vordergrund gestellt wissen wollte und endlich die Lehre von der Gottinnigkeit und Heiligkeit entsittlichten Geschöpfen zugänglich machte.
Allein durch die bloße Belehrung würde Jesus schwerlich einen so hingebenden Anhang und eine so erfolgreiche Wirksamkeit gefunden haben, wenn er nicht durch etwas Außerordentliches die Gemüter zu Bewunderung und Begeisterung hingerissen hätte. Seine äußere Erscheinung. [294] sein schwärmerisches Wesen, seine sittliche Größe, seine eindringliche Lehrweise in kurzen Sprüchen oder in lang ausgeführten Parabeln, die das Erhabene in schlichter, der Menge zugänglicher Form darstellten, alle diese Umstände mögen einen mächtigen Eindruck hervorgebracht haben. Allein, um eine nachhaltige Begeisterung in dumpfen und gegen Ideale gleichgültigen Volksklassen zu erwecken, um bei ihnen unbedingten Glauben zu finden, um von ihnen als ein außergewöhnliches Wesen verehrt zu werden, dazu bedurfte es wohl eines außerordentlichen, die Einbildungskraft der Massen gefangennehmenden Vorganges. Nun sind die christlichen Quellennachrichten unter den mannigfaltigsten Wendungen und Einkleidungen voll von Erzählungen, Jesus habe Wunderheilungen zustande gebracht. Wenn auch vieles von diesen Erzählungen auf Rechnung der übertreibenden Sage, des vergrößernden Verherrlichungstriebes und namentlich des nachbildenden Mythos zu setzen ist, so muß doch ein Kern daran geschichtlich sein. Wunderheilung, namentlich an Besessenen, gehörte so sehr zum Inbegriff der Jesus zugeschriebenen Wirksamkeit, daß seine Nachfolger sich dieser Kraft mehr rühmten als eines besonders heiligen Lebenswandels. Die Würdigkeit eines Jesu-Jüngers wurde später daran erkannt, daß er böse Geister zu vertreiben und Krankheiten durch Beschwörungen im Namen Jesu zu heilen vermöge65. Wenn man den Quellenschriften glauben sollte, so bewunderte die Menge mehr Jesu Macht über die Dämonen und den Satan als seine sittliche Größe. War die Heilkunde im judäischen Volke damals so sehr in der Kindheit, daß jeder Heilkünstler als ein höheres Wesen angestaunt wurde? Oder waren jene Krankheiten, die er geheilt haben soll, seelischer Art, in der Einbildungskraft wurzelnd, und konnte es daher einem Seelenarzt gelingen, sie vermöge der Einwirkungen auf die Phantasie zu entwurzeln? Oder vermag die gesammelte, auf ein kräftiges Wollen konzentrierte Seele einer sittlich-reinen Persönlichkeit auch in das organische Getriebe des Menschen einzugreifen und die Ursache der Krankheit auf seelischem Wege zu heben? Wie man sich auch diesen Vorgang erklären mag, gewiß ist es, daß ein Fall oder mehrere vorgekommen sein müssen – die Zahl ist dabei gleichgültig – daß Jesus eine Krankheit, welche man damals Besessenheit nannte, durch Berührung, Beschwörung oder sonst ein Mittel geheilt hat. Dadurch erregte er die Bewunderung der Menge in einem hohen Grade. Erst dadurch erschien er den Personen von niedrigem Bildungsgrade als ein außerordentliches Wesen. In [295] ihren Augen hatte der Prophet von Nazaret Gewalt über die bösen Geister, welche den Menschen schaden, über den Satan, welcher die Kinder Israels von Gott abwendig macht, über die Hölle, der diese Wesen der Finsternis entspringen. Er schien ihnen ein Gottesmann zu sein, dessen bloßes Wort magisch wirke, und dem Wundertaten zu üben eine Kleinigkeit sei. Und da Jesus diese Niedrigen nicht von sich wies, sondern sich zu ihnen herabließ, mit ihnen vertrauten Verkehr pflegte, sie in einer ihnen verständlichen Sprache belehrte und sie zu Teilnehmern am Himmelreiche erziehen wollte, so war es natürlich, daß er sie an sich fesselte und sie ihm hingebende, treue Anhänger wurden.
Ermutigt von dem guten Erfolge in Kapernaum, wo Jesus zuerst einen Jüngerkreis fand, reiste er in den galiläischen Städten umher, hielt sich längere Zeit in der zweiten Hauptstadt Betsaïda (Julias), in Magdala und in Chorazin auf und warb da Anhänger. Auch über den Tiberiassee setzte er nach der Ostküste, nach der Gegend von Gadara, aber entfernte sich nicht auf längere Zeit aus Galiläa. Indessen muß sein Erscheinen in Betsaïda und Chorazin keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben, denn es wird ihm ein Weh über diese Städte wegen ihrer Unwillfährigkeit und ihres Widerstrebens in den Mund gelegt. Sie wurden gleich Sodom und Gomorrha verflucht66. Aber seine treuen männlichen und weiblichen Jünger, die ihm überall hin folgten, dem gewaltigen Einfluß seiner Erscheinung erliegend, taten alles, was er ihnen vorschrieb. Wie sie sich ihres früheren unsittlichen und unfrommen Lebenswandels entwöhnten, so entäußerten sie sich auch ihrer Habe67, um in Gütergemeinschaft zu leben. Die Gemeinsamkeit in Speise und Trank, dem Essäerorden entlehnt, war das äußere Band, welches Jesu Anhänger aneinander kettete. Durch die Beisteuer der reichen Zöllner waren auch die armen Anhänger der Nahrungssorgen enthoben, was sie noch mehr an Jesus fesselte.
Unter seinen Anhängern wählte sich Jesus diejenigen zu besonders vertrautem Umgange aus, welche vermöge ihrer größeren Fassungsgabe oder ihres festern Charakters ihm zur Förderung seines Zieles dienlich schienen. Die Zahl dieser vertrautesten Jünger war den Grundquellen selbst nicht mehr bekannt; die Sage resumiert sie indessen auf zwölf und nennt sie die zwölf Apostel (Sendboten), um im kleinen den Rahmen der Stämme Israels zu haben. »Die zwölf Hauptjünger sollten die zwölf Stämme richten«68. Aber es waren ihrer jedenfalls mehr69. [296] Bemerkens wert ist es, daß auch ein Zelote, von den Jüngern Judas des Galiläers, Namens Simon (Kananites70), sich an Jesus angeschlossen hat und in den engern Jüngerkreis aufgenommen wurde. Es beweist also, daß er durch die von Jesus gebotenen Mittel dasselbe Ziel zu erreichen hoffte, wie durch die von Juda, dem Zelotenstifter, empfohlene gewaltsame Befreiung vom Joche der Römer.
Das Ziel und den Mittelpunkt aller seiner Gedanken, das in seiner Brust verschlossene Geheimnis, eröffnete Jesus eines Tages seinem engsten Jüngerkreise. Er führte sie in eine entlegene Gegend am Fuße des Hermongebirges, unweit Cäsarea Philippi, der Hauptstadt des Tetrarchen Philipp, da wo der Jordan aus mächtigen Felskolossen hervorsprudelt; in dieser einsamen Umgebung wollte er ihnen seinen geheimsten Gedanken erschließen. Aber er veranstaltete es in der Art, daß die Jünger ihm diesen Gedanken, daß er selbst der erwartete Messias sei, gewissermaßen entlockten. Er fragte sie, wofür ihn seine Anhänger hielten. Die einen sagten: er sei der erwartete Elia, der unmittelbare Vorläufer des Messias; wieder andere: er sei der Prophet, den Mose verheißen habe. Darauf fragte sie Jesus: »Wofür haltet ihr mich?« Simon Petrus antwortete: »Du selbst bist der Messias« (Christus). Den Scharfblick des Petrus lobte Jesus, gestand seine Messianität ein, verbot aber den Jüngern, es zu verraten, noch überhaupt für jetzt davon zu sprechen71. Das war die in geheimnisvolles Dunkel gehüllte Geburtsstunde des Christentums. Als einige Tage später die vertrautesten Jünger Simon Petrus und die Zebedaïden Jakobus und Johannes schüchtern die Bemerkung an ihn richteten: daß doch dem Messias wohl Elia als [297] Vorläufer vorangehen müsse, deutete Jesus darauf hin, daß Elia bereits in dem Täufer erschienen sei, ohne daß man ihn erkannt habe72. Hatte Jesus diesen Gedanken vom Anfang seines Auftretens an in tiefster Seele genährt? Oder war ihm der Gedanke erst aufgestiegen, als durch die glücklichen Erfolge des gewonnenen Anhanges die Möglichkeit der Verwirklichung näher gerückt schien? Das ist ein Rätsel, das wohl nie wird gelöst werden können. – Wiewohl Jesus sich hier zum erstenmale vor seinem Jüngerkreise als Messias bekannte und sich als solchem huldigen ließ, so nannte er sich selbst doch nie Messias, sondern gebrauchte dafür andere Ausdrücke, die ohne Zweifel im Essäerkreise geläufig waren. Er nannte sich Menschensohn (Bar Nasch73) mit Anspielung auf Daniel (7, 13): »Siehe mit den Wolken des Himmels kam wie ein Menschensohn und gelangte bis zum Alten der Tage«, welcher Vers zwar von dem ganzen Volke, dem Messiasvolke spricht, aber zu dieser Zeit – dem Sinne zuwider – auf den Messias bezogen wurde74. Noch eine andere Benennung gebrauchte Jesus für seine Messianität, nämlich das verhängnisvolle Wort »Sohn Gottes« ebenfalls mit Anspielung auf den Psalmvers (2, 7): »Gott sprach zu mir: ›Du bist mein Sohn, ich habe dich heute geboren‹, der auch in judäischen Kreisen vom Messias verstanden worden ist75. Hat Jesus diesen Ausdruck bloß bildlich für Messias oder im eigentlichen Wortsinn genommen wissen wollen? Er hat sich nie näher darüber erklärt, selbst später nicht, als er wegen desselben zum Verhör geladen und dafür verurteilt wurde. Seine Anhänger waren selbst später über den Sinn des Wortes uneinig und die verschiedene Auffassung desselben spaltete sie in zwei Parteien und erzeugte eine neue Mythologie.
Wie Jesus die messianischen Erwartungen zu erfüllen gedachte, wird kaum angedeutet. Gewiß ist es, daß er nur an Israel dachte, welches er sowohl von den Sünden, als auch von dem schweren Joche der Römer erlösen zu können vermeinte76. An die Heidenwelt dachte Jesus als Christus ebensowenig wie früher als Johannes-Jünger. Ohne Zweifel stellte er sich das Erlösungswerk Israels so vor, daß, wenn die judäische Nation durch hingebende Liebe zu Gott und den Menschen, durch Selbstverleugnung und namentlich durch Übernahme [298] freiwilliger Armut sich unter seiner Leitung zu einem höheren Leben erhoben haben würde, Gott, der gewissermaßen auf das Entgegenkommen seiner Kinder harre, aus Liebe zu seinem Volke alle jene Wunder, wie die Befreiung von der Fremdherrschaft, die Rückkehr der Zerstreuten und den davidischen Glanz eintreten lassen werde.
Als sich Jesus von seinen Jüngern als Messias anerkennen ließ, hatte er ihnen, wie schon erwähnt, die Geheimhaltung dieser Tatsache anempfohlen. War es Furcht, daß ihn Herodes Antipas, in dessen Gebiet er lebte und lehrte, dem Schicksale des Täufers überliefern möchte; oder wollte er erst einen größeren Kreis von Anhängern und Gläubigen um sich sammeln, um dann imposanter als Messias aufzutreten? Der wahre Grund wird sich nicht ermitteln lassen. Seine Jünger vertröstete er, daß die Zeit noch nicht da sei, aber es werde eine Zeit kommen, »wo sie das werden im Lichte mitteilen können, was er ihnen im Dunkeln gesagt, und sie werden dann das von den Dächern predigen können, was sie mit den Ohren erlauscht haben«77. Allein, es trat das Gegenteil von dem ein, was sowohl Jesus als seine Jünger erwartet hatten. Sobald es kundig geworden – die Jünger waren wahrscheinlich nicht verschwiegen – Jesus von Nazaret bereite nicht bloß das Himmelreich vor, sondern sei selbst der erwartete Messias, ward die öffentliche Meinung gegen ihn eingenommen. Man erwartete von ihm Zeichen und Beweise seiner Messianität, die er nicht geben konnte, und er wich den Fragen aus78. Viele seiner Anhänger sollen sogar ein Ärgernis an seiner Messianität genommen haben und von ihm abgefallen sein, ohne ferner »seines Weges zu gehen«79. Wollte er seinen Jüngern gegenüber sich keine Blöße geben, so mußte er etwas tun, um sein Werk zu krönen oder dabei unterzugehen. Sie erwarteten von ihm zunächst, daß er in der Hauptstadt des Landes vor den Augen der ganzen Nation, wenn sie sich zum Passahfeste in dem Tempel versammelt, als Messias auftreten werde. Es wird erzählt, seine eigenen Brüder hätten ihn beschworen, nach Judäa zu gehen, »damit seine Jünger sein Werk endlich sehen. Denn niemand tut etwas im Verborgenen, sondern will sich offenbar machen; wenn du solches tust, so offenbare dich der Welt«80. So mußte denn Jesus sich endlich entschließen. [299] den gefährlichen Weg anzutreten. Ohnehin war er in Galiläa nicht sicher und scheint, von den Häschern des Tetrarchen Herodes Antipas aufgesucht und verfolgt, von Ort zu Ort geflohen zu sein. Als sich ihm in dieser Bedrängnis einer anschließen wollte, äußerte Jesus ihm gegenüber: »Die Füchse haben Gruben, die Vögel Nester, des Menschen Sohn aber hat nicht, wo er sein Haupt hinlegen soll«81. Wie lange er in Galiläa gelehrt hat, ist nicht bekannt; die Hauptquellen wollen andeuten, daß seine Wirksamkeit im ganzen nur ein einziges Jahr gedauert habe, so sehr waren ihnen die Begebenheiten entschwunden. Nach einer andern, nicht besser bewährten Quelle habe sie indessen drei Jahre gedauert82.
