19. Kapitel. (320-359.)

[303] Drittes Amorageschlecht. Patriarchat Hillels II. Schulhäupter in Judäa: R. Jona, R. José, R. Jeremias. Das Verhältnis des mächtig gewordenen Christentums zu den Juden. Konstantins und Konstantius' judenfeindliche Gesetze. Der Abgabendruck. Untergang der judäischen Lehrhäuser. Hillels fester Kalender.


Das Zeitalter, welches durch die siegreiche Herrschaft des Christentums in der Völkergeschichte einen entscheidenden Wendepunkt bildet, war auch in der jüdischen Geschichte abschließend. Was die vorangegangenen Jahrhunderte allmählich unsichtbar zur Reife gebracht hatten, das brachte diese Zeit zur Ernte. Das Christentum, bisher gehässig, verfolgt und doch trotzig, entwaffnete seine Feinde, indem es sie in seinen Bannkreis hineinzog. Das Judentum hätte sich über den Sieg des Geistes, der aus ihm selbst hervorgegangen, über die wachsende Macht desselben freuen können, wenn das siegreiche Christentum die Milde seines Stifters zur Wahrheit gemacht hätte. Aber seine Herrschaft, welche in der Weltgeschichte einen entscheidenden Wendepunkt bildet, brachte über das Judentum nur neue, schwere, langanhaltende Prüfung. Das römische Reich, das instinktmäßig seine Auflösung durch die Christuslehre fürchtete, mußte sich der Taufe unterwerfen, um seine Lebensdauer noch um anderthalb Jahrhundert länger zu fristen. Das Heidentum, von Unvernunft, Lüge, Betrug und Unsittlichkeit genährt und sie nährend, mußte sein Scheinleben aufgeben und einer andern Religionsform Platz machen. Die neue, zum Sieg gelangte Religion hatte allerdings darin unendlich viel vor dem Heidentume voraus, daß sie zum Grundprinzipe ihres Wesens eine würdigere Vorstellung von Gott und eine reine Sittlichkeit zum Bekenntnis nahm. Gleichzeitig mit Rom und Italien, welche ihre Bedeutung verloren und nur noch ein Schatten ihrer ehemaligen Größe blieben, erstarben aber auch Judäa und das Jerusalem vertretende Tiberias. Die erschütternden Großtaten Judäas und Italiens sanken zu bloßen [303] Erinnerungen herab; aber diese Schatten und diese Erinnerungen waren in ihrer verblichenen Gestalt, in geisterhafter Erscheinung noch mächtig genug, es mit lebendigen Kräften aufzunehmen und sie unsichtbar zu beherrschen. Ebenso wie Italien, der Sitz des ausgebildeten Heidentums, verarmte und verkümmerte Judäa durch das Christentum. Durch die politische Gewalt, welche das letztere erlangte, dadurch daß ihm das Kaisertum das Liktorenbeil und das Legionenschwert lieh, büßte Judäa bald den letzten Schimmer von Geistestätigkeit ein; das Lehrhaus von Tiberias verlor seine lange ausgeübte Anziehungskraft und geriet gänzlich in Verfall.

Während Babylonien in diesem halben Jahrhundert durch die drei originellen Amoräer Rabbah, Abaji und Raba den Höhepunkt seiner Eigentümlichkeit erreichte, waren die judäischen Amoräer dieser Zeit ohne Bedeutung, ohne irgend einen Zug hervorragender Größe. Die wenigen Männer, welche aus dieser Zeit genannt werden, waren R. Chaggaï, eine Autorität durch Alter, R. Jona und R. José II.1, Jünger und Nachfolger von R. Ammi und R. Aßi. Die einzige vollgiltige Autorität in Judäa war R. Jeremia, aber er war aus Babylonien eingewandert und wurde in der Heimat so wenig gewürdigt, daß er aus den Lehrhäusern gewiesen wurde. Die Patriarchenwürde sank in dieser Zeit nicht minder zur völligen Unscheinbarkeit herab, nachdem der Träger derselben, Hillel II., in Selbstverleugnung seinem Urahn Hillel ähnlich, sich der letzten Funktion, der Festesanordnung, durch die Verallgemeinerung der kalendarischen Berechnung begeben hatte, einer Funktion, die, wie unbedeutend auch an sich, doch den Patriarchen in den Augen der jüdischen Gesamtheit als den einzigen Mittelpunkt erscheinen ließ. Merkwürdigerweise erlangte das Patriarchat gerade in der Zeit, als es im Innern ganz bedeutungslos geworden war, nach außen hin einen prunkenden Glanz, als sollte die Leiche geschmückt ins Grab gesenkt werden. Die Patriarchen erhielten in dem letzten Jahrhundert ihres Bestandes die pompösen Ehrentitel »Erlauchte« (illustres), »Hochansehnliche« (spectabiles), »Hochberühmte« (clarissimi), Ehrentitel, welche sie mit den höchsten Staatswürdenträgern, Oberfeldherren, Statthaltern, Prokonsuln teilten und durch welche sie ihnen scheinbar gleichgestellt waren. »Wer da wagt, die erlauchten Patriarchen öffentlich zu beschimpfen, der verfalle einer schweren Strafe,«2 bestimmte ein zwar später erlassenes kaiserliches Edikt, das sich aber an die frühere Gesetzgebung (wahrscheinlich von Diocletian) über die Patriarchen anlehnt.

