19. R. Meïr.

[433] R. Meïrs eigentlicher Name war השיאמ oder השאימ nach einer Nachricht des Talmuds (Erubin 13, b.), die merkwürdigerweise in unsern Ausgaben verstümmelt erscheint und nur von R. Chananel und Zacuto erhalten ist; sie lautete: ומש השיעמ 'ר אלא ומש ריאמ 'ר אל (Juchassin edit. Amst. 27. b.). השיעמ halte ich für das griechische Μούσƞς = השמ. – Die Agada, daß R. Meïr von dem, [433] Proselyte gewordenen Kaiser Nero abstammte, scheint einen polemischen Hintergrund zu haben. In der christlichen Welt spielte Nero eine sehr bedeutsame typische Rolle. In den ersten zwei Jahrhunderten war der Glaube verbreitet, Nero sei nicht umgekommen, sondern lebe irgendwo verborgen und werde eines Tages als Antichrist erscheinen. (Vergleiche Gieseler, Kirchengeschichte I. S. 98. Note.) Dieses von der christlichen Agada gebrandmarkten Nero scheint sich die jüdische Agada angenommen zu haben und ihm einen jüdischen Sohn oder Enkel gegeben zu haben.

Vom Witz zeigt R. Meïrs sentenziöser, das orientalische Leben und Temperament charakterisierender Spruch (Midrasch Kohelet zu 4. 3). Sah R. Meïr jemand ganz allein auf Reisen gehen, so pflegte er ihm zuzurufen: »Ich grüße dich, du dem Tod Verfallener!« אתימ ירמ ךלע םלש; sah er zwei zusammen eine Reise unternehmen, so sagte er: »Ich grüße euch dem Streit Verfallene!« אטטק ירמ ןוכל םלש; sah er hingegen drei zusammen reisen, so begrüßte er sie mit den Worten: »Gruß euch, ihr Friedensstifter!« ירמ ןוכל םלש אמלש. – Witzig ist ferner die von R. Meïr erzählte Anekdote (Genesis Rabba c. 29.), die an das homerische οὔτις in der Odyssee lebhaft erinnert, wie dieser Weise einen mit Räubern im Einverständnisse stehenden Gastwirt getäuscht, der seine Gäste, unter dem Vorwande, sie in der Dunkelheit auf den rechten Weg zu geleiten, gerade in die Räuberhöhle zu führen pflegte. Als dieser Gastwirt einst R. Meïr sein Geleite in der Nacht aufdrängen wollte, erfand der letztere eine Ausflucht, er müsse noch seinen Bruder Ki-tob erwarten, um dadurch Zeit zu gewinnen, die ganze Nacht in der Karawanserei zu bleiben. Mit Tagesanbruch, als er zur Abreise gerüstet war, bemerkte er gegen den Wirt, welcher nach dem erwarteten Bruder fragte: »Der Bruder, den ich ersehnt, war das Licht, von dem es heißt, daß es gut sei (בוט יכ