So wenig dachte Jesus damals daran, zu dem bestehenden Judentume in Gegensatz zu treten, daß er dem Gebrauche der Festreisenden gemäß das den Judäern, namentlich den Festwallern, feindselige Samarien mied und einen Umweg über das jenseitige Jordanland machte83, um mit der Sekte der Samariter nichts zu tun zu haben. Wie um jedem Mißverständnisse vorzubeugen, als wollte er das Gesetz aufheben, erwiderte er einem Pharisäer, der sich ihm anschließen wollte und nach den Bedingungen fragte: »Wenn du ewiges Leben erlangen willst, so beobachte das Gesetz, verkaufe deine Habe und gib es den Armen«, d.h. teile es mit meinen der Armut beflissenen Anhängern84. Über Jericho reisend und in der Nähe Jerusalems angekommen, ließ er sich nicht in der Mitte der Hauptstadt nieder, sondern nahm seinen Aufenthalt in der Nähe der Nordmauer in einem Dorfe Bethanien am Ölberge, wo damals die Aussätzigen, welche die heilige Stadt meiden mußten, ihre Ansiedelung hatten. Im Hause eines solchen Aussätzigen, mit Namen Simon, der mit seinen Leidensgenossen sich ihm anschloß, fand er Obdach85. Die andern Anhänger, die er in Bethanien fand, gehörten ebenfalls dem niedern Stande an, Lazarus und seine Schwestern Maria und Martha. Nur von einem einzigen reichen und angesehenen Jerusalemer, Joseph von Arimathias, erzählen die Quellen, daß er ein Anhänger Jesu geworden.
[300] Über Jesu Einzug in Jerusalem und sein Auftreten im Tempel hat die Sage einen Dämmerschein der Verherrlichung verbreitet, der nur wenig Geschichtliches enthält. Das Volk soll ihn im Triumphe unter Hosiannagesang nach Jerusalem geleitet haben; aber dasselbe Volk soll einige Tage später seinen Tod verlangt haben86. Das eine wie das andere ist erdichtet, das eine, um seine Anerkennung als Messias von seiten des Volkes darzustellen, das andere, um die Blutschuld seiner Hinrichtung auf das ganze Volk Israel zu wälzen. Ebenso wenig geschichtlich ist der Zug, daß Jesus gewalttätig im Tempel aufgetreten sei, Wechseltische für die Tempelspenden umgeworfen und die Taubenverkäufer aus dem Tempel verjagt habe. Eine solche Aufsehen erregende Tat würde in den anderweitigen Quellen aus jener Zeit nicht verschwiegen worden sein. Auch ist es unrichtig, daß Taubenhändler und Wechsler ihre Verkaufsläden innerhalb des Tempels gehabt hätten. Der Markt für Vögel zum Opfern war außerhalb der Stadt in Bethanien auf dem Ölberge im Norden unter einer Ceder. Auf dem Tempelberg wurden nur Öl, Wein und Mehl für unblutige Opfer nicht um Geld, sondern gegen Marken geliefert, weil es nicht jedermanns Sache war, das für solche Opfer vorgeschriebene Maß zu kennen. In der Nähe des Tempelberges waren allerdings Wechseltische für solche aufgestellt, welche es verabsäumt hatten, zur rechten Zeit – in dem Monat vor dem Passahfeste – die Tempelspende zu entrichten87. Gegen diesen Brauch, Geld in der Nähe des Tempels zu sammeln, mag sich Jesus tadelnd ausgesprochen haben, weil ihm der Mammon überhaupt widerwärtig war. Daraus hat wohl die Sage eine Tempelstürmerei und Tempelreinigung gemacht88.
Überhaupt ist gerade der wichtigste Abschnitt seines Lebens, die Stellung, welche Jesus in Jerusalem dem Volke, dem Synhedrion und den Parteien gegenüber eingenommen, ob er sich öffentlich als Messias ausgegeben hat, und wie dieses aufgenommen worden, in den Quellen in so schillernden Farben gehalten, daß man den geschichtlichen Kern von den sagenhaften Ausschmückungen und Erfindungen gar nicht unterscheiden kann. Vorurteile mögen allerdings in der Hauptstadt gegen ihn geherrscht haben. Von einem gesetzesunkundigen Galiläer hat der gebildete Teil des Volkes das messianische Erlösungswerk am allerwenigsten erwartet; es verstieß überhaupt gegen die Jahrhunderte lang gehegten Vorstellungen, den Messias aus Galiläa kommen zu sehen, während man ihn aus Bethlehem und dem Stamme Davids erwartete89. [301] Das Sprichwort: »Was kann Gutes aus Nazaret kommen«90 mag sich damals gebildet haben. Die Frommen nahmen allgemeines Ärgernis an ihm, weil er mit Sündern, Zöllnern und Dirnen Umgang gepflogen, mit ihnen gegessen und getrunken hat. Selbst die Johannesjünger, d.h. die Essäer, scheinen an seinem Heraustreten aus der Regel Anstoß genommen zu haben91.
Die Schammaïten mochten seine auch am Sabbat ausgeführten Heilungen verletzt haben. Sie konnten sich einen Messias, der den Sabbat entweihte, nicht denken. Jesus hatte sich wohl hin und wieder gegen die Auslegung und Folgerungen der Pharisäer tadelnd geäußert, z.B. daß einem Sohne infolge eines getanen Gelübdes untersagt sei, seinen Eltern von seiner Habe etwas zu verabreichen, und dadurch das Gebot, die Eltern zu ehren, außer Kraft gesetzt sei92. Solches mag ihnen zu Ohren gekommen sein und sie gegen ihn eingenommen haben. Die Zeloten konnten nichts Großes von Jesus erwartet haben, weil er nur Friedfertigkeit predigte und seine Anhänger nicht mit glühendem Hasse gegen die Römer erfüllte. Alle diese auffallenden Eigentümlichkeiten, die man sich mit dem Messias nicht zusammenreimen konnte, ließen wohl den Mittelstand und besonders die Angesehenen der Nation, die Schriftgelehrten, kalt gegen ihn, und er hat wahrscheinlich keine freundliche Aufnahme in Jerusalem gefunden. Allein alle diese Ärgernisse gaben noch keinen Grund zu einer Anklage gegen ihn, und man konnte ihm deswegen noch nichts anhaben. Die freie Meinungsäußerung war durch die häufigen Debatten der Schule Schammaïs und Hillels so sehr Gewohnheit geworden, daß nicht leicht jemand wegen einer abweichenden religiösen Ansicht verfolgt wurde, vorausgesetzt, daß er nicht allgemein anerkannte Religionsgesetze übertrat oder gegen den Gottesbegriff des Judentums verstieß.
Und eben an diesem Punkte bot Jesus dem Angriffe eine schwache Seite dar. Das Gerücht hatte sich wohlverbreitet, daß er sich als »Sohn Gottes« bezeichnete, ein Wort, das, wenn es in seinem schlichten Sinne genommen worden sein sollte, zu tief in die religiöse Überzeugung der judäischen Nation einschnitt, als daß die Vertreter derselben gleichgültig darüber hätten hinwegsehen können. Allein wie sollte sich das Tribunal Gewißheit darüber verschaffen, ob er sich wirklich als solchen ausgab, und welche Bedeutung er dem Worte beilegte? Allzuverschwenderisch ging Jesus wohl mit diesem Worte nicht um, sondern gebrauchte es wahrscheinlich nur im engeren Kreise seiner Jünger. Wie sollte man das erfahren, was ein Geheimnis dieses Kreises war, [302] und in welchem Sinne er es verstanden wissen wollte? Dazu brauchte man einen Verräter aus eben diesem Kreise, und dieser wurde in Judas Iskariot (Ischariot) gefunden, der, wie erzählt wird, von Habgier ergriffen, denjenigen dem Gerichte überlieferte, den er bis dahin als Messias verehrt hatte. Eine Quelle, die ihrer ganzen Haltung nach alt und glaubwürdig erscheint, setzt es ins rechte Licht, wozu dieser Verräter benutzt worden ist. Das Gericht brauchte, um Jesus als falschen Propheten oder als Volksverführer (Messit) anklagen zu können, zwei Zeugen, die verfängliche Worte aus seinem Munde vernommen hätten. Der Verräter sollte ihn also zum Sprechen bewegen, damit die beiden Zeugen, welche in einem Verstecke auf jedes seiner Worte lauschten, es deutlich vernehmen könnten – ein Ausnahmeverfahren, welches wohl nur in diesem einzigen Falle vorgekommen sein mag und später gegen Volksverführer zum Gesetze erhoben wurde93. [303] Nach der christlichen Quelle hätte Judas Verrat nur dazu gedient, Jesus in der Mitte seiner Jünger den Häschern und der sie begleitenden Volksmenge kenntlich zu machen, und er habe das durch einen Huldigungskuß getan94, als ob derjenige, der doch im Triumphe in Jerusalem eingezogen und im Tempel öffentlich gepredigt haben soll, allen hätte unbekannt sein können! – Sobald die Häscher ihn ergriffen hatten, verließen ihn sämtliche Jünger und suchten ihr Heil in der Flucht, nur Simon Petrus folgte ihm von ferne95. Als es Tag geworden war am 14. Nissan, am Passahfeste, d.h. an dem Rüsttage vor dem Feste der ungesäuerten Brote, wurde Jesus vor das Synhedrion geführt, nicht vor das große, sondern vor den kleinen Gerichtshof von dreiundzwanzig Mitgliedern, in welchem der Hohepriester Joseph Kaiaphas den Vorsitz führte96. Das Verhör bestand darin, daß der Gerichtshof sich vergewissern wollte, ob Jesus sich als den Sohn Gottes ausgegeben habe, wie die Zeugen ausgesagt hatten. Es klingt ganz unglaublich, daß ihm deswegen der Prozeß gemacht worden sei, weil er vorher verkündet hätte, er vermöge den Tempel zu zerstören und ihn in drei Tagen wieder aufzubauen97. Eine solche Äußerung, wenn sie wirklich von ihm ausgesprochen worden war, konnte unmöglich Gegenstand einer Anklage sein. Die Anklage lautete vielmehr auf Gotteslästerung (Gidduf, βλασφƞμία), ob Jesus sich als Gottessohn anerkannt wissen wollte98. Auf die an ihn in diesem Sinne gerichtete Frage schwieg Jesus und gab gar keine Antwort. Als der Vorsitzende ihn noch einmal fragte, ob er der Sohn Gottes sei, soll er erwidert haben: »Du sagst es«99, und hinzugefügt haben: »Man werde bald [304] den Menschensohn zur Rechten des Gottesthrones sitzen sehen, auf den Wolken des Himmels einherfahrend.« Aus dieser Äußerung, wenn er sie wirklich getan haben sollte, konnten die Richter entnehmen, daß er sich selbst als Gottes Sohn betrachtete. Der Hohepriester zerriß darauf seine Kleider ob der vernommenen Gotteslästerung, und der Gerichtshof verurteilte ihn als Gotteslästerer100. Aus der Erzählung der christlichen Grundquellen läßt sich nicht entnehmen, ob die Richter nach den damals gültigen peinlichen Gesetzen ihn ungerechter Weise verurteilt hätten. Der Schein war gegen ihn. Die Bestätigung des Todesurteils oder vielmehr die Erlaubnis zur Hinrichtung holte das Synhedrion vom Landpfleger Pontius Pilatus ein, der gerade zur Festzeit in Jerusalem anwesend war.
Pilatus, vor den Jesus geführt wurde, fragte ihn nach der politischen Seite seines Auftretens, ob er in seiner Eigenschaft als Messias sich als König der Juden ausgebe, und da Jesus darauf zweideutig erwiderte: »Du sagst es«101, verhängte auch der Landpfleger das Todesurteil über ihn. Nur das war seines Amtes. Sagenhaft ist aber der Zug, Pilatus habe Jesus unschuldig befunden und ihn retten wollen, nur die Judäer hätten auf seinen Tod bestanden102. Wenn Jesus verhöhnt wurde und die Dornenkrone als Spott auf seine messianische Königswürde hat tragen müssen, so ging diese Roheit nicht von den Judäern, sondern von den römischen Kriegsknechten aus, die wohl froh waren, in ihm die judäische Nation verhöhnen zu können. Bei den [305] judäischen Richtern hingegen herrschte so wenig leidenschaftlicher Haß gegen seine Person vor, daß man ihm wie jedem Verurteilten den Becher mit Wein und Weihrauch gab, um ihn zu betäuben und seine Todesschmerzen zu mildern103. Da Jesus noch vor dem Tode gegeißelt wurde, so folgt daraus, daß Pilatus ihn nach römischen Strafgesetzen behandelt hat; denn nach den judäischen wurde die Geißelstrafe keineswegs einem zum Tode Verurteilten aufgelegt. Die römischen Büttel (Lictores) waren es also, die den angeblichen »König der Judäer« schadenfroh mit Ruten oder Stricken gegeißelt haben104. Diese waren es auch, die auf Pilatus' Befehl ihn ans Kreuz nagelten und ihm den schimpflichen Tod nach römischen Gesetzen bereiteten. Denn mit dem Ausspruch des Todesurteils von seiten des über Leben und Tod eingesetzten römischen Beamten gehörte der Verurteilte nicht mehr seiner Nation an, sondern verfiel der römischen Staatsgewalt. Nicht das judäische Synhedrion, sondern Pilatus hat Jesus als Aufwiegler und Staatsverbrecher hinrichten lassen. Die christlichen Quellen wollen wissen, er sei lebend um neun Uhr vormittags gekreuzigt worden, und erst um drei Uhr nachmittags habe er seinen Geist ausgehaucht (um 30? 35?). Sein letztes Wort sei ein Psalmwort in aramäischer Sprache gewesen: »Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen«! (Eli, eli, lama schebaktani). Zum Hohn hätten die römischen Soldaten auf das Kreuz eine Aufschrift gesetzt: »Jesus von Nazaret, König der Judäer«. Die Kreuzigung und wahrscheinlich auch die Beisetzung der Leiche fand außer halb der Stadt auf einem für Verurteilte bestimmten Begräbnisplatze statt, welcher den Namen Golgatha (Schädelstätte) führte105. Das war das Ende des Mannes, der an der sittlichen [306] Besserung der Verwahrlosten seines Volkes gearbeitet hat und vielleicht das Opfer eines Mißverständnisses geworden ist. Sein Tod wurde die, wenn auch unschuldige, Veranlassung von unzähligen Leiden und mannigfachen Todesarten der Söhne seines Volkes. Millionen gebrochener Herzen und Augen haben seinen Tod noch nicht abgebüßt. Er ist der einzige Weibgeborene, von dem man ohne Übertreibung sagen kann, er habe mit seinem Tode mehr gewirkt als mit seinem Leben. Die Schädelstätte Golgatha wurde für die geschichtliche Welt ein neuer Sinaï. Übrigens machten diese für die christliche Welt so wichtigen Vorgänge zu jener Zeit in Jerusalem so wenig Aufsehen, daß die judäischen Geschichtsschreiber Justus von Tiberias und Flavius Josephus, welch letzterer selbst die geringsten Vorfälle unter Pilatus erzählt und sogar einen samaritanischen Propheten nicht übergeht, der seinen Volksgenossen die von Mose auf dem Berge Garizim verborgenen heiligen Gefäße zu übergeben sich anheischig gemacht hatte106, daß diese Jesu und dessen Hinrichtung mit keiner Silbe gedenken107.