[304] Der Kaiser Konstantin, der die Kirche groß gemacht, ihr die Herrlichkeit der Erde zu Füßen gelegt, aber ihr auch den zweideutigen Segen mitgegeben hat: »Durch das Schwert sollst du leben,« er hat anfangs auch dem Judentume als Religion Gleichstellung neben den andern Religionsformen im römischen Reiche verliehen. Ehe sich nämlich Konstantin zum Christentum bekannt hatte, erließ er, vor allem nur darauf bedacht, Religionsverfolgungen im römischen Reiche einzustellen, eine Art Toleranzedikt, jenes Edikt von Mailand, daß sich jedermann frei zu einer Religion bekennen dürfe, ohne dadurch in die Acht zu geraten (Winter 312-313).3 In diese Religionsduldung waren die Juden ebenfalls eingeschlossen. Ihre Patriarchen, Ältesten, Vorsteher der Lehrhäuser und Synagogen genossen dieselben Rechte wie die christlichen Geistlichen und heidnischen Priester.4 Diese Bestimmungen blieben auch später in Kraft und wurden durch neue Gesetze sanktioniert, obwohl an dem neuerrichteten byzantinischen Hofe ein anderer Geist zu herrschen anfing. Die Norm wurde festgestellt, daß diejenigen in der Synagoge, welche sich dem Gesetze und der Lehre widmen, die Patriarchen, Presbyter und andere Arten Religionsbeamte von den lästigen Ämtern der Magistratur frei bleiben sollten.5 Nach dem Muster der römischen Priesterverfassung und des christlichen Bischofsystems wurde der Patriarch in Judäa als Oberhaupt sämtlicher Juden im römischen Reiche anerkannt, dem Gemeinden wie Religionsvorsteher Gehorsam schuldig seien. Diese unparteiliche Gerechtigkeit Konstantins dauerte jedoch nur eine kurze Zeit. Je mehr das Christentum Einfluß auf ihn gewann, desto mehr nahm er die Intoleranz desselben an, das, seinen Ursprung vergessend, das Judentum und seine Bekenner ebenso leidenschaftlich wie das Heidentum haßte. Kirchenobere vom Schlage des Hosius, Bischofs von Corduba, der mit andern Geistlichen auf einer Kirchenversammlung zu Elvira (320) den Christen gemütlichen Verkehr mit Juden bei Strafe des Bannes verbot, und wie Eusebius von Cäsarea, der erste Kirchengeschichtsschreiber, die beide das Ohr des Kaisers hatten, haben es an Hetzereien gegen sie nicht fehlen lassen. Haßten und verfolgten doch die Bischöfe einander mit fanatischer Leidenschaftlichkeit wegen Glaubensansichten, wenn einer von diesen um ein[305] Haar abwich; wie sollten sie gegen das Judentum duldsam sein? Die Verketzerungssucht, welche in der Unbestimmtheit der Glaubensartikel ihren Grund hatte, stachelte die Vertreter der Kirche zur Verfolgungssucht an. Alsbald hieß das Judentum eine schädliche, ruchlose, gottlose Sekte (feralis, nefaria secta), welche womöglich vom Erdboden vertilgt werden müßte. Alsbald wurde ein kaiserliches Edikt dekretiert, daß die Juden bei Strafe für die Zutretenden wie für die Aufnehmenden keine Proselyten aufnehmen dürfen (315). Alsbald wurde auch dem christlichen Bekehrungseifer die Unterstützung der Staatsmacht zuteil, die den Juden verbot, über ihre Mitglieder die Strafe für den Abfall zu verhängen, die doch das Christentum gegen seine Bekenner in einem so grausenerregenden Maße verschärft hatte: »Diejenigen, welche sich an die Abtrünnigen mit Steinen oder jeder andern Art zu vergreifen wagen, sollen mit allen ihren Teilnehmern den Flammen übergeben werden.«6 Denn es konnte nicht fehlen, daß gesinnungslose Juden durch die entschiedene Hinneigung des Kaisers Konstantin zum Christentum und durch Aussicht auf Vorteile ebenfalls übertraten.7 Die Kirche legte es förmlich darauf an, durch Nachteile, welche aus dem Festhalten am Judentum entsprangen und Vorteile, welche die Abtrünnigen vom Staate zu erwarten hatten, die Schwachen unter allerlei Versprechungen zum Abfall vom Judentum zu verlocken: »Warum laßt ihr euch für euren Gott töten? Sehet nur, wie viele Strafen, wie viele Plünderungen er über euch verhängt! Kommet zu uns, wir machen euch zu Herzögen, Statthaltern (Eparchai) und Heerführern (Stratelatai).«8 »Das sündhafte römische Reich, »der Sohn deiner Mutter«, sucht die Treuen wankend zu machen,«9 das waren die Texte, über die die Volksredner der Synagoge von jetzt an zu sprechen hatten. Privilegien der Juden hob Konstantin auf, so z.B. die der Stadt Cöln, und dekretierte, daß mit Ausnahme von je zwei oder drei sie sämtlich zu lästigen, städtischen Ämtern herangezogen werden sollten.10 Alsbald sah die [306] Welt das nie geahnte Schauspiel der ersten allgemeinen Kirchenversammlung von einigen Hundert Bischöfen und Presbytern mit dem Kaiser an der Spitze (325), wo das Christentum Triumphe zu feiern glaubte, aber nur seine Schwäche und innere Zerfahrenheit verriet. Denn da, wo es zuerst offiziell in dem ganzen Glanze seiner geistlichen und weltlichen Machtvollkommenheit auftrat, war von seinem ursprünglichen Wesen keine Spur mehr vorhanden, weder von den essenischen Lehren der Demut, der Brüderlichkeit und der Gütergemeinschaft, noch von dem paulinischen Eifer für Sittlichkeit und Gesinnungstüchtigkeit, noch von dem Drange der alexandrinischen Schule nach wissenschaftlicher Gelehrsamkeit. Dogmenstreitigkeiten, ob Christus, der Sohn, mit dem Vater gleich, ähnlich oder unähnlich sei, die um so erbitterter geführt wurden, je weniger in ihnen ein Beweis geführt werden konnte, bildeten von jetzt an den Vordergrund der Kirchengeschichte, die sich zur Weltgeschichte emporgeschwungen hatte. Auf dem nicäischen Konzil zerriß die letzte Faser, welche das Christentum mit seinem Urstocke zusammenhielt. Das Osterfest, welches in zahlreichen christlichen Gemeinden mit dem Passahfeste zugleich, und zwar an dem vom Synhedrion in Judäa berechneten und festgesetzten Tage, begangen worden war, sollte fortan vom jüdischen Kalender losgelöst werden. So verlangte es die römische Kirche, die, unabhängig von jüdischer oder apostolischer Überlieferung, stets die Ostern am Sonntag nach Vollmond des Frühlingsmonats gefeiert wissen wollte. Dadurch war eine Spaltung in der Christenheit ausgebrochen, der sogenannte Passahstreit. Rom bedrohte mit dem Bannfluche die Gemeinden in Syrien, Kleinasien und Mesopotamien, welche mit den Juden zugleich am Abend des vierzehnten Nissan die Osterfeier begingen. Das sollte nicht sein. »Denn es sei vor allem unwürdig, daß wir bei diesem heiligsten Feste dem Gebrauche der Juden folgen sollten. – Fortan sei uns nichts mehr mit dem verhaßten Volke der Juden gemein, wir haben von unserem Heiland einen andern Weg erhalten. – Denn es wäre doch wahrhaft abgeschmackt, daß die Juden sich rühmen sollten, wir seien nicht imstande, die Passahfeier ohne ihre Lehre (ihre Berechnung) zu begehen.«11 Diese Äußerung wird dem Kaiser Konstantin in den Mund gelegt, und wenn er sie auch nicht selbst getan, so war sie nicht minder der leitende Gedanke der Kirche, die jetzt über das Geschick der Juden zu bestimmen hatte.