Als der erste Schrecken wegen der Gefangennahme und der Kreuzigung Jesu, der seine Jünger auseinander gesprengt hatte, vorüber war, sammelten sie sich wieder, um über den Tod ihres geliebten Meisters zu weinen. Der ganze Anhang Jesu, wenigstens derjenige, welcher sich damals in Jerusalem befand, betrug nicht mehr als hundertundzwanzig Glieder, und wenn alle zusammengerechnet werden, die in Galiläa an ihn glaubten, nicht mehr als fünfhundert108. Und hier zeigt es sich, wie mächtig der Eindruck gewesen sein muß, den Jesus auf die größtenteils unwissenden Menschen gemacht hatte. Weit entfernt ihren Glauben an ihn, als einen Traum fahren zu lassen, begeisterten sie sich immer mehr für ihn, ja ihre Verehrung für Jesus steigerte sich bis zur Schwärmerei. Das einzige Anstößige lag für sie noch in dem Umstande, daß der Messias, der Israel erlösen und die Herrlichkeit des Himmelreiches bringen sollte, eines schimpflichen Todes gestorben war. Wie [307] konnte der Messias Leiden unterworfen sein? Der leidende Messias (Χριστὸς παϑƞτός) war für sie ein gewichtiges Bedenken109. Dieser Anstoß an Jesus mußte erst beseitigt werden, ehe seine Anhänger sich dem vollen Glauben an seine Messianität hingeben konnten. Da mag denn ein Schriftkundiger unter ihnen sich und sie damit beruhigt haben, daß nach einer jesajanischen Prophezeiung, die auch judäischerseits auf den Messias bezogen wurde110, von Gott Leiden über den Messias verhängt werden würden, damit er dadurch die Sünden des Volkes tilge: »Er wird entrissen aus dem Lande der Lebenden, und für die Sünden seines Volkes erleidet er Wunden«. Ein gläubiger Pharisäer111 hat wohl der entsetzten, haltlosen und geringen Schar der Jünger Jesu aus der größten Verlegenheit geholfen, indem er das Neue und Wunderliche vermittels der Schriftdeutung alt und schriftgerecht gemacht und dem von Beginn an in Auflösung begriffenen jungen Christentum einen Stützpunkt gegeben hat. Die Schriftdeutung war in dieser Zeit eine Macht, welche das Unsinnigste annehmbar machen und das Unglaublichste als notwendig erscheinen lassen konnte. Ohne einen noch so schwachen Beweis aus der heiligen Schrift, aus dem Pentateuch, den Propheten den Psalmen und Daniel, konnte nichts Neues Anklang finden und sich behaupten. Die pharisäische, den Wortsinn und den Zusammenhang oft entstellende Schriftauslegung, hat dem Glauben an Jesu Messianität nach seinem Tode erst Lebensfähigkeit gegeben. Damit war das Rätsel gelöst; es mußte alles so kommen. Selbst daß Jesus als Verbrecher hingerichtet wurde, erschien bedeutungsvoll, damit die Prophezeiung vom Messias buchstäblich erfüllt werde. War es nicht vorher verkündet, daß er unter die Übeltäter gerechnet werden würde?112 Seine Jünger wollten sich erinnern, von Jesus bei seinem Leben gehört zu haben, daß er Verfolgungen und sogar dem Tode entgegen gehe. So gehörten also Leiden und Tod mit zum Beweise seiner Messianität. Seine Anhänger gingen sein Leben durch und fanden in [308] jedem geringen Umstande eine höhere messianische Beziehung; selbst daß er nicht in Bethlehem, sondern in Nazaret geboren war, sollte die Erfüllung einer Prophezeiung sein: »damit er Nazaräer (Nasiräer?) genannt werde«113. So waren denn die Anhänger überzeugt, daß Jesus, der Nazaräer, der Christus (Messias) sei. War das Gemüt der Gläubigen von dieser Seite aus beruhigt, so fiel es nicht schwer, einer anderen Frage zu begegnen: Wann soll denn aber das verheißene Himmelreich einkehren, wenn der Träger und Vollbringer desselben den Kreuzestod gestorben? Die Hoffnung gab Antwort darauf: »Der Messias werde in seinem Glanze mit den Engeln des Himmels wiederkommen, und dann werde er jedem nach seiner Tat vergelten.« Sie glaubten: »Einige von den damals Lebenden werden den Tod nicht kosten, bis sie den Menschensohn in sein Reich werden kommen sehen« (Parusie)114. Jeden Augenblick erwarteten die Gläubigen daher die Wiederkunft Jesu und unterschieden sich nur in diesem einen Punkte von den Judäern, nur daß sie die Messianität auf eine schon bekannte Persönlichkeit übertrugen. Nach seiner Wiederkunft werde Jesus das tausendjährige Reich gründen, das Sabbatjahrtausend, nach Ablauf der sechs Jahrtausende der Welt, das den Gläubigen alle Wonnen des Friedens und jede irdische Glückseligkeit bringen werde (Chiliasmus)115. Um diesen Glauben zu erhalten, durfte Jesus nicht dem Tode verfallen, sondern mußte wieder erstanden sein. Vielleicht aus Anlehnung an die biblische Erzählung von dem Propheten Jonas, der drei Tage im Bauche des Fisches zugebracht hatte, bildete sich die Sage, Jesus sei drei Tage in der Gruft gelegen und sei dann wieder auferstanden, sein Grab sei leer gefunden worden. Mehrere Anhänger wollten ihn nach seinem Tode bald hier, bald da gesehen, mit ihm gesprochen, seine Wunden betastet und sogar mit ihm Fische und Honigseim gegessen haben116. [309] Die Gläubigkeit fand so auch nicht den geringsten Grund an seiner Messianität zu zweifeln.
Indessen so hoch die ersten Gläubigen Jesus verehrten und so sehr sie ihn verherrlichten, so haben sie ihn doch nicht über die menschliche Sphäre hinausgehoben; ihre Begeisterung ging nicht so weit, ihn als Gott zu betrachten. Sie hielten ihn nur für einen höherbegabten Menschen, der nur, weil er wie keiner vor ihm das Gesetz erfüllt habe, würdig befunden worden, der Messias Gottes zu sein. Sie wichen daher vom Gesetze des Judentums nicht ab, beobachteten Sabbat, Beschneidung, Speisegesetze und hielten Jerusalem und den Tempel heilig117. Schwerlich würden sie das Gesetz beobachtet haben, hätte sie Jesus die Verwerfung desselben ausdrücklich gelehrt, oder hätten sie ihn davon abweichen gesehen. Doch hatten sie auch neben dem Glauben an den bereits erschienenen Messias einige Eigentümlichkeiten, wodurch sie sich von den übrigen Judäern unterschieden. Die freiwillige Übernahme der Armut, die sie Jesus gelehrt, war ein hervorstechender Zug an ihnen. Sie beriefen sich auf seinen Ausspruch, den er den Jüngern eingeschärft habe: »Ihr sollt nicht Gold, noch Silber, noch Erz in euern Gürteln haben, auch keine Taschen zur Wegefahrt, auch nicht [310] zwei Kleider, keine Schuhe, keinen Stab«118. Von dieser freigewählten Armut hießen sie Ebioniten (Arme119), ein Name, den sie entweder sich selbst gegeben oder von den Außenstehenden erhielten. Dadurch war von selbst das Zusammenleben in Gütergemeinschaft erforderlich, so daß jeder Hinzutretende sein Hab und Gut verkaufte und den Erlös der gemeinschaftlichen Kasse überwies120. Nach dieser Seite hin entfernten sich die ersten Christen oder Judenchristen, von den Judäern Nazaräer oder Nazarener genannt, nicht von ihrem Ursprung, dem Essäertum. Zur Verwaltung der Gelder und Besorgung der gemeinsamen Mahlzeiten bestellten sie, wie es in jeder judäischen Gemeinde üblich war, sieben Verwalter121. Die essäische Lebensweise der ersten Anhänger Jesu zeigte sich auch in ihrer Enthaltsamkeit von Fleisch und Wein, in dem ehelosen Leben, in der Verachtung des Öles zum Salben und überflüssiger Gewänder; ein einziges weißes Linnengewand genügte ihnen. Von Jakobus, Jesu Bruder, welcher wegen seiner Blutsverwandtschaft zum Vorsteher der ersten judenchristlichen Gemeinde gewählt worden war und ihr als Muster galt, wird erzählt122, er habe weder Wein, noch sonst Berauschendes getrunken, kein Tierfleisch gegessen, ein Schermesser sei nie über sein Haupt gekommen, er habe kein Kleid von Wolle, sondern ein solches von Linnen getragen und überhaupt nur ein Kleid besessen. Von diesem musterhaften Leben erhielt Jakobus [311] den Ehrennamen der Fromme (Oblias, Ozli-Am). Er lebte streng nach dem Gesetze und war ungehalten darüber, wenn Judenchristen sich Vergehungen gegen dasselbe erlaubten123. Neben ihm standen der ersten ebionitischen Gemeinde noch vor: Simon Kephas oder Petrus ben Jonas und Johannes ben Zebedaï. Diese bevorzugten Jünger werden »die Säulen des Christentums genannt.« Simon Petrus war der tätigste unter sämtlichen Jüngern Jesu; er gab sich Mühe, Anhänger für den Glauben an Jesus und für die christliche Lebensregel zu werben. Er wird indes als ein schwankender Charakter geschildert. Die christlichen Quellen sagen von ihm aus, er habe bei Jesu Gefangennahme ihn dreimal verleugnet, und sein Meister habe ihn selbst kleingläubig genannt124. Sein Gegner berichtete: Petrus habe ohne Rücksicht auf die Speisegesetze mit den Heiden gegessen. Sobald aber Leute von Jakobus' Anhang zugegen waren, habe er aus Furcht an heidnischen Mahlen keinen Teil genommen125. Er sowie die anderen Jünger wollten von Jesus dazu beauftragt worden sein, zu den »Verlorenen des Hauses Israel« zu gehen, um sie der Brüderlichkeit und Gemeinschaft des Gottesreiches teilhaftig zu machen. Sie sollten gleich Jesus und Johannes dem Täufer das Himmelreich verkünden; kaum geboren, ging das Christentum schon auf Eroberung und Proselyten aus. Die Jünger Jesu behaupteten, von Jesus die Gabe empfangen zu haben, Kranke zu heilen, Tote zu erwecken und böse Geister zu vertreiben126. Die Dämonenbeschwörung, die bei Jesus nur eine Zufälligkeit war, machten sie zu einer stehenden Funktion und verbreiteten den von Galiläa aus mitgebrachten Glauben an die Macht des Satans und der bösen Geister, welche durch diesen Glauben erst recht Wesenhaftigkeit erhielten. Innerhalb des Judentums war der Dämonenglaube harmloser Natur, ohne religiöses Gepräge; erst im Christentum wurde er zum Glaubensartikel erhoben, dem Hekatomben von Menschenopfern fielen. Die ersten Christen gebrauchten oder vielmehr mißbrauchten den Namen Jesu zu allerhand Beschwörungen und Bannungen; alle diejenigen, welche an Jesus glaubten, schrieben sich die Macht zu, in seinem Namen böse Geister vertreiben, Schlangen beschwören, Kranke durch Händeauflegen heilen zu können, ja so sehr seien sie gefeit, daß, wenn sie etwas Tödliches tränken, es ihnen nicht schaden würde127. Teufelsbannung [312] (Exorcismus) ward allmählich ein stehendes Geschäft der christlichen Oberen; der Aufnahme eines neuen Mitgliedes ging eine Dämonenbeschwörung voran, als wäre dasselbe bis dahin vom Teufel besessen gewesen. Kein Wunder, daß die Judäer die Nazaräer und die Heiden die Christianer als Teufelsbeschwörer und Magier ansahen. Doch in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Tode wurden sie in judäischem Kreise wenig beachtet. Wegen des niedrigen Standes, dem sie angehörten, entgingen sie der Aufmerksamkeit. Sie bildeten eine eigene Sekte und wurden wahrscheinlich den Essäern zugezählt, mit denen sie so viele Berührungspunkte hatten. Sie würden sich überhaupt verloren haben, wenn nicht später ein Mann aufgetreten wäre, welcher der Sekte eine Verbreitung gab und sie zu einer Höhe erhob, die ihr die Weltherrschaft sicherte.