[307] Das erste Wort, das das Christentum gleich am ersten Tage seines Sieges aussprach, zeugte von feindlicher Haltung gegen das Judentum, und daraus flossen jene feindseligen Dekrete Konstantins und seiner Nachfolger, die den Grund zu den blutigen Verfolgungen der künftigen Jahrhunderte legten. Konstantin erneuerte das Gesetz Hadrians, daß kein Jude in Jerusalem wohnen dürfe.12 Die heilige Stadt hatte wieder ihren ehemaligen Namen erhalten, nur wurde sie aus einer heidnischen Stadt in eine christliche umgewandelt, nachdem die Mutter des Kaisers, Helena – eine Frau anrüchigen Rufes – dorthin gepilgert war, und ihr Sohn dort die Grabeskirche erbaute, auf einem Platze, wo Jesu Grab nicht gewesen sein kann. Nur am Tage der Erinnerung an die Zerstörung Jerusalems erlaubte die kaiserliche Wache jüdischen Pilgern, dort zu weinen und Klagelieder anzustimmen. Dazu ließ Konstantin sich jedoch nicht bewegen, sein früheres Gesetz zu widerrufen und den Lehrern des Judentums die Befreiung von städtischen Ämtern zu entziehen; er bestätigte es vielmehr neuerdings (331).13 Dagegen hat er ein anderes Gesetz, den Sklavenbesitz der Juden betreffend, in dem vorletzten Regierungsjahre erlassen. Sie durften ihre Sklaven nicht beschneiden; durch einen solchen Akt erlangten die Sklaven ihre Freiheit.14 Das Motiv zu diesen Gesetzen war kein allgemein sittliches, sondern ein beschränkt christliches. Das Judentum sollte weder durch Proselyten, noch durch Sklaven einen Zuwachs erhalten, was das Christentum als ein Monopol für sich beanspruchte. – Eine andere Judenverfolgung durch Konstantin als Rückwirkung eines neuen Aufstandes gegen die Römer und des Versuches, Jerusalem wieder zu erlangen, infolgedessen der erste christliche Kaiser den Juden Palästinas zur Schmach die Ohren habe abhauen lassen, ist nicht durch vollgiltige geschichtliche Zeugnisse beurkundet15 und auch nicht wahrscheinlich. Er schützte sie vielmehr gegen den Übermut der zum Christentum übergetretenen Juden, die, größtenteils gesinnungslos, Rache an ihren ehemaligen Stamm- und Glaubensgenossen nahmen, durch ein bündiges Gesetz, wonach sie nach der Art des Vergehens wegen Beunruhigung und Beleidigung der Juden bestraft werden sollten (336).16 Ein solcher Täufling Joseph scheint damals den Juden Palästinas viel zugesetzt zu haben. Er gehörte zu den Beisitzern des Patriarchen im Synhedrion von Tiberias [308] und wurde mit dem Ehrenamte eines Abgeordneten und Sendboten für die Gemeinden in Cilicien betraut. Dort verkehrte er heimlich viel mit einem Bischof und ließ sich die neutestamentlichen Schriften zum Lesen geben. Die cilicischen Juden schöpften Argwohn gegen seine Rechtgläubigkeit, und da er ohnehin nicht beliebt war, weil er die Lehrer und Vorsteher der Religion von oben herab behandelte und sogar abgesetzt hatte, so überfielen ihn einige von ihnen in seiner Wohnung und überraschten ihn beim Lesen der Evangelien. Wie kann man es den Juden Ciliciens verargen, wenn sie ihn ihren Unwillen über sein falsches Spiel empfinden ließen! Sie sollen ihn gar in den Fluß Cydnus geworfen haben, wobei er nur durch ein Wunder dem Tode entgangen sein soll. Es blieb nun Joseph nichts anderes übrig, als sich öffentlich zum Christentum zu bekennen. Er log den Christen und namentlich dem einfältigen Epiphanius (ebenfalls Täufling und später Bischof von Constantina, einem leichtgläubigen Erzeiferer und mit Hilarion Begründer der ersten Klöster in Palästina) eine Reihe von Wundergeschichten vor, durch die er zur Annahme der Taufe erweckt worden sei, und von denen eine alberner als die andere ist. Träumend und wachend sei ihm Christus erschienen. Wenn man ihm Glauben schenken wollte, so haben viele Juden damals, darunter die gelehrtesten und würdigsten, im Herzen Vorliebe für das Christentum gehegt. Sogar von dem damaligen greisen Patriarchen (wohl Juda III.) erzählte Joseph das durchweg unglaubliche Märchen, auch dieser sei heimlich der Jesuslehre zugetan gewesen. Er habe in einer geheimen Schatzkammer das Johannisevangelium und die Apostelgeschichte, aus dem Griechischen ins Hebräische übersetzt, und die Genealogie Jesu im Originalhebräisch aufbewahrt und in ihnen fleißig gelesen. Vor dem Tode habe er das Bedürfnis gefühlt, die Taufe zu empfangen, und sich zu diesem Zwecke, unter dem Vorwande, seinen ärztlichen Rat zu gebrauchen, einen Bischof aus der Nähe von Tiberias kommen lassen. Nachdem alle Anwesenden aus des Patriarchen Krankenzimmer entfernt worden waren, habe sich dieser von dem Bischof das Siegel Christi, die Taufe, erteilen und in die christlichen Mysterien einweihen lassen; auch habe er ihm, »weil das, was die Priester auf Erden binden und lösen, auch im Himmel als gebunden und gelöst gelte«, viel Geld für die christliche Geistlichkeit als Opfer überreicht. Als ihn nach diesem Akte die wiedereingetretenen Personen gefragt, wie er sich befände, habe er mit Anspielung auf die erhaltene Taufe geantwortet, jetzt fühle er sich wohl. Zwei oder drei Tage darauf sei er verschieden, nachdem er die Erziehung seines Sohnes, des künftigen Patriarchen, dem schon genannten Joseph [309] und einem andern angesehenen Manne übergeben.17 Die christliche Geistlichkeit Palästinas und wohl der beim Kaiser angesehene Bischof Eusebius trugen Sorge dafür, daß Joseph für seinen Übertritt belohnt wurde. Konstantin verlieh ihm die Würde eines Comes, womit ihm eine Art Straflosigkeit für Vergehen und Ungesetzlichkeiten erteilt war. Joseph erhielt auch vom Kaiser die Erlaubnis, die ersten Kirchen in Galiläa zu bauen, wo bis dahin wenig Christen lebten. Auch darüber erzählte er manche Fabeln. Als er den Bau einer Kirche in Tiberias begonnen, hätten die Juden durch Zauberei das Feuer der Kalköfen so zu binden gewußt, daß der Kalk nicht gebrannt werden konnte, bis Joseph im Namen Jesu von Nazareth dem Wasser die Kraft verliehen habe, den Zauber zu lösen und gar das Feuer brennen zu machen; die zahlreich anwesenden Juden hätten hierdurch die Macht des Gottes der Christen anerkannt. Der ehemalige Patriarchenapostel baute noch Kirchen in Sepphoris (Diocaesarea), Nazareth und Kapernaum und verdrängte die Juden, die neuen Verfolgungen entgegengingen, auch von diesem letzten Asyl, das ihnen in ihrer Heimat geblieben war. Im Alter ließ sich Joseph in Betsan nieder, und ist, wie er erzählt, allen Verlockungen der Arianer widerstehend, dem katholischen Bekenntnisse treu geblieben.18