Ein Unstern waltete über dem judäischen Volke seit einem Jahrhundert, seitdem der Bruderkrieg der letzten Hasmonäer die römische Zwingherrschaft über Judäa gebracht hatte. Jedes neue Ereignis schlug zu immer größerem Unglück für sie aus. Kohelets Trostwort: es gebe nichts Neues unter der Sonne, erwies sich auch als eitel. Das in phantastischer Verschwommenheit in den Gemütern lebende messianische Gebilde, das eine greifbare Gestalt angenommen hatte, war doch etwas Neues, das bis dahin noch nicht auf der Welt gewesen war, und diese Neugeburt mit der Totenmaske sollte dem judäischen Volke neue und schmerzliche Wunden schlagen. Das Messiastum aus Nazaret war aus dem Mutterschoß der essäischen Sekte hervorgegangen, und da diese bereits einen Groll gegen das von pharisäischen Grundlehren gestaltete Leben des Volkes hatte, so erbte das Kind diesen Groll und steigerte ihn noch, vom Schmerze gestachelt, den es durch den Tod seines Stifters empfand. Nicht wenig hat der Landpfleger Pontius Pilatus zu der feindseligen Stimmung der christlichen Sekte gegen ihr eigen Fleisch und Blut beigetragen. Er hatte zum Tod noch Schmach und Hohn hinzugefügt, hatte ihren Messias gegeißelt und gekreuzigt wie den niedrigsten Sklaven und hatte ihm zum Hohn für den »König der Judäer« die Dornenkrone aufgesetzt. Dieses Bild des bluttriefenden Jesus mit der Dornenkrone schwebte dessen Anhängern stets vor Augen und flößte ihnen Rachegedanken ein. Anstatt aber ihren Unwillen gegen das grausame, blutdürstige Römertum zu kehren, machten sie die Vertreter des judäischen Volkes und allmählich dieses selbst in seiner Gesamtheit dafür verantwortlich. Sie machten sich vergessen oder vergaßen mit der Zeit, daß Pilatus der Mörder ihres Meisters war und wälzten die Blutschuld auf das Haupt des ganzen judäischen Stammes128.
[313] Wenn der Nachricht zu trauen wäre, daß Tiberius nach Sejans Sturze ein gewisses Wohlwollen gegen die Judäer gezeigt hat129 – wiewohl dieses Wohlwollen ebensogut in der Launenhaftigkeit des Kaisers seinen Grund haben mochte – so ließe sich daraus die sonst auffallende Erscheinung der Milde erklären, mit welcher die judäische Nation in dieser Zeit behandelt wurde. Die Judäer fanden Fürsprecher bei Hofe namentlich an Tiberius' Schwägerin Antonia, die ihm das Komplott des Sejan gegen ihn verraten hatte und die Freundin judäischer Großer war. Infolgedessen nahm Tiberius den Achtbefehl gegen die römischen Judäer zurück. Vitellius, Statthalter von Syrien, war ganz Zuvorkommenheit gegen die Judäer, ging nicht bloß auf ihre Klagen ein, sondern half ihnen ab und schonte mit einem an einem Römer ungewohnten Zartgefühl die empfindlichen Seiten derselben. Auf die Beschwerden, welche Judäer und Samaritaner bei ihm gegen den Landpfleger Pilatus erhoben, sandte er ihn ohne weiteres nach Rom zum Kaiser, um sich vor ihm zu rechtfertigen130. Da Vitellius bei der Gelegenheit zum Passahfeste selbst nach Jerusalem gekommen war (36), um sich von dem Stande der Dinge zu überzeugen, so zeigte er sich geneigt, das römische Joch so viel wie möglich zu mildern. Er erließ den Einwohnern Jerusalems die Steuern von den Marktfrüchten131, weil die Hauptstadt für ihren Bedarf größtenteils auf den Markt angewiesen war und daher die Steuer drückender empfand. Er befreite ferner den hohenpriesterlichen Ornat von Schloß und Riegel der Burg Antonia und übergab ihn dem Priesterkollegium zur Hut, in dessen Händen er eine Zeitlang blieb132. Doch das Recht, die Hohenpriester zu ernennen, vergab Vitellius nicht; es war zu wichtig für die römischen Interessen. Er machte selbst davon Gebrauch, an die Stelle des Joseph Kaiaphas Jonathan, Sohn Anans, einzusetzen133. Kaiaphas hatte während der ganzen Verwaltungszeit des Pilatus fungiert und mag sich wohl mit demselben verstanden haben; daher er bei der Nation mißliebig gewesen zu sein scheint. Alle diese Begünstigungen der Judäer gewährte Vitellius ohne ausdrücklichen Befehl des Kaisers und vermutlich nur nach allgemeiner Andeutung über das Verhalten gegen dieselben. Einen bestimmten Auftrag erhielt er vom Kaiser, den Fürsten Herodes Antipas mit der ganzen verfügbaren römischen Kriegsmacht gegen den König Aretas zu unterstützen und zwar für eine ungerechte [314] Sache. Antipas hatte die Tochter dieses Aretas, Königs der Nabatäer, zur Frau; nichtsdestoweniger verliebte er sich in Herodias134, die Frau seines Halbbruders Herodes, welcher, von seinem Vater Herodes I., enterbt, als Privatmann irgendwo, wahrscheinlich in Cäsarea, lebte. Auf einer Reise nach Rom hatte er sie kennen gelernt, und die ehrgeizige Herodias, die sich im Privatstande unglücklich gefühlt haben mag, hatte treulos ihren Gatten, nachdem sie ihm eine Tochter geboren, verlassen und war gewissenlos – gegen das Gesetz – eine Ehe mit dessen Bruder eingegangen. Antipas erste, nabatäische Gemahlin, mit Recht über seine Treulosigkeit erzürnt, war zu ihrem Vater Aretas entflohen und hatte ihn zu einem Kriege gegen ihren treulosen Gatten gereizt. Grenzstreitigkeiten zwischen beiden, wegen Teilung des Gebietes Galaditis (Gilead), gaben den Vorwand zum Kriege, der eine geraume Zeit hindurch wohl nur in kleinen Fehden bestand. Endlich erlitt Antipas eine große Niederlage. Sobald er dies dem Kaiser angezeigt hatte, gab dieser sofort Vitellius Befehl, Antipas gegen den Nabatäerkönig beizustehen. Als Vitellius mit zwei Legionen von Ptolemaïs durch Judäa ziehen wollte, nahmen die Judäer abermals Anstoß an den Kaiserbildern, welche die Legionen an den Standarten hatten, und mit denen sie durch Judäa und Jerusalem ziehen sollten. Der römische Feldherr trieb indes die Gefälligkeit so weit, das Heer nicht durch das judäische Land, sondern jenseits des Jordans ziehen zu lassen. Während dieses gegen Petra zog, begab sich Vitellius mit Antipas nach Jerusalem zum Passahfeste, wurde aufs zuvorkommendste empfangen und opferte daselbst. Ehe er aber weiter ziehen wollte, erhielt er die Nachricht von Tiberius' Ableben (16. März 37) und unterließ den Kriegszug bis auf neue Verhaltungsbefehle des neuen Kaisers135. Vitellius war [315] für Judäa unstreitig der beste unter allen Landpflegern, und die Nation bewahrte ihm ein freundliches Andenken. So wird wohl auch die Entsetzung des Hohenpriesters Jonathan und die Ernennung von dessen Bruder Theophil, die von ihm ausgegangen waren, nicht gegen den Wunsch der Nation geschehen sein136.
1 Malachi, 3, 23-24; Tractat 'Edujot Ende; Evangelium Matthäi 11, 14; 17, 10 und die Parallelstellen in den anderen synoptischen Evangelien. Vergl. folgende Note.
2 Gegenüber der Behauptung Straußens, daß die Evangelien Jesu Messianismus nach einem Modell ausgearbeitet hätten, und daß dieses Modell, die messianische Theorie, noch vor Jesu Erscheinen in der Anschauung der Judäer fix und fertig gewesen sei, behauptete zuerst Bruno Bauer (Kritik der evangel. Geschichte I, S. 391 fg., Philo, Strauß, Renan und das Urchristentum 1874, S. 42 fg.) das Entgegengesetzte, daß die ausgebildete Messiasidee erst später nach Entstehung des Christentums und infolge desselben sich entwickelt habe. Holzmann folgte dieser Anregung und rechtfertigte diese Annahme (Jahrb. für deutsche Theologie 1867, S. 389 fg.) durch Belege. Mit Recht erklärt Schürer diese Annahme für haltlos (Lb. der neutest. Zeitgesch. 586 fg. [jetzt II3, 504 ff.]). Aber seine Argumente sind durchaus nicht schlagend. Das vorchristliche Alter des Psalterium Salomonis und des Henoch steht noch nicht so fest, daß sie als Beweismittel gebraucht werden könnten, weil in denselben die Messiasidee ausgebildet erscheint. Ebensowenig läßt sich dafür aus der Ascensio Mosis und dem Buche der Jubiläen argumentieren, deren Abfassungszeit entschieden nachchristlich ist [vergl. hierzu jedoch Schürer III3, 218 f., 277]. Philo spricht allerdings von der Erlösung Israels, aber nicht von einem Messias. Der Zeithintergrund von Sibyllina III, 652-656 ist auch noch nicht kritisch gesichert. So bleibt von Schürers Beweisen nur Sibyll. III, 46-50, wo allerdings von einem »ἁγνὸς ἄναξ« die Rede ist, da dieses Stück unstreitig aus der Zeit des zweiten Triumvirats stammt (V. 51-52):
καὶ τότε Λατίνων ἀπαραίτƞτος χόλος ἀνδρῶν
τρεῖς Ῥώμƞν ... καταδƞλἠσονται. Vergl. o. S. 204.
Zwei wichtige Beweise aber aus unzweifelhaft vorchristlichen Schriften hat Schürer ebenso wie die anderen Forscher übersehen. Makkabb. I, 14, 41 ist in der für Simons Wahl zum Fürsten ausgestellten Urkunde angegeben: τοῠ εἶναι Σίμωνα ἡγούμενον ... εἰς τὸν αἰῶνα ἕως τοῠ ἀναστῆναι προφἠτƞν πιστόν. Der treu bewährte Prophet kann kein anderer als Elia sein. Die Hauptvertreter des Volkes haben also damit sagen wollen, daß sie diese Wahl unbeschadet der Legitimität des davidischen Hauses getroffen haben. Denn mit der Parusie Elias waren das Erscheinen des Messias aus dem Hause Davids und die Erlösung Israels eng verbunden gedacht, wie aus der zweiten, noch älteren und ebenfalls übersehenen Stelle hervorgeht. Sirach, wo er Elia preist (48, 10-11), sagt noch mehr als Maleachi von ihm aus: ἐπιστρέψαι καρδίαν πατρὸς πρὸς υἱὸν καὶ καταστῆσαι φυλὰς Ἰακώβ μακάριοι οἱ ἰδόντες (Var. εἰδότες) σε καὶ οἱ ἐν ἀγαπἠσει κεκοσμƞμένοι, καὶ γὰρ ἡμεῖς ζωῇ ζƞσόμεϑα. Elia soll demnach die Stämme Jakobs aufstellen, aufrichten, wiederherstellen: יטבש תא םיקהל בקעי, d.h. also die Erlösung bringen oder befördern. Der Schluß, V. 11, ist unverständlich, wenn man nicht eine bessere L.-A. dafür setzt. »Glücklich, die dich sahen und in Liebe geschmückt sind?« Was soll das bedeuten? Liest man statt κεκοσμƞμένοι – κεκοιμƞμένοι [Der Vorschlag wird durch die L.-A. guter HSS. bestätigt. Vergl. Schlatter, Das neu aufgef. hebr. Stück des Sirach (1897), S. 90.] die Entschlafenen, so erhält der V. einen besseren Sinn. Aber auch ἐν ἀγαπἠσει kann nicht richtig sein. In Liebe entschlafen? Hebräisch muß der V. gelautet haben ינשי המדאב, und der Übersetzer hat falsch gelesen הבהאב. Also »glücklich die dich, Elia, im Leben sahen und auch die in der Erde Entschlafenen, denn wir werden des Lebens leben.« Sirach hat demnach mit dem Wiedererscheinen Elias nicht bloß die Wiederherstellung der Stämme, sondern auch die Auferstehung verknüpft – selbstverständlich nach der Anschauung seiner Zeit. Wir haben also Zeugnisse aus dem zweiten und ersten vorchristlichen Jahrhundert, daß die Messiasidee mit einem mystischen Nimbus im Volke gelebt hat. [In dem jetzt aufgefundenen hebr. Text des Sirach sind gerade diese beiden Verse nur trümmerhaft überliefert. Am empfehlenswertesten sind die Vorschläge N. Peters, Der hebr. Text des Eccles. (1902), S. 273 f., 421. Vergl. Ryssel (in Kautzschs Apokryphen des A. T), S. 264 und Schlatter, a.a.O., S. 90, 115].
3 Philo de execrationibus 8-9 ed. Mangey T. II, p. 435 ξεναγούμενοι πρός τινος ϑειοτέρας ἢ κατὰ φύσιν ἀνϑρωπίνƞς ὄψεως κ. τ. λ. Darunter soll eine Feuersäule, wie beim Auszug aus Ägypten verstanden werden, in der Haggada דובכ יננע genannt. Vergl. Korintherbr. 10, 1.
4 Philo das.
5 Vergl. Note 12, II.
6 Matthäus 3, 4 fg., 11, 18 und Parall.
7 Die Geschichte des Urchristentums wird nie einen hohen Grad historischer Gewißheit erlangen können, weil die Hauptquellen, die Evangelien, von Legenden und tendenziöser Darstellung ganz durchzogen sind. Die Urgeschichte beginnt mit Johannes' Vorläuferschaft – auch dieser Zug ist tendenziös. Die Chronologie bezüglich Johannes' Auftreten bietet einen unentwirrbaren Knäuel. Vergl. über die Schwierigkeiten und die notbehilflichen Ausgleichungen Sevin, Chronologie des Lebens Jesu, ed. 2, S. 87 fg. Die Schwierigkeit liegt besonders darin, daß Johannes (nach Lukas 3, 1 fg.) im 15. Jahre des Tiberius aufgetreten, daß bald darauf Jesus von ihm getauft worden und – nach den synoptischen Evangelien – nur ein einziges Jahr gewirkt haben soll, und noch dazu darin, daß Johannes von Herodes Antipas noch vor Jesus infolge seiner Interpellation an denselben wegen der Ehe mit Herodias hingerichtet worden sein soll, daß also alles zusammen während der Jahre 29-30 geschehen sein müßte, während nach Joseph. (Altert. XVIII, 5, 1) Herodes Antipas' Ehe mit Herodias und die Verstoßung seiner ersten Frau, der Tochter des nabatäischen Königs, sowie der Krieg mit diesem König kurz vor Tiberius' Tod 35-36 stattgefunden haben (das. 5, 3). [Aus der Vergleichung von XVIII 5, 1 ff. mit das. 6, 2 ff. geht jedenfalls soviel hervor, daß die Herodias-Ehe und der Krieg mit Aretas keineswegs in sehr nahem chronologischen Zusammenhange gestanden haben]. Eine noch größere Schwierigkeit entsteht dadurch, daß Jos. (a.d. erst. St.) erzählt, Antipas' nabatäische Frau habe sich aus Eifersucht nach Machärus begeben, weil diese Festung damals ihrem Vater gehört habe (εἰς τὸν Μαχαιροῠντα, τότε πατρὶ αὐτῆς ὑποτελῆ), und daß er gleich darauf berichtet, Antipas habe Johannes in Machärus gefangen gesetzt. Es müßte demnach zur selben Zeit die Festung diesem, und nicht dem Nabatäerkönig, unterstanden haben. [Die richtige Lesart a.a.O. ist »τῷ τε πατρὶ αὐτῆς ὑποτελεῖ«, wodurch jede chronologische Schwierigkeit wegfällt. Vergl. Niese z. Stelle und Schürer I3, 436, N. 20.] Indessen ist dieser Punkt leicht zu erledigen. Josephus' Bericht über Johannes, seine Gefangennahme und sein Tod (das. 2, 2) ist eine unverschämte Interpolation, wie der über Jesus (das. 3, 3), der jetzt allgemein als eine Fälschung angesehen wird. [Ob beide Stellen geradezu christliche Fälschungen seien, ist doch nicht ganz zweifellos. Zweifellos ist nur, daß sie beide in so starker christlicher Überarbeitung vorliegen, daß die etwaige echte josephinische Aussage nicht mehr zu erkennen ist. Standen aber Aussagen des Josephus auch nur an den Stellen, an denen sie sich jetzt befinden, so bezeugen sie m.E. deutlich, daß dem Josephus ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten Jesu und Johannes nicht bekannt war. Die Literatur über die Echtheits-Frage s. bei Schürer I3, 436 ff., 544 ff.] Wie konnte auch Josephus geschrieben haben Ἰωάννου τοῠ ἐπικαλουμένου Βαπτιστοῠ, ohne für die griechischen Leser zu erklären, was denn eigentlich ein Täufer ist? Dieses Kapitel ist eine geschickt-ungeschickte Fälschung. Da das Lukas-Evang. noch andere chronologische Schnitzer begeht, z.B. Jesu Geburt in die Zeit der Schatzung des Quirinius setzt (7 nach Chr.) und dabei dennoch in das Todesjahr des Herodes (4 v. Chr.), so kann, von anderen Unrichtigkeiten abgesehen, das Todes-Datum – 15. Tiberius' – einfach falsch sein. Soll es richtig sein, so kann Johannes' Tod nicht erfolgt sein wegen seines Tadels der Ehe mit Herodias, wie denn dieser Zug ebenso tendenziös ist wie der Kindermord zu Bethlehem. – Daß Johannes, wie seine Lebensweise in den Evang. geschildert wird, ein Essäer war, ist so sonnenklar, daß die Apologeten selbst es nicht ableugnen können; vergl. Keim, Geschichte Jesu von Nazara, I, 183. Sein Argument von Banus ist unglücklich. Auch dieser war ein Ultra-Essäer; vergl. Note 12. Was soll denn der Beiname Βαπτιστὴς, der Täufer, anders bedeuten, als ein Mann, der sich und andere im Wasser badet לבוט, תירחש לבוט? Was sonst über die Bedeutung seiner Taufe angegeben wird – auch in Renans Leben Jesu – ist Widersinn. Proselytentaufe? Er taufte ja nur Judäer! – Johannes' Taufplatz Bethabara (V. Bethania) jenseits des Jordans nennt nur das Johannes-Evang. – verdächtig genug. Es ist auch ein Widerspruch gegen die Angabe der synopt. Evang., wonach der Taufort »in der Wüste«, d.h. in der Nähe des toten Meeres und zwar diesseits gewesen sei.
8 Matthäus 9, 14; 11, 18 und Parallelstellen.
9 Das. 3, 7-12. Dieser ganze Passus fehlt im Markus-Evangelium, d.h. in der Grundschrift des Matthäus (wovon weiter unten). Die Schimpfnamen »Otterngezücht, Schlangenbrut« für die Pharisäer sind in den Evangelien stehende Formeln geworden (Matthäus 12, 34; 23, 33). Sie stammen sicherlich aus den ersten Reibungen zwischen Judäern und Judenchristen in der Bar-Kochbaïschen Zeit und sind auch Johannes dem Täufer in den Mund gelegt worden.
10 Mätthäus 4, 12 und Parallelstellen.
11 Das. 11, 2-12 und Parallelstellen.
12 Matthäus 14, 3-11 und Parallelstellen. Vergl. die Note zu Ende dieses Kapitels, daß Herodias Tochter Salome wohl im Jahre 29-30 bereits verheiratet gewesen ist.
13 Das. 9, 14; 11, 2; 14, 12.
14 Matthäus 2, 23; 21, 11; Lukas 2, 39; Johannes 1, 45 f. Der letztere, welcher keinen Grund hatte, die Messianität Jesu nach judäischen Begriffen zu rechtfertigen, gibt gar nicht an, daß Jesus im judäischen Bethlehem geboren sei. Übrigens hatte Nazaret auch den Namen Bethlehem (im Stamme Sebulon), daher die Sage.
15 Matthäus 13, 55; Markus 6, 3; Lukas 4, 22; Jo hannes 6, 42. Josephs Vaterschaft müssen alle, auch halbrationalistische christliche Theologen annehmen, wenn sie nicht die Mystik einer jungfräulichen Geburt zugeben wollen.
16 Nur im Lukas-Evangelium 2, 42-50. Auch Josephus will der Art Erstaunliches geleistet haben, vita 2.
17 B. Nedarim 18 b.
18 Ketubbot 12 a; Tosefta Ketubbot I, 4.
19 M. Pesachim IV, 5.
20 Nedarim 48 a.
21 Vergl. Matthäus 26, 73; Markus 14, 70. Die Beistehenden sagen zu Petrus: »Du bist ein Galiläer und deine Sprache lautet also«; vergl. b. Erubin 53 a, Megilla 24 b.
22 Renans Beschreibung Nazarets im Leben Jesu (2. Kap.) ist reine Schönfärberei, und die Phrase: »Selbst in unseren Tagen ist Nazaret noch ein köstlicher Aufenthaltsort, vielleicht der einzige Ort Palästinas, wo die Seele sich von der Last ... etwas erleichtert fühlt«, ist unwahr. Ich und andere Touristen fanden die Gäßchen von Nazaret voll Unrats. Die Gegend um den Thabor ist viel lieblicher und die von Sichem und selbst die von Bethlehem bis Hebron viel fruchtbarer.
23 Bei der Darstellung des Urchristentums darf der Historiker nur den historischen, d.h. kritischen Standpunkt einnehmen. Diesen Standpunkt errungen zu haben, ist eine glänzende Seite des deutschen Geistes. Englische Deisten, Voltaire und die Enzyklopädisten haben das Christentum einfach verspottet, ohne über sein Wesen recht klar geworden zu sein. Plump ist noch die Ansicht des Verfassers der Wolfenbüttler Fragmente (Reimarus), daß Jesus einfach ein Betrüger gewesen, der sich zum König der Juden habe aufwerfen wollen, und als ihm der Versuch mißlungen, die Erklärung abgegeben habe: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt!« Die Rationalisten im Anfange des 19. Jahrhunderts, als deren Repräsentant Paulus aus Heidelberg gelten kann, schlugen den umgekehrten Weg ein, indem sie die neutestamentlichen Wunder samt und sonders verwarfen, das Geschichtliche daran aber festzuhalten und auf das Maß des Natürlichen zurückzuführen suchten. – Epochemachend in der neutestamentlichen Kritik ist Straußens Werk »das Leben Jesu« (1835). Er wies darin unwiderleglich nach, daß viele Erzählungen in den Evangelien Mythen sind, von den Trägern der jungen Kirche unbewußt gedichtet und aus dem Bestreben hervorgegangen, die alttestamentlichen Weissagungen vom Messias als eingetroffen darzustellen. »Das und das ist geschehen, auf daß das und das erfüllt werde«. Straußens kritischer Gesichtspunkt erhellte aber nur zum Teil den dunklen Grund der Evangelien; er erklärt vieles, aber nicht alles. Es blieb noch vieles in Dunkelheit, das sich nicht durch diese Methode begreifen läßt. Einen weiteren Fortschritt in der neutestamentlichen Kritik machte die Tübinger Schule. Angeregt von F. C. Baur ging sie bei der Beleuchtung der Evangelien von dem Gegensatze aus, der das apostolische und nachapostolische Zeitalter in zwei Lager spaltete, dem Gegensatze des Ebionitismus, der das judäische Gesetz mit einer essäischen Beimischung innerhalb des Christentums festgehalten wissen wollte, und des Paulinismus, der sich feindlich gegen das Gesetz verhielt und die Gottessohnschaft scharf betonte. Gründlich wiesen die Anhänger dieser Schule mit mehr oder weniger Konsequenz nach, daß die Evangelien durchweg von diesem Gegensatz beherrscht seien und ihn überall reflektieren. Erst durch diesen Hauptschlüssel ist die Kritik imstande zu prüfen, was in den Evangelien historisch ist und was einen tendenziösen, polemischen Charakter hat. Freilich schmilzt dadurch das glaubwürdig Historische in den Evangelien zu einem Minimum zusammen. Noch hat sich aber die kritische Schule nicht an die Aufgabe gemacht, das Authentische im Leben Jesu von dem Mythischen und Tendenziösen auszuscheiden. Sie scheut die Desillusion. Auch von einer anderen Schwäche kann sie sich nicht losmachen, daß nämlich ein einziges Evangelium (sei es Matthäus oder Markus) unmittelbar vor oder unmittelbar nach der Tempelzerstörung (70-80) verfaßt worden sei. Die Argumente dafür beruhen auf sehr schwachen Füßen. Das Leben Jesu ist in dem ältesten Evangelium erst über ein Jahrhundert nach seinem Heimgang (135-138) schriftlich dargestellt worden und enthält neben wenigen Traditionen viele Mythen und tendenziöse Ausschmückungen. Im allgemeinen läßt sich an dem Kanon festhalten, daß diejenigen Äußerungen Jesu, die einen gesetzesfeindlichen Charakter haben oder dem Christentum eine universelle Bedeutung auch für die Heiden beilegen, durchaus unecht sind, da dieser Gesichtspunkt erst von Paulus aufgestellt und von den Hauptaposteln, namentlich von Jakobus und Johannes, scharf bekämpft wurde. Hingegen kann dasjenige in den Evangelien, was an den Ebionitismus, an Nomismus und an die Messianität für das israelitische Volk erinnert, Anspruch auf Authentizität machen. Über die essäischen Elemente im Urchristentum weiter unten.
24 Die Nächstenliebe wird in den Evangelien und in den apostolischen Briefen mit einem Zusatze gelehrt, der beweist, daß diese Lehre nicht als eine ursprünglich christliche aufgestellt wurde. Matthäus 22, 37-40 heißt es: Die Liebe zu Gott und die Liebe zu dem Nächsten seien die Hauptgebote des Judentums: »an diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.« Das. 7, 12: Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen: das ist das Gesetz und die Propheten.« Dieser Zusatz hat nur einen Sinn, wenn man ihn auf den Vorgang zurückführt, in dem er zuerst aufgestellt wurde. Hillel hat nämlich einem Heiden, der das ganze Gesetz stante in pede uno lernen wollte, die Regel gegeben: Was dir verhaßt ist, tue auch deinem Nächsten nicht: המ דיבעת אל ךרבחל ינס ךלעד; das ist das ganze Gesetz, alles Übrige ist Erklärung: ךדיאו הלוכ הרותה לכ איה וז אשוריפ. Vergl. o. S. 207. Dieser Hintergrund schwebte sicherlich auch Jesus vor, als er diesen Satz aussprach. Auch Paulus stellte noch die Nächstenliebe mit diesem Zusatz auf (Galaterbrief 5, 14): »Das ganze Gesetz wird in einem Worte erfüllt, in dem: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« So formuliert es auch R. Akiba (Jerusalemischer Talmud), Traktat Nedarim VII, 4. Midrasch Genesis Rabba c. 24: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst,« ist eine Hauptregel (לודג ללכ = μεγάλƞ ἐντολἠ) in der Thora. Auf den Unterschied der negativen und positiven Fassung wird in den christlichen Urschriften kein Gewicht gelegt. Philo und der Verfasser des Apokryphons Tobias (der, nach meinem Dafürhalten, während der hadrianischen Verfolgung schrieb), haben diese Regel ebenfalls in der negativen Formulierung (2, 15): καὶ ὃ μισεῖς μƞδενὶ ποιἠσῃς, gerade wie Hillel, an den auch noch das dem chaldäischen ינס entsprechende μισεῖς erinnert (o. S. 207). Worauf es hier aber ankommt, ist, daß die Nächstenliebe auch im pharisäischen Kreise als Quintessenz des Judentums angesehen wurde, und daß Jesus hierhin von Hillel abhängig erscheint; das kann nicht geleugnet werden.