Den Sohn und Nachfolger, den jener Patriarch hinterließ und der beim Tod des Vaters noch unmündig gewesen sein soll (wahrscheinlich Hillel II.) verunglimpfte Joseph in zwiefacher Absicht, um einen hochgestellten Stammgenossen, der Grund hatte, ihn zu hassen, einfach durch Verleumdungen zu brandmarken und um die Wundertätigkeit des Kreuzeszeichens zu bezeugen. Er erzählt von dem jungen Patriarchen, zu dessen Vormund und Wächter er bestellt gewesen sein soll, er habe sich, von jungen Genossen verführt, einem ausschweifenden Leben ergeben und sogar durch magische Künste ehrbare, tugendsame Frauen zur Unzucht verleitet. Einst habe er sich in ein schönes christliches Weib verliebt, habe sich ihm nähern wollen, und von ihm abgewiesen, habe er mit seinen Genossen abermals magische Mittel zu deren Verführung angewendet. Aber die Bekreuzigungen, welche diese Frau häufig gemacht, haben die dämonische Gewalt von ihr abgleiten lassen.19 Dieser Patriarch Hillel II. (um 330-365)20 aber war – freilich kein Verehrer des Christentums – einer der würdigsten Nachkommen des ältern Hillel [310] und wurde von einem Kaiser, der ebenfalls Grund hatte, der anmaßenden Kirche gram zu sein, vielfach bevorzugt.