25 Sabbat 88 b; Joma 23 a; Gittin 36 b. Die Quelle hat den Charakter einer alten Tradition.
26 Matthäus 3, 13 ff. und Parallelstellen. Auch in der Haggada wird die Schechina (= heiliger Geist) unter dem Bilde einer Taube personifiziert.
27 Die richtige Fassung hat Lukas 6, 30; die Formulierung bei Matthäus 5, 3: »die Armen im Geiste«, halten die Kritiker mit Recht für eine antiebionitische Interpolation.
28 Matthäus 19, 23-24 und Parallelstellen.
29 Das. 6, 24 und Parallelstellen.
30 Das.
31 Vergl. Matthäus 19, 10-12.
32 Apostelgeschichte 2, 44; 4, 32; 5, 2. Im Johannes-Evangelium 12, 6. 13, 29, wird Judas Ischariot als Inhaber der gemeinschaftlichen Kasse dargestellt.
33 Die ursprüngliche Fassung des Verbotes zu schwören, welches auf Jesus zurückgeführt wird, haben der Jakobusbrief 5, 12, Justinus Martyr Apologie I, c. 16, Clemens Homilien III, 55, XIX, 2; bei Matthäus 5, 34-37 ist sie verwischt.
34 Es ist erstaunlich, daß selbst die halben Kritiker, die zugeben, daß Johannes der Täufer, der Vorläufer des Christentums, ein Essäer gewesen, die auch zugeben, daß die unmittelbaren Anhänger Jesu, die Ebioniten, essäisch gelebt haben, noch immer Scheu tragen, das Wort auszusprechen, welches die Rätsel des Urchristentums, wie es in den Evangelien dargestellt ist, zu lösen imstande ist: daß Jesus mit dem Essäertum zusammengehangen und vieles daraus entlehnt hat. Nur Strauß hat ganz zuletzt sich bewogen gefühlt, dieses Zugeständnis zu machen (alter und neuer Glaube, S. 248, Note 77): »Auch in die Anfänge des Christentums, dessen Zusammenhang mit dem Essenismus eine ebenso unabweisliche wie unerweisliche (?) Voraussetzung bleibt, sehen wir diese Richtung (der Essäer) hineinspielen, die in ihrer strengen Observanz die Ehe samt Fleisch- und Weingenuß verwarf.« Seitdem Renan den Roman »das Leben Jesu« verfaßt hat (1863), ist es aber Mode geworden, Schönfärberei damit zu treiben, den Gottmenschen, die »Vergottung« zwar fahren zu lassen, aber Jesu Person und Tun so preziös darzustellen und zu sublimieren, daß aus ihm ein göttlicher Mensch heraustreten soll. Es ist das die neue romantische Schule, Schenkel, Hausrath, Keim. Renans farbenreiches Gemälde, weil auf dem Grunde des mystischen Johannes-Evangeliums ausgeführt, ist allenfalls noch imstande, einen augenblicklichen Effekt hervorzubringen. Wie aber die Romantiker nach den synoptischen Evangelien den Stifter des Christentums so schildern können, daß er als der »Größeste« erscheine (wie sich Keim ausdrückt), ist unbegreiflich und ist nur möglich, wenn sie die Schattenseiten verdecken. Denn in diesen Evangelien wird der Schwerpunkt von Jesu Tätigkeit in seine Wundertäterei verlegt. Um eine umfassende Schilderung von Jesu Wirksamkeit zu geben, berichten alle drei Evangelien (Matth. 4, 23 und Parallelstellen): »Jesus ging umher im ganzen galiläischen Lande, lehrte in ihren Synagogen.. und heilte allerlei Seuchen und Krankheit im Volke.. und sie brachten zu ihm.. die Besessenen, die Mondsüchtigen und die Gichtbrüchigen, und er heilte sie«. Die Romantiker müssen das, was den Evangelisten als das »Größeste« an Jesus erschien, als sagenhaft wegeskamotieren. Geht man aber von der unabweislichen Voraussetzung der essäischen Richtung Jesu aus, so kann man den evangelischen Erzählungen gerechter werden. Allerdings hat man ihm allerlei Kranke und Besessene gebracht, weil man ihn zu den Essäern rechnete und diese allerdings Krankheiten auf magischem Wege heilen zu können glaubten. Wie man vor einen gewissen Eleasar, wahrscheinlich einen Essäer, Besessene brachte, damit er den Dämon aus ihnen treibe, und dieser ohne Zimperlichkeit in Gegenwart Vespasians und seines Kreises sich auf diese Kur einließ (Jos. Altert. VIII, 2, 5), ebenso kann man solche Dämonenbesessene vor Jesus gebracht haben, und er hat sie wohl ebenso wie jener Eleasar kuriert. Kurz alles Schwärmerische und Exzentrische im Leben Jesu nach den synoptischen Evangelien ist aus dem Essäismus, und nur aus ihm, zu erklären. Wie sagenhaft auch Hegesippus' Nachricht über Jakobus, angeblich Jesu Bruder (bei Eusebius, historia ecclesiae II, 23), klingen mag, namentlich der Zug, daß er wegen seiner Frömmigkeit in das Innerste des Tempels habe eingehen dürfen, so ist doch nicht zu übersehen, daß die nachapostolische Zeit, aus welcher Hegesippus' Zeugnis stammt, die rigorose Askese, deren sich Jakobus befleißigt haben soll, als außerordentliche Frömmigkeit ὑπερβολὴ δικαιοσύνƞ, d.h. daß sie die essäische Praxis hochgeschätzt hat. Deshalb wird von patristischer Seite von dem Apostel Matthäus berichtet (Clem. Alex. Paedag. II, 64): Ματϑαῖος μὲν οἶν ... σπερμάτων καὶ ἀκροδρύων καὶ λαχάνων ἄνευ κρέων μετελάμβανε. Essäische Elemente im Urchristentum sind nicht blos erweislich, sondern erwiesen. Nur die Schönfärberei will sie nicht sehen.
35 Vergl. Evangelium Johannis 4, 2.
36 Matthäus 4, 12, 17. In der Parallelstelle Markus 1, 15 findet sich dabei der verdächtige Zusatz: καὶ πιστεύετε ἐν τῷ εὐαγγελίῳ. Überhaupt gehören die Ausdrücke: εὐαγγέλιον oder εὐαγγελίζειν erst der nachpaulinischen Zeit an.
37 Das. 19, 16-20 und Parallelstellen.
38 Matthäus 9, 12; 10, 6; 15, 24; 18, 11-14; 21, 31 und Parallelstellen.
39 Ich glaube bei diesem Punkte dem Lukas-Evangelium folgen zu müssen, welches Jesus zuerst in Nazaret auftreten läßt (4, 16) und dann erst in Kapernaum (4, 31). Vers 14 muß als eine verallgemeinernde Einleitung zu dem weiterhin Erzählten genommen werden. Auch Matthäus 4, 13 deutet dieses Verhältnis an: »Er verließ Nazaret und kam zu wohnen in Kapernaum.« Freilich steht damit in Widerspruch Lukas 4, 23, wo angegeben ist, Jesus habe sich seiner Erfolge in Kapernaum gerühmt und mit Matth. 13, 54-58, wo angedeutet wird, daß Jesus erst nach großen Erfolgen in Galiläa nach seiner Vaterstadt (πατρίς, sicherlich Nazaret) gekommen sei. Dieser Widerspruch mag dem Umstande zuzuschreiben sein, daß die Evangelisten den üblen Eindruck verwischen wollten, daß Jesus bei seinem ersten Auftreten einen so hartnäckigen Unglauben gefunden. Sie schildern daher zuerst die glänzenden Erfolge.
40 Nur Lukas 4, 29 hat diesen Zug, die andern Synoptiker nicht, vgl. Matth. 13, 54 fg.
41 Matth. 13, 57 und Parallelstellen.
42 Tosefta Menachot IX, 2 םוחא רפכו םייחרב יטח ףא (רמעה תא) ןיאיבמ ויה ןהמו םילשורי רצד ויה ולא. Das. Babli p. 85 a: תוכומס אלמלא םיחא רפכו םיזרכ יטח ףא וכו םילשוריל'. Statt םייחרב an der ersten Stelle muß offenbar םיזרכ gelesen werden, das neutestam. Chorazin. Statt des an beiden Stellen korrumpierten Namens םיחא muß םוחנ-רפכ gelesen werden. Beide Städte lieferten also den allerbesten Weizen. Josephus nennt Kapernaum Κεφαρνόμƞ (Vita 72 u.a. St.).
43 Lukas 4, 38 deutet an, daß Petrus und seine Familie aus Kapernaum waren, die übrigen Synoptiker lassen diesen Punkt dunkel. Paulus sagt deutlich im Galaterbrief 2, 12-13, daß Petrus »gelegentlich mit den Heidnischen aß.«
44 Matth. 4, 21 ff., Markus 3, 17 ff.
45 Bei Matth. 9, 9 heißt der Zöllner Matthäus, bei Markus 2, 14 und Lukas 5, 27 dagegen Levi.
46 Matthäus 21, 31; 27, 55, 56 und Parallelstellen.
47 Markus 16, 9. Lukas 8, 2.
48 Matthäus 10, 9-10 und Parallelstellen.
49 Das. 18, 3-4: 19, 14 und Parallelstellen.
50 Das. 5, 39-40.
51 Das. 6, 3.
52 Anklänge an das Vaterunser finden sich in jüdischen Gebetstücken, wie von mehreren nachgewiesen wurde, zuletzt von Hippolyte Rodrigues.
53 In Markus 12, 28-33 ist die Einheit Gottes besonders hervorgehoben in den Parallelstellen dagegen Matthäus 22, 37 und Lukas 10, 27 fehlt gerade dieser wesentliche Punkt, gewiß nicht ohne Tendenz.
54 Matth. 19, 16-17 und Parallelst. Die Stelle ist sicherlich echt; denn sie widerstreitet der gnostischen Ansicht von dem gütigen und dem strengen Gott, von denen der erstere mit Jesus, der letztere mit dem Vater, dem Gotte des Gesetzes und der Weltenschöpfung, identifiziert wurde. Möglich, daß die Anrede an Jesus gelautet hat אנמחר [rachmana], was in den Evangelien mit ἀγαϑέ wiedergegeben ist. Darauf wäre Jesu Antwort, daß nur Gott so genannt werden dürfe, recht passend. In der talmudischen Literatur bedeutet nämlich das Wort אנמחר geradezu Gott.
55 Matthäus 5, 17-19, vergl. Jakobusbrief 2, 10-12. Aus dem Umstande, daß der konsequente Antinomist Marcion diesen Spruch im entgegengesetzten Sinn formulierte: »Ich bin gekommen, das Gesetz aufzulösen,« ergibt sich die Ursprünglichkeit der Fassung, wie sie die zwei Synoptiker haben. Auch der Talmud Sabbat 116 b, läßt einen Judenchristen (ןימ) den Satz aus Jesu Mund zitieren: ןמ תחפמל אל אנא היב ביתכ תיתא השמד אתירוא לע יפסואל אלו תיתא השמד אתירוא. Vergl. Güdemann, religionsgeschichtl. Studien S. 69 fg., wo nachgewiesen ist, daß die richtige L.-A. ist אלו יפוסואל und nicht אלא, daß also das ἀλλὰ πλƞρῶσαι ein Mißverständnis des aramäischen Originalspruchs sein muß. Auch ist das. nachgewiesen, daß dieser und andere Sprüche Jesu wahrscheinlich aus den von Papias zitierten λόγια Jesu stammen, und nicht aus einem Evangelium. Übrigens kann der Ausdruck μία κεραία Matthäus V. 17-19, ein Krönchen vom Gesetze, durchaus nicht von Jesus stammen. Denn κεραία ist gewiß גת, die Krönchen auf manchen hebräischen Buchstaben. Diese ןיגת wurden midraschisch-haggadisch gedeutet. Der Zusatz will also sagen, daß auch die exorbitante Ausdeutung des Gesetzes hohen Wert habe. Das klingt aber antipaulinisch.
56 Matth. 12, 10-12. Die Erzählung von dem Ährenausraufen der Jünger am Sabbat, das Jesus gebilligt habe, halte ich für eine paulinische Tendenz-Interpo lation. Denn sie steht im Widerspruch mit der Erzählung vom Heilen am Sabbat. Wenn, wie es daselbst heißt, der Mensch Herr des Sabbates sei (das. V. 8), so darf man nicht bloß am Sabbat Gutes tun, sondern der Sabbat ist überhaupt aufgehoben. Die Wendung, daß der Messias mehr sei als der Tempel, und daß, wenn für den Tempel der Sabbat entweiht werden dürfe, dies um so mehr für den Messias geschehen dürfe, klingt allzusehr antinomistisch. Vergl. Joh. 5, 16 ff.
57 Matthäus 5, 23.
58 Das. 6, 16.
59 Folgt aus Matthäus 9, 20; 14, 35 und Parallelstelle bei Lukas. Bei Markus 5, 27 fehlt das Wort κράσπεδον [steht jedoch das. 6, 56].
60 Matth. 7, 6.
61 Das. 15, 22-26; 10, 5 Selbst wenn diese heidenfeindlichen Äußerungen nicht authentisch wären, sondern aus judenchristlichem Kreise stammten, so vergesse man nicht, daß gerade dieser Kreis des Stifters Lehre am reinsten reflektierte.
62 Die Bergpredigt Matth. c. 5-7 ist zum Teile so gehalten, als wenn Jesus seine neue Lehre dem »Gesetz« entgegenstellen wollte. Allein ihre Authentizität ist mehr als verdächtig. Markus kennt die Bergpredigt gar nicht – folglich gehört sie zu den Einschiebseln in Matthäus' Grundschrift – und Lukas nur zum Teil. Ferner ist sie voller Widersprüche in sich. Bald wird das Gesetz hochgestellt, bald herabgezogen. Kann Jesus den unwahren Ausspruch getan haben: das Gesetz sagt, »hasse deinen Feind« (das. 5, 43)? Nur der gesetzesfeindliche Marcion kann solches aufgestellt haben, er, der bekanntlich Gegensätze (ἀντιϑέσεις) zwischen Judentum und Christentum aufgestellt und sich dabei nicht immer an die Wahrheit gehalten hat. Schon Calvin kam darauf, daß die sogen. Bergpredigt nicht in der Ordnung gehalten worden sein könne, wie sie bei Matthäus erscheint, sondern daß sie eine freie Zusammenstellung anderweitig von Jesus gesprochener Reden sei. Die meisten neueren Ausleger halten einen großen Teil derselben für eine freie Komposition des Evangelisten. Nimmt man noch hinzu, daß Lukas einen Teil dieser Rede halten läßt, als Jesus vom Berge heruntergestiegen war (6, 12; 17 fg.), so kann es nicht zweifelhaft sein, daß das Ganze der geschichtlichen Tatsächlichkeit entbehrt, daß Jesus überhaupt keine längere oder kürzere Berg- oder Ebene-Predigt gehalten und daß er noch weniger seine Lehre dem alten Bunde antithetisch entgegengesetzt hat. Wie unbestimmt ist nicht der Ausdruck: »er stieg auf den Berg.« Auf welchen? Und in welcher Gegend? In der Predigt soll Jesus sich gegen die Ehescheidung scharf ausgesprochen haben (5, 31 fg.)!
63 Matthäus 22, 23-32. Paulus' Dogmatik ist in den Episteln einzig und allein auf der Prämisse der Auferstehung gebaut.
64 Das. 5, 22.
65 Vergl. besonders darüber Matthäus 10, 8, Markus 9, 38 ff., 16, 17 ff., Lukas 9, 49.
66 Matthäus 11, 20-22.
67 Das. 19, 27 und Parallelstellen.
68 Das. 19, 28.
69 Um die Zwölfzahl der Apostel herauszubringen, müssen die Evangelien zu Notbehelfen Zuflucht nehmen. Sie ziehen einige Namen zusammen, oder lassen einige weg. So macht Matth. (10, 3) aus Lebbaios und Thaddaios und ebenso aus Matthäus und Levi eine einzige Person (das. 9, 9, vergl. mit Markus 2, 14, Lukas 5, 27). Lukas und die Apostelgeschichte haben im Apostelkatalog statt Lebbaios und Thaddaios einen Namen Juda Jakobi (6, 16 und Parallelstellen in Apostelgeschichte). Die Zwölfzahl ist durchaus ungeschichtlich und nur als Analogie angebracht, wie die 70 »Ältesten« bei Lukas, analog den 70 »Völkern« – תומוא םיעבש. Paulus spricht allerdings auch von den Zwölfen (I. Korintherbr. 15, 5: τοῖς δώδεκα); aber das beweist nur, daß damals bereits die Sage von der Zwölfzahl ausgebildet war. Die Institution der Apostel entstand überhaupt erst nach Jesu Tod.
70 Bei Matth. 10, 4 heißt er Σίμων Κανανίτƞς, bei Lukas 6, 15 und Apostelgeschichte 1, 13 heißt er Σίμων ζƞλωτῆς. Beides läuft auf eins hinaus, auf יאנק (Eiferer).
71 Matth. 16, 13-20. Im Markus-Evangelium 8, 27-30 ist die Nachricht viel ursprünglicher gehalten, bei Lukas 9, 18 ff. schon ziemlich verwischt. Die Ungeschichtlichkeit der evangelischen Kompositionen zeigt sich auch darin, daß sie Jesus schon früher als Davids Sohn erkennen und sich selbst als solchen bekennen lassen. Der Zug, daß er den Jüngern Stillschweigen über seine Messianität auflegte, dürfte eher historisch sein.
72 Matth. 17, 10-13 und Parallelstellen
73 Das. 8, 20; 10, 23 u.a.O.
74 Vergl. Sanhedrin 98 a. Davon wurde sogar der Messias mit einem Hybridum genannt ילפנ-רב Bar-νεφέλƞ (Wolkensohn) das. 96 b. unten.
75 Sukka 52 a. Deswegen wurde Psalm 2 an die Spitze des Psalters gestellt, weil er messianisch gedeutet wurde.
76 Lukas 24, 21.
77 Matth. 10, 27. Lukas 12, 3.
78 Matth. 12, 38; 16, 1. Die Worte an dieser Stelle: ἐκ τοῠ οὐρανοῠ sind sicherlich unecht, und ebenso der Schluß: »Wenn aber die Zeichen des Propheten Jona« Er fehlt bei Markus 8, 12.
79 Johannes-Evangelium 6, 66 fg.
80 Johannes 7, 3-5. Der Spruch Matth. 5, 15: »Niemand stellt sein Licht unter den Scheffel,« der im Zusammenhange gar nicht paßt, scheint die Ermahnung seiner Freunde an Jesus zu sein.
81 Matthäus 8, 20.
82 Nach dem Johannes-Evangelium, welches Jesus zu drei Passahfesten nach Jerusalem wandern läßt. Vergl. Sevin, Chronologie des Lebens Jesu S. 4 ff.
83 Matth. 19, 1; Markus 10, 1. Die beiden andern Evangelien (Lukas 17, 11 und Johannes 4, 4) sind geflissentlich bemüht, diesen Zug, gewiß eine alte Tradition, zu verwischen und lassen ihn Samaria berühren.
84 Matth. 19, 16-21 und Parallelstellen.
85 Das. 21, 1, wo Bethanien ausgefallen und aus den Parallelstellen der synoptischen Evangelien zu ergänzen ist, vergl. auch Matth. 26, 6. Über die Lage von Bethanien vergl. Note 22.
86 Matth. 21, 9 fg, vergl. mit 27, 23.
87 M. Schekalim, I, 3.
88 Vergl. Note 20.
89 Johannes 7, 41 f., 52.
90 Das. 1, 46.
91 Matth. 11, 2-19.
92 Das. 15, 3 fg. Vergl. Nedarim IX, 1.
93 Sowohl Talmud Babli (Sanhedrin 67 a in der unzensierten Amsterdamer Ausgabe von 1645) wie Jeruschalmi (das. VII, 16 p 25 d) geben an, daß dieses Verfahren, Zeugen im Verstecke zu halten, gegen Jesus angewendet wurde. Der erstere: אדטס ןבל ושע ןכו חספ ברעב והואלתו דולב, der letztere: אדטוס ןבל ושע ךכ ןיד תיבל יהיאיבהו םימכח ידימלת ינש וילע ונימכחו דולב והולקסו. Die Identität von Jesus und אדטס ןב wird im Talmud ohne weiteres vorausgesetzt. Die Bedeutung des Wortes אדטס ist unklar; die Etymologie, welche der babylonische Talmud a.a.O. und Sabbat 104 b. (in der unzensierten Ausgabe) von dem Worte gibt, ist abenteuerlich. Wenn man bedenkt, daß Prozesse gegen Volksverführer (תיסמ) selten oder gar nicht während des zweiten Tempels vorgekommen sind, so wird man geneigt sein, die Halacha von dem Verfahren gegen solche in der angeführten Mischna als dem Prozesse Jesu entlehnt anzunehmen Die genannte Mischna und die Boraita dazu dürften die einzigen authentischen Quellen im Talmud über Jesus sein. Was anderweitig noch über ihn im Talmud tradiert wird, trägt einen durchaus sagenhaften Charakter. Sanhedrin 43 a wird erzählt, ein Herold habe vierzig Tage vor Jesu Hinrichtung verkündet, dieser sei zum Tode wegen Zauberei und Volksverführung verurteilt, damit Entlastungszeugen sich melden sollten: (זורכה תיסהו ףשכש לע לקסיל אצוי ושי םוי 'מ (ושי ינפל) וינפל אצוי אלו וילע דמליו אבי תוכז וילע עדויש ימ לכ לארשי תא חידהו חספ ברעב והואלתו תוכז ול ואצמ. Das klingt aber ungeschichtlich, daß man gegen den Usus vierzig Tage zwischen der Verurteilung und der Hinrichtung habe verstreichen lassen. Noch sagenhafter klingt die Nachricht das. 107 b, daß Jesus Josua ben Perachja (lebte zur Zeit Hyrkanos' I.) nach Ägypten begleitet habe und andere Ungereimtheiten, die daselbst von ihm erzählt werden. Von derselben Art ist auch die Nachricht Sabbat a.a.O.: Jesus habe Zaubermittel aus Ägypten mitgebracht. Bemerkenswert ist nur, daß der Talmud wie Matthäus Jesus in Ägypten weilen lassen. Von Jesu Jüngern, die der Talmud aufzählt (Sanhedrin 43 a): הדותו ינובו רצנ יאקנ יאתמ, sind nur der erste und letzte geschichtlich, Matthäus und Thaddaios (oder Theudas): רצנ ist ein Sektenname, Nazaräer; ינוב ist identisch mit ןויריג ןב ןומידקנ (Taanit 20 a) und wohl auch mit dem nur im Johannes [3, 1 f.] 7, 50 erwähnten Nikodemus. יאקנ ist ganz unbekannt, vielleicht eine Abkürzung von Nikolaiten. Die Panthera-Sage ist schon im Talmud angedeutet. Jesus wird hin und wieder ארידנפ ןב genannt. Sie scheint während des Bar-Kochba-Krieges entstanden zu sein, da sie schon Celsus (zu Hadrians Zeit) kennt. Das Toldot Jeschu ist ein elendes Machwerk kompiliert aus fragmentarischen Sagen des Talmud über Jesus.
94 Matth. 26, 48 und Parallelstellen.
95 Das. 26, 56. 58.
96 Das. 26, 57 und Parallelstellen.
97 Das. 26, 61.
98 Das. 63. Es ist sehr auffallend, daß die Evangelien angeben, es seien falsche Zeugen gegen Jesus aufgetreten (Matthäus das. 26, 59. 60 und Parallelstellen), während sie selbst angeben, daß er wirklich das ausgesagt und wiederholt habe, wessen ihn die Zeugen beschuldigten.
99 Die Evangelien-Verfasser wußten selbst nicht mehr, wie Jesus auf die an ihn vom Gerichtshof gerichtete Frage geantwortet hat. Nach Matth. das. V. 64 lautete die Antwort »σὺ εἶπας«, was ebensogut eine Bejahung wie eine Verneinung bedeuten kann; nach Lukas 22, 70: »Ihr sagt es, daß ich es bin«; nach Markus hätte er geradezu geantwortet: »Ich bin es« (14, 62). Johannes läßt Jesus bei dieser Gelegenheit ein volles, langes Bekenntnis ablegen und sich auf seine öffentliche Lehrtätigkeit berufen – ein verdächtiger Zug!
100 Die drei ältesten, synoptischen Evangelien, oder vielmehr eine und dieselbe von allen dreien benutzte Relation, geben richtig an, daß der Gerichtshof ihn wegen Blasphemie, d.h. ףודג, verurteilt hat. Und der Zug, daß der Vorsitzende seine Kleider zerrissen habe (Matth. 26, 65; Markus 14, 63-64), spricht dafür und wird durch die Halacha bestätigt (Sanhedrin VII, 10-11). Auch Johannes 19, 7 berichtet, er sei nach dem Gesetze verurteilt worden, weil er sich selbst zu Gottes Sohn gemacht.
101 Die Synoptiker (Matth. 27, 11; Markus 15, 2; Lukas 23, 3) lassen Jesus auch hier antworten: »Du sagst es.« Johannes 18, 34 f. läßt ihn dagegen die Frage verneinen mit der Gegenfrage: »Sagst du das aus dir selbst, oder sagten es andere von mir?« und die Erklärung hinzufügen: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.«
102 Nur Matth. 27, 24 f. hat den Zug, daß Pilatus auf seine Hände Wasser gegossen zum Zeichen seiner Unschuld und den anderen vom Traum von Pilatus' Frau zu Jesu Rettung (das. 19). Da das Waschen der Hände ein judäischer Brauch war, vorgeschrieben für einen gefundenen Ermordeten, dessen Mörder unbekannt geblieben (V. M. 21, 6), so kann ihn der römische Landpfleger nicht angewendet haben. Mit Recht sehen daher Köstlin und Hilgenfeld in diesen Zügen die tendenziöse Interpolation eines paulinischen Diaskeuasten. welcher den Heiden Pilatus und seine Frau gläubiger gegen Jesus darstellen wollte als die Judäer.
103 Matth. 27, 34 und Parallelstellen. Dieser Wermutsbecher war aus Milde vorgeschrieben (Ebel Rabbati oder Semachot II, 9. Sanhedrin 43 a). In den Evangelien wird das aber als eine Grausamkeit gegen Jesus geschildert. Auch in Betreff der gereichten Flüssigkeit differieren die Evangelien. Markus 15, 23 hat noch wie der Talmud Wein mit Myrrhen (oder Weihrauch), Matthäus dagegen Essig mit Galle. Die übrigen haben den Zug gar nicht.