Mit dem Erzketzerverfolger und Brudermörder Konstantius (327-330) begann eigentlich das christliche Regiment im römischen Reiche und damit auch das üble Los der Juden. Wären die damaligen Vertreter der Kirche nicht von Rachsucht und Rechthaberei verblendet gewesen, so hätten sie einsehen müssen, daß sie sich durch ihr Anlehnen an die Staatsgewalt einem Herrn unterworfen und den Spieß gegen sich gekehrt hatten. Kaiser Konstantius durfte sich herausnehmen, zu sagen: »Mein Wille ist Kirchengesetz, ist Religion.« In letzter Instanz entschieden nicht die Kirchenlehrer über Religionsfragen, sondern die Verschnittenen und Aufwärterinnen bei Hofe. Wenn ein fanatischer Geist die Kirchenglieder vom Kaiser bis zum niedrigsten Untertan beherrschte, so daß sie einander wegen Wortstreitigkeiten blutig verfolgten, wie konnten die Juden auf menschliche Behandlung rechnen? Gleich im Anfang der Regierung Konstantius' wurde über Gesetzeslehrer des Judentums Exil verhängt, infolgedessen mehrere nach Babylonien auswanderten. Unter den exilierten Gesetzeslehrern werden zwei namhaft gemacht, R. Dime und R. Isaak ben Joseph (mit dem Zunamen der Rote). Diese Verfolgung scheint aber später noch verschärft worden zu sein; die Gesetzeslehrer wurden mit dem Tode bedroht, wodurch die Auswanderung aus Judäa noch zahlreicher wurde. R. Abin und R. Samuel bar Juda werden unter die später Ausgewanderten gezählt (337-338).21 Die Folgen dieser Vorgänge waren der Untergang des tiberiensischen Lehrhauses und das Ermatten der Lehrtätigkeit überhaupt.22 Bis dahin hatte noch eine Art Synhedrion, als dessen Mitglieder R. Haggaï, R. Jona und R. José genannt werden, mit dem üblichen Abstimmungsmodus bei Beratungen bestanden.23 Die feindselige Gesinnung, welche Konstantius gegen die Juden hegte, sprach sich auch in einigen, die Juden betreffenden Gesetzen aus. Was die Veranlassung zu dieser Verfolgung war, ob der Apostat Joseph, ein zweiter Acher, die Hand dabei im Spiele hatte, das alles ist dunkel. Eheverbindungen zwischen Juden und Christinnen, die nicht selten vorgekommen zu sein scheinen, belegte Kaiser Konstantius mit Todesstrafe (339).24 Noch folgenreicher war das von ihm erlassene Sklavengesetz. Während sein Vater nur die Aufnahme von Sklaven in die jüdische Gemeinschaft [311] verbot und die Übertreter nur mit dem Verlust des Sklaven belegte, verhängte Konstantius (339) für die Beschneidung eines christlichen Sklaven Todesstrafe und Verlust des ganzen Vermögens. Er verbot sogar, heidnische Sklaven in den Bund des Judentums aufzunehmen.25 Der Grund dieses Sklavengesetzes war ein zweifacher: die Juden sollten durch Aufnahme von Sklaven keinen Zuwachs erhalten, und Christen sollten nichtjüdischen Herren, »den Gottesmördern«, dienen. Diese verkehrte Ansicht beherrschte seitdem die Kirche und wirkt noch bis auf den heutigen Tag in anderer Form nach. Gesetzlich war diese Beschränkung und diese Härte keineswegs; denn die Juden galten noch immer als Vollbürger des römischen Reiches26, und infolge dieser Gleichstellung durften sie keinen Ausnahmegesetzen unterworfen werden. Aber was galt dem ebenso gewissenlosen wie schwachen, von Verschnittenen und Hofgeistlichen beherrschten Kaiser Recht und Gesetz? Seine Einfälle und Launen sollten Gesetz sein. Konstantius oder seine Hoftheologen waren die Erfinder des »christlichen Staates«.

Die Leiden der Juden steigerten sich bis zur Unerträglichkeit, als Konstantius seinen Vetter und Mitkaiser Gallus nach dem Morgenlande schickte, um gegen die überhandnehmende Macht der Perser zu operieren (351). Gallus, Schwelgereien ergeben, überließ die Kriegsführung seinem Legaten Ursicinus; dieser, wie sein kaiserlicher Herr, waren für Judäa drei Jahre lang eine harte Plage. Da die römischen Legionen in den jüdischen Städten einquartiert waren, so machte Ursicinus ihre Verpflegung den jüdischen Einwohnern zur Pflicht, ließ aber seine Forderung so unerbittlich ausführen, daß die jüdischen Gemeinden dadurch in die Lage gerieten, die Religionsgesetze verletzen zu müssen. Die römischen Militärbeamten verlangten nämlich auch an den Sabbattagen und am Feste der ungesäuerten Brote frisches Brot für die Truppen. Der Not gehorchend, sollte man sich nach den Aussprüchen der Gesetzeslehrer dieser Forderung fügen. R. Mana gestattete den jüdischen Bäckern auf die Forderung des Römers Proclus, am [312] Sabbat Nahrungsmittel öffentlich feilzubieten; die beiden Autoritäten von Tiberias, R. Jona und R. José lehrten, man dürfe für Ursicinus' Heer am Sabbat Brot backen, und die Gesetzeslehrer von Neve, einer gaulanitischen Stadt, erlaubten, am Passahfeste Gesäuertes für die Legionen zu backen.27 Allein Ursicinus übte seine Härte und Rücksichtslosigkeit gegen die jüdische Religion nicht allein da, wo ein Interesse des Heeres mitsprechen konnte, er scheint vielmehr geradezu eine Religionsverfolgung beabsichtigt zu haben, denn in Senbaris, einem Städtchen eine Meile von Tiberias, ließ dieser Feldherr eine Gesetzesrolle, welche für den öffentlichen Gebrauch bestimmt war, verbrennen28, was gewiß nicht zum Dienste gehörte. Außerdem lastete ein unerträglicher Steuerdruck auf den größtenteils verarmten Juden Palästinas: Naturalienlieferung von Getreide und Vieh (annona, Arnona), Kopfgeld oder Judensteuer (Golgolet, Fiscus), Tribut und dazu noch Gewerbesteuer (χρυσαργύριον) und Strafgelder aller Art (ζƞμία). Die Klagen über die Abgabenlast fanden auf den Kanzeln ein Echo. »Wie ein Gewand an einer Dornenhecke, so man es an der einen Seite losmacht, es von der andern Seite zerschlissen wird, so geht es unter dem Regimente Esaus (Roms). Ehe noch die Annona abgeliefert ist, kommt das Kopfgeld an die Reihe, und ehe dieses gezahlt ist, wird Tribut gefordert.«29 »Mit verfänglicher List verfährt der böse Esau gegen Israel.« »Du hast gestohlen oder getötet.« »Du hast nicht gestohlen? Wer hat mit dir gestohlen? Du hast nicht getötet? Wer war dein Mitschuldiger? Erlege Strafgelder, bringe die Lieferung, zahle Kopfsteuer und andere Abgaben.«30

Diese gehäuften Drangsale und Gewissensnöte gaben den Juden den Mut zu einem neuen Aufstande. Wie wenig auch von diesem Aufstande und seinen Folgen bekannt geworden ist, da die Nachrichten hierüber nur wie hingeworfen erscheinen, so lassen sich doch einzelne Umstände desselben zusammenstellen. Die Niederlagen der römischen Legionen gegen die Perser, der Aufstand der Sarazenen und Isaurier und die Schwäche des von Konstantius für den Orient ernannten, aber beargwöhnten Cäsar Gallus, flößten den Unterdrückten [313] die Hoffnung ein, sich vom Joche des christlichen Byzanz befreien zu können. Sie fanden auch einen Anführer, der ihnen Zuversicht einflößte; er wird von den Römern Patricius, von den Juden Natrona genannt. Die letztern sahen in ihm den messianischen Retter. Ein Prediger suchte die Menge in Sepphoris oder Tiberias zur Beteiligung an dem Aufstande zu entflammen und verhieß den göttlichen Beistand.