104 Matth. 27, 26 fg. und Parallelstellen. Aus dem Umstande, daß nach dem Berichte der beiden, die Fakta weniger als die anderen entstellenden Evangelien (Matthäus und Lukas) Jesus vor dem Tode gegeißelt wurde: φραγελλώσας παρέδωκεν, ἵνα σταυρωϑῇ folgert man gegenwärtig richtig, daß das ganze Strafvollziehungsverfahren gegen Jesus nach römischen Gesetzen eingeschlagen wurde, wozu auch das Tragen des Kreuzes gehörte. Vergl. Keim, Jesus von Nazara III, S. 390, Nr. 397, 409 ff. Jesus ist demnach von Pilatus als Staatsverbrecher, weil er sich selbst als Messias, als König der Judäer ausgegeben hat oder dafür gehalten wurde, hingerichtet worden. Das Synhedrion hat lediglich den Prozeß gegen ihn anhängig gemacht.
105 Matthäus 27, 33 Parall.
106 Josephus Altertümer XVIII, 4, 1.
107 Über Justus' Stillschweigen von Jesus vergl. Photii bibliotheca codex 33, abgedruckt in der Didotschen Ausgabe des Josephus (II, p. III). Das Stück Josephus Altert. XVIII, 3, 3 von Jesus wird heutzutage kein besonnener Forscher für echt halten, zumal es kein Kirchenschriftsteller vor Eusebius kennt, und Origenes (contra Celsum I, 35) im Gegenteil bezeugt, Josephus habe Jesu Göttlichkeit nicht anerkannt: ἀπιστῶν τῷ Ἰƞσοῠ ὡς Χριστῷ Ἰωσἠπος. In Eusebius' Zeit scheint diese Interpolation, wie die von Johannes dem Täufer, in Josephus' Geschichte hineingetragen worden zu sein [Vergl. die Bemerkung oben S. 276, N. 3].
108 Apostelgesch. 1, 15; erster Korintherbrief 15, 6, wenn die Zahl nicht übertrieben ist.
109 Matthäus 16, 21; 17, 22 und Parallelstellen.
110 Vergl. Jalkut zu Jesaia c. 53.
111 Bedeutsam ist dafür der V. Matth. 13, 52, der von den Auslegern mißverstanden wurde: »Darum ein jeglicher Schriftgelehrter, unterwiesen (μαϑƞτευϑείς) in dem Wesen des Himmelreiches, ist gleich einem Hausvater, der aus seinem Schatze Altes und Neues herausbringt.« Das heißt doch wohl nichts anderes, als daß nur ein Schriftgelehrter, wenn er zugleich an das Himmelreich glaubt, imstande sei, das Neue dem Alten zu akkommodieren. Das Alte ist Schriftunterlage, das Neue ist die Erscheinung Jesu. Daß einige Schriftgelehrte und Weise (םירפוסו םימכח) später dem Jesutum das Wort geredet haben, folgt aus Matth. 23, 34.
112 Matthäus 26, 54; Markus 15, 28.
113 Matth. 2, 23. Dieser Vers ist sehr dunkel.
114 Das. 16, 27. 28 und Parallelstellen. Auch Paulus glaubte an das baldige Wiedererscheinen Jesu. Vergl. w.u.
115 Apokalypse 20, 4-6.
116 Die Erzählung von der Auferstehung Jesu, »die stärkste oder gar einzige und letzte Burg des Christentums,« erklärt der Apologet Keim selbst als die, in Widersprüchen und Sagenhaftigkeiten schwimmend, schlecht bezeugteste Tatsache in den christlichen Quellen.« (Jesus von Nazara III, 529). Keim selbst, immer bestrebt, den historischen Christus aus unhistorisch gehaltenen Quellen zu retten, erklärt sich die Auferstehung als eine Art Vision: »Man sah Jesus, hörte vielleicht ein einziges Wort, das war alles« (S. 540). Schlimme Ausflucht für den Glauben wie für die Geschichte! Konsequenter lassen andere Apologeten wegen der mehr als zehn Widersprüche in der Bezeugung der Auferstehung sie lieber ganz fallen, nicht bloß Renan, sondern auch Ewald, Hausrath und andere. Damit ist es aber nicht abgetan. Das einzige Richtige hat Strauß im Freimut seiner letzten Wandlung ausgesprochen: »Es mag demütigend sein für den menschlichen Stolz, aber es ist so: Jesus könnte all das Wahre und Gute, auch all das Einseitige und Schroffe, das ja doch auf die Massen immer den stärksten Eindruck macht, gelehrt und im Leben betätigt haben; gleichwohl würden seine Lehren wie einzelne Blätter im Winde verweht und zerstreut worden sein, wären diese Blätter nicht von dem Wahnglauben an seine Auferstehung, als von einem derben, handfesten Einbande zusammengefaßt und dadurch erhalten worden.« (Alter und neuer Glaube, S. 72).
117 Justinus dialogus cum Tryphone c. 48. »Καὶ γὰρ εἰσί τινες – – ἀπὸ τοῠ ἡμετέρου γένους ὁμολογοῠντες αὐτὸν Χριστὸν εἶναι, ἄνϑρωπον δὲ ἐξ ἀνϑρώπων γενόμενον ἀποφαινούμενοι.« Origenis Philosophumena (Hippolytus), ed. Miller, p. 257: »'Εϑεσιν Ἰουδαϊκοῖς ζῶσιν (Ἐβιωναῖοι). κατὰ νόμον φάσκοντες δικαιοῠσϑαι καὶ τὸν Ἰƞσοῠν λέγοντες δεδικαιῶσϑαι ποιἠσαντα τὸν νόμον. διὸ καὶ Χριστὸν ὠνομάσϑαι Ἰƞσοῠν, ἐπεί μƞδεὶς τῶν (πρὸ αὐτοῠ) ἐτέλεσε τὸν νόμον. Ἰƞσοῠν ἐξ Ἰωσὴφ γεγενῆσϑαι.« – Irenaeus contra Haereses I, 26: »Et circumciduntur – qui dicuntur Ebionaei – ac perseverant in his consuetudinibus, quae sunt secundum legem et Judaïco charactere vitae, uti et Hierosolyma adorent, quasi domus sit Deo«. Merkwürdig ist es, daß Ewald auch noch zum Teil den ebionitischen Standpunkt hat. Er schreibt in seinem: Christus und seine Zeit (S. 445): »Auch die höchste göttliche Kraft, wenn sie in dem sterblichen Leib sich hält und in bestimmter Zeit erscheint, findet in diesem Leibe und in dieser Zeit ihre Grenze. Und nie hat Jesus als der Sohn und das Wort Gottes sich mit dem Vater und Gott selbst verwechselt und vermessen sich selbst diesem gleichgestellt«. Wie setzt sich aber Ewald mit seinem Lieblingsevangelium Johannes auseinander, welches geradezu aufstellt, Jesus habe sich Gott gleichgestellt? (vergl. unter andern 5, 18; 10, 33). Wer nur irgend Sinn für geschichtliches Werden hat, dem muß es einleuchten, daß Jesus im Urchristentum – bis Paulus – von den Gläubigen lediglich als Messias, allenfalls mit göttlichprophetischen Attributen verehrt wurde. Die Göttlichkeit wurde ihm erst später im heidnischchristlichen Kreise, und daher auch im Johannes Evangelium beigelegt. Paulus' Christologie ist konfus.
118 Matth. 10, 9 und Parallelstellen.
119 Die Juden nannten sie Jünger Jesu, ושי ידימלת, μαϑƞταὶ τοῠ Ἰƞσοῠ oder Nazaräer, Nazarener (םירצונ). Die Apostelgeschichte (24, 5) nennt noch Paulus: Vorsteher der Sekte der Nazaräer (Nazoräer): πρωτοστάτƞς τῆς τῶν Ναζωραίων αἰρέσεως. Den Namen Christianer, Christen, erhielten sie von den Römern in Antiochien und zwar zuerst als Spottnamen (das. 11, 26).
120 Apostelgeschichte 4, 33-37.
121 Das. 6, 3-5; 21, 8.
122 Eusebius, Kirchengeschichte II, 23. Die Nachricht ist zwar sagenhaft, aber doch charakteristisch für die Lebensweise der ersten Christen (Vergl. o. S. 287). Über die Benennung Oblias: ἐκαλεῖτο (Ἰάκω βος) καὶ Ὀβλίας, $ ἐστιν Ἑλλƞνιστὶ: περιοχὴ τοῠ λαοῠ hat Fuller wohl das Richtige getroffen, indem er das Wort in Ὀζλιάμ umändert = םעל-זוע, »Macht und Schutz des Volkes«, aus der Endung αμ wurde ας; denn die gewöhnliche Erklärung des Wortes durch םע-לפע ist gar zu widersinnig. – Über das Tragen von weißen Kleidern seitens der Judenchristen vergl. Megilla 24 b f. ףא ןיעובצב הביתה ינפל רבוע יניא רמואה רובעי אל םינבלב, dazu der Talmud: תונימ אמש ןנישייח וב הקרזנ.
123 Folgt aus Galaterbrief 2, 12.
124 Matth. 26, 69 ff.; 14, 31.
125 Galaterbrief das.
126 Matth. 10, 8. Vergl. Markus 9, 38; Lukas 9, 49.
127 Markus 16, 17-19. Vergl. Jerus. Aboda sara 40 d. (wo die echte L.-A. erhalten ist): ןב רזעלאב השעמ יארידנפ ןב ושי םשב... ותופרל... בקעי אבו שחנ וכשנש אמד.
128 Diese Umkehrung der Schuld kommt schon bei den Synoptikern vor.
129 Philo, Gesandtschaft an Cajus § 24, M. II, 569.
130 Das.
131 Josephus Altert. XVIII, 4, 2.
132 Das. 4, 3.
133 Das. und XV, 11, 4. Ob Vitellius dazu Vollmacht von Tiberius erhalten hatte, wie Josephus an der letzten Stelle andeutet (καὶ ἐκεῖνος ἐπέτρεψε), bleibt zweifelhaft.
134 Das. XVIII, 4, 2.
135 Das. 5, 1-4. Die blutschänderische Ehe bildet ein crux chronologorum, da die Angaben darüber in den synoptischen Evangelien mit den von Josephus angegebenen Daten durchaus nicht stimmen. Das Richtige ist, daß diese Ehe lange, viele Jahre vor 29-30 stattgefunden haben müsse (Brann, Die Söhne des Herodes, S. 52-61). Denn Herodias' Tochter Salome aus erster Ehe hatte den Tetrarchen Philipp geheiratet, der 34 starb (Jos. das. 4, 6; 5, 4). Damit stimmt Josephus' Angabe (4, 6), daß Herodias gleich nach der Geburt ihrer Tochter Salome [Daß Herodias unmittelbar nach Salomes Geburt zur zweiten Ehe geschritten sei, sagt Josephus nicht. Brann, a.a.O., S. 40 ff.] sich mit Antipas in zweiter Ehe verheiratete. Dazu kommt noch, daß, da Agrippa I. nach dem Tode des Prinzen Drusus Rom verlassen und von Antipas auf Betrieb Herodias' in Tiberias unterhalten wurde zwischen 23 (dem Tode Drusus) und 32 (dem Antrittsjahr des syrischen Legaten Flaccus), Herodias zwischen 23 und 32 bereits mit Antipas verheiratet gewesen sein muß. Schwierigkeit macht noch das von Josephus erzählte Faktum des Krieges zwischen Antipas und Aretas, welcher eine Folge dieser blutschänderischen Heirat gewesen sein soll. Denn Antipas' erste Frau, Aretas' Tochter, entfloh noch vor dieser Heirat aus Eifersucht zu ihrem Vater und reizte ihn zum Kriege, welcher Antipas' Niederlage zur Folge hatte. Diese Niederlage muß 36-37 stattgefunden haben. Denn Vitellius zog im Auftrage des Kaisers Tiberius gegen Aretas im Interesse Antipas' kurz vor Tiberius' Tod. Man muß auch annehmen, daß dieser Niederlage des Antipas mehrere Fehden zwischen ihm und Aretas vorangegangen sind, und zwar mehrere Jahre hindurch, da ohnehin Grenzstreitigkeiten zwischen beiden bestanden (nach Jos. 5. 1). Nichtsdestoweniger kann die Ehe zwischen Antipas und Herodias und die Flucht von Aretas' Tochter bereits in den ersten Jahren des Kaisers Tiberius stattgefunden haben. Antipas hatte sie während einer Reise nach Rom eingefädelt. Wozu reiste er nach Rom? Doch wohl wahrscheinlich, um dem neuen Kaiser zu huldigen und sich von ihm seine Tetrarchie bestätigen zu lassen [Vergl. hierzu Brann, a.a.O., S. 49.]. Nehmen wir an, daß Salome, die Tochter Herodias' aus erster Ehe, zwanzig Jahre beim Tode ihres Gatten Philipp (34) gewesen sei, so war sie 14 geboren, und bald nach ihrer Geburt [vergl. jedoch die Bemerkung oben] verließ Herodias gewissenlos ihren ersten Gatten, um sich mit Antipas zu verheiraten. Keineswegs kann aber diese Salome im 15. Jahre des Tiberius (29), dem Jahre der Gefangennahme und des Todes des Täufers (nach Lukas), ein ganz junges Mägdlein κοράσιον gewesen sein, da sie mindestens 15 Jahre alt und wohl schon verheiratet war; [vergl. Brann, a.a.O., S. 42 ff und hierzu die von Schürer (I3, 441, Note 29) gebilligte chronologische Künstelei von Gutschmidts (Lit. Centralbl. 1874, 522, Kleine Schr. II, 318)]; indes die evangelische Chronologie ist ohnehin nicht haltbar und die Stelle bei Josephus interpoliert (o. S. 293, 2). – Wo Herodes, Herodias' erster Gatte, gelebt hat, in dessen Haus Antipas auf seiner Reise nach Rom eingekehrt war und ihm die Frau entführte, ist nicht angegeben. Wahrscheinlich in Cäsarea; denn der Weg von Antipas' Land nach Rom führte über die damals beste Hafenstadt Cäsarea.
136 Jos. Altert. das. 5, 3.
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