Diese aufrührerische Rede ist charakteristisch für den Geschmack der Zeit. Sie ist in ein Wechselgespräch zwischen Gott und der jüdischen Nation eingekleidet und weist auf die Weltreiche, das babylonische, medische, persische, griechische hin, die Israel geknechtet haben und dann gedemütigt wurden. So werde Gott auch Rom züchtigen. Israel spricht zu Gott: »Willst Du uns befreien, um uns von neuem knechten zu lassen?« »Nein,« lautet die Antwort. »Wer hat ein Strafgericht über Babel, Perser und die Griechen verhängt? Wer wird Vergeltung üben an Edom? Natrona wird es tun, dessen Name in der heiligen Schrift angedeutet ist. Nicht halb soll Edom-Rom abgetan werden, sondern vollständig mit seinen Herzögen, Statthaltern und Kriegsobersten.«31 Die Erhebung hatte ihren Anfang in Sepphoris, zu dieser Zeit Diocäsarea genannt, wo die Juden in der Dunkelheit der Nacht die dort stationierten römischen Truppen überfielen, sie niedermachten und sich ihrer Waffen bemächtigten. Herren der Bergstadt, Sepphoris, wagten sie weitere Streifzüge in die Umgegend, um ihre lang ertragene Schmach an ihren Feinden zu rächen. Zu gleicher Zeit müssen aber auch ähnliche Vorgänge in den zwei bedeutendsten Städten Judäas, in Tiberias und Lydda, sowie in andern Plätzen stattgefunden haben. Der Aufstand hatte also eine nicht ganz unbedeutende Ausdehnung genommen. Cäsar Gallus oder vielmehr sein Unterfeldherr Ursicinus unterdrückte ihn aber vollständig und wütete selbstverständlich gegen die Besiegten. Viele Tausend Juden fielen als Opfer einer Erhebung, welche mehr der Verzweiflung als der Klugheit ihre Entstehung verdankte. Sepphoris wurde dem Erdboden gleich gemacht, Tiberias, Lydda und die anderen beteiligten Städte teilweise zerstört (352). – Über die Zerstörung dieser Städte scheint ein Agadist mit Anlehnung an einen Text seine Elegien angestimmt zu haben: »Zu jener Zeit vernahm man ein Wehklagen vom Fischtore, darunter ist Akko gemeint; Jammergeschrei von der zweiten Stadt, das ist Lydda, die zweite nach Jerusalem; ein großes Unglück auf den Hügeln, darunter ist Sepphoris verstanden, das auf Hügeln [314] liegt; jammert, ihr Bewohner der Tiefe, das tiefliegende Tiberias. Der Heilige spricht: »Ich habe Gericht gehalten über diese vier Städte für das, was die Feinde ihnen zugefügt haben.«32

Wie nach jedem ähnlichen Aufstande wurde auch auf die Beteiligten eine Hetzjagd angestellt, damit keiner von ihnen der Strafe entgehe; am meisten stellte Ursicinus den Sepphorenern als den Urhebern nach. Um der Verfolgung zu entgehen, machten sie sich unkenntlich, indem sie ein Pflaster auf ihre Nase legten, wodurch sie in der Tat eine Zeitlang unerkannt blieben. Es fanden sich aber endlich Verräter, welche diese List der Sepphorener dem Machthaber anzeigten. Die Verratenen wurden ergriffen und auf der Stelle hingerichtet.33 Viele Flüchtlinge hatten sich indessen in den unterirdischen Gängen von Tiberias versteckt, wo sie vor den Römern sicher waren. R. Huna II. erzählt: »Als wir uns in die unterirdischen Gänge retteten, hatten wir Fackeln bei uns; wenn sie dunkel brannten, erkannten wir, daß es Tag sei, flimmerten sie hingegen heller, so erkannten wir daran die Nachtzeit.«34 Diese Flüchtlinge müssen demnach eine längere Zeit in den Höhlen zugebracht haben. – Konstantius scheint indessen die hadrianischen Edikte gegen die Juden erneuert zu haben; denn die Übung religiöser Funktionen wurde verboten, sogar die Kalenderberechnung und der Handel mit Gegenständen religiösen Gebrauchs untersagt. Als man Raba, dem damaligen Schulhaupte in Machuza von der beschlossenen Einschaltung eines Monats und der Verfolgung gegen die Religionsübung Nachricht geben wollte, mußte es auf eine geheimnisvolle, rätselhafte Weise durch zweideutige Anspielungen geschehen. Diese Nachricht lautete: »Männer kamen aus Reket (Tiberias), und es erhaschte sie der Adler (Römer); denn sie hatten in Händen, das was in Luz verfertigt wird (Blaupurpur zu Schaufäden). Durch Gottes Barmherzigkeit und ihr Verdienst sind sie jedoch glücklich davon gekommen. Die Nachkommen Nachschons (Patriarch) wollten einen Monatsversorger (Schaltmonat) einsetzen; allein der Aramäer (Römer) gab es nicht zu; dennoch versammelten sie sich und schalteten den Todesmonat Ahrons (Ab) ein.«35 Das geheime Sendschreiben an Raba verrät die ganze Not, in welcher sich Judäa damals befand. Das zersprengte und geschwächte Synhedrion muß verhindert gewesen sein, [315] die regelmäßige Einschaltung im Frühjahr (Adar) einzuführen und war gezwungen sie in eine ungewöhnliche, vom Gesetze nicht gestattete Jahreszeit zu verlegen. Auch gegen die Feier des Versöhnungstages scheinen Verbote des Kaisers gerichtet gewesen zu sein, so daß man sich gezwungen sah, sie auf einen Sabbat zu verlegen.36 Dieser Notzustand Judäas änderte sich nicht, als der grausame Gallus auf Konstantius' Befehl hingericht und Ursicinus in Ungnade gefallen war (354). Am kaiserlichen Hofe zu Konstantinopel galten die Bekenner des Judentums geradezu als Gottesleugner, weil sie Jesus nicht anerkennen konnten. Aus dieser Anschauung floß das Gesetz (357), daß ein Christ, wenn er sich den »gotteslästerlichen« Gemeinden der Juden anschlösse, mit dem Verluste seines Vermögens bestraft werden sollte.37 Auf Konfiskation des Vermögens hatten es die Kreaturen des Konstantius besonders abgesehen und sie legten den Juden die härtesten Steuern ohne Maß wie ohne gerechten Titel auf, um sie durch Verarmung und Erschöpfung aufzureiben. Schon waren neue Schätzungstafeln ausgeschrieben, um den Steuerdruck noch mehr zu erhöhen, unter dem Vorwande, die Juden verdienten als Gottesleugner keinen Schutz.38 Von dieser neuen Bedrückung wurden sie erst auf eine unerwartete Weise durch den Kaiser Julian befreit, der seinem Bruder Gallus ebenso unähnlich war, wie seinem Mitkaiser und Vetter Konstantius.

Die traurigen Verhältnisse in Judäa haben den damaligen Patriarchen Hillel veranlaßt, einen Akt der Selbstverleugnung zu begehen, der noch nicht vollständig gewürdigt worden ist. Die bisherige Weise, die Berechnung der Neumonde und Schaltjahre geheim zu halten, und die Festzeiten durch ausgesandte Boten den Gemeinden in den Nachbarländern bekannt zu machen, hatte sich durch die Verfolgungen unter Konstantius als untunlich und unzweckmäßig erwiesen. Wenn das Synhedrion verhindert war, das Schaltjahr festzustellen, so mußten die jüdischen Gemeinden in Ost und West über die wichtigsten religiösen Bestimmungen in Zweifel bleiben. Daher hat R. Huna ben Abin das Kalendergeheimnis zeitweise verraten und nach Babylonien an Raba die Regel kund gegeben: »Wenn du merkst, daß der Winterabschnitt (Te kufat-Tebet) sich bis zum sechzehnten Nissan erstreckt, so trage kein Bedenken, auf eigene Hand das Jahr als ein Schaltjahr zu betrachten.«39. Um aller Schwierigkeit und Ungewißheit ein Ende zu machen, führte Hillel II. [316] ein für allemal einen festen Kalender ein, d.h. er gab jedermann die Regeln an die Hand, die Normen festzusetzen, nach welchen das Synhedrion bisher bei den Kalenderberechnungen und Festzeitbestimmungen verfahren war. Mit eigener Hand zerriß dieser Patriarch das letzte Band, das die im römischen und persischen Reiche zerstreuten Gemeinden an das Patriarchat knüpfte. Der sichere Fortbestand des Judentums lag ihm mehr am Herzen, als die Würde seines Hauses; darum gab er diejenigen Funktionen auf, auf die seine Vorfahren Gamaliel II. und dessen Sohn Simon so eifersüchtig waren. Die damaligen Synhedrialmitglieder waren mit dieser Neuerung einverstanden; nur wollten sie den zweiten Feiertag, den die außerpalästinensischen Gemeinden zweifelshalber von jeher zu begehen pflegten, nicht aufgehoben wissen. R. José erließ an die alexandrinische Gemeinde ein Sendschreiben mit den Worten: »Obwohl wir euch die Ordnung der Feiertage (Sidre Mo'adot) zugestellt haben, so ändert doch nichts an der Gewohnheit eurer Vorfahren,«40 (auch den zweiten Festtag heilig zu achten). Auch den Babyloniern wurde dasselbe kund getan: »Haltet fest an dem Gebrauch eurer Väter.«41 Diese Warnung wurde gewissenhaft befolgt, sämtliche jüdische außerpalästinensische Gemeinden feiern bis auf den heutigen Tag den zweiten Feiertag.

Die Berechnung des von Hillel eingeführten Kalenders ist so einfach und sicher, daß sie bis auf den heutigen Tag keine Nachhilfe und Verbesserung nötig gemacht hat, und ist darum von jüdischen und nichtjüdischen Sachkundigen als etwas Vollendetes anerkannt worden. Die Differenz zwischen dem Sonnen- und Mondjahr, (das erstere zu 365 Tagen angenommen und das letztere zu 12 mal 29 Tagen, 12 Stunden und ein Bruchteil), von der der jüdische Festzyklus abhängt, ist in dieser Berechnung bis auf wenig störende Bruchteile ausgeglichen; die Dauer der Monate ist dem astronomischen Mondumlauf nahe gebracht, und außerdem sind die besonderen halachischen Verhältnisse der jüdischen Feste darin berücksichtigt. Diese Berechnung beruht auf dem von dem griechischen Astronomen Meton eingeführten neunzehnjährigen Zyklus (Machsor ha Lebanah), in welchem sieben Schaltjahre vorkommen. In jedem Jahre sind zehn Monate unveränderlich, je einer zu 29 und der andere zu 30 Tagen; nur zwei Herbstmonate, welche auf den wichtigsten Monat Tischri folgen, sind veränderlich gelassen, weil sie von gewissen astronomischen und jüdisch-gesetzlichen Verhältnissen abhängen, z.B. davon, daß der Monat Tischri nicht mit dem Tage beginnen sollte, der noch größtenteils [317] zum vorangegangenen Monate gehörte, daß ferner der Versöhnungstag weder vor, noch nach dem Sabbate treffen, und daß endlich der Hosiannatag nicht mit einem Sabbat zusammenfallen sollte. Diese und andere Berechnungen beruhen aber auf so einfachen Regeln, sind so bequem und leicht, daß es jedem Halbkundigen möglich ist, einen hundert- und tausendjährigen Kalender anzulegen. Es ist nicht bekannt, wie viel von diesem Kalendersystem Hillel eigen ist und wie viel er aus Traditionen hatte, da es sicher ist, daß im Patriarchenhause gewisse astronomische Regeln traditionell waren; Samuels Kalender scheint Hillel jedenfalls benutzt zu haben. Dieser Kalender und das Jahr, in welchem er ihn eingeführt, hat sich durch mündliche Überlieferung erhalten; als Jahr der Einführung gilt das 670ste Jahr der seleuzidischen Ära, 359 nach der üblichen Zeitrechnung.42


Fußnoten

1 Jerus. Synhedrin I, p. 18 c.


2 Codex Theodosianus L, XVI, T. 8, § 11.


3 Omnibus libera potestas sequendi religionem. Lactant. de morte Persecutorum, c. 48, auch Eusebius, Kirchengeschichte X, 5, 7.


4 Id enim et divi principes, Constantinus et Constantius – divino arbitrio decreverant – ut privilegia his, qui illustrium patriarcharum ditioni subjecti sint – perseverent ea, quae venerandae Christianae legis primis clericis sanctimonia deferuntur. (C. Th. L. XVI, T. 8, § 13 et 15).


5 C. Th. das. § 24.


6 C. Th. § 1.


7 Abulfarag Bar-Hebraeos, p. 135 gibt an, es seien 12 000 Juden und Heiden damals übergetreten.


8 Pesikta Rabbati, c. 21.


9 Das. c. 15.


10 Das Gesetz Codex Theod. das. § 3 vom Dez. 321 ist deswegen interessant, weil es besagt, daß die Juden noch früher in Cöln gewohnt haben. Decurioni bus Agrippiensibus. Cunctis Ordinibus generali lege concedimus, Judaeos vocare ad Curiam. Verum, ut aliquid ipsis, ad solatium pristinae observationis, relinquatur, binos vel ternos privilegio perpeti patimur nullis nominationibus occupari.


11 Eusebius, de vita Constantini III, c. 11, ἔστι γὰρ ὡς ἀλƞϑῶς ἀτοπώτατον. ἐκείνους (Ἰουδαίους) αὐχεῖν, ὡς ἄρα παρεκτὸς τῆς αὐτῶν διδασκαλίας ταῠτα φυλάττειν οὐκ εἴƞμεν ἱκανοί.


12 S. Note 17.


13 Codex Theodosianus das. § 4.


14 Codex Theodosianus L, XVI, T. 9, § 4.


15 Chrysostomus oratio contra Judaeos I. Eutychius (Ibn Batrik), annales II, p. 469.


16 Codex Theod. das. § 5.


17 Epiphanius adversus Haereses L. I. T. II, 4, 6. (S. Note 1).


18 Das. 9, 12.


19 Epiphanius adversus Haereses das. 7, 8.


20 Note 22.


21 Note 29.


22 Scheriras Sendschreiben.


23 Jerus. Synhedrin I, p. 18 c.


24 Codex Theodosianus L XVI, T. 8, § 6.


25 C. Th., T. 9, § 2, s. Godefroy zu diesem Gesetze, daß es nicht Konstantin, sondern seinem Sohne angehört, und daß es im dritten Jahre desselben, 339, erlassen ist. Die Motive zu diesem Gesetze vita Constantini IV, c. 27. Sozomenus hist. eccl. III 16 und Cedrenus.


26 S. Codex Theod. das. T. 8, § 9 von Arcadius: Judaeorum sectam nulla lege prohibitam satis constat. Das. L. II, T. 1, § 10 de Judaeorum foro; ebenfalls von demselben Kaiser: Judaei Romani et communi jure viventes de his causis, que non tam ad superstitionem eorum, quam ad forum et leges ac jura pertinent, adiant solemni jure judicia, omnesque Romanis legibus inferant et excipiant actiones. Postremo legibus nostris sint.


27 Jerus. Schebiit IV, p. 35 a. Synhedrin III, p. 21 b.


28 Jerus. Megilla III, p. 74 a.


29 Pesikta, c. 10.


30 Ruth Rabba Anf. Vergl. über die Benennung der verschiedenen Abgaben Sachs, Beiträge I, S. 167. Dazu habe ich nur noch zu bemerken, daß םפיל verschieden ist von סוסיפ oder Plur. ןיסיפ. Jenes ist allerdings gleich λείψανον »Steuerreste«, dieses dagegen ist wohl eine Abkürzung von Fiscus (judaïcus) mit ausgefallenem k-Laut. Aus der zitierten Stelle Ruth Rabba ist אסומיד verschieden von תלוגלוג.


31 Pesikta r. Absch. Hachodesch Ende.


32 S. Note 30.


33 Jerus. Jebamot XVI, p. 15 c. Sota IX, p. 23 c.


34 Genesis Rabba, c. 31.


35 S. Note 30. [Nach Auffassung des Talmuds ist diese Zeitangabe Datum der Versammlung.]


36 Chullin 101 b.


37 Codex Theodosianus XVI, 8, 7.


38 Julians Sendschreiben an die jüdischen Gemeinden, Note 34.


39 Rosch ha-Schanah 21 a.


40 Note 31.


41 Jom Tob 4 b.


42 Haï Gaon in Abraham ben Chijas Sefer ha-Ibbur, S. 97. An dieser Tradition: תנשב אדוהי 'רב ללה ימי דע םדיב רשא הזה רדסה וזחא ... הנשה התואמש ... תורטשל ע"רת ist nicht zu rütteln durch die angeblich astronomischen Berechnungen in der neuern Zeit.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 319.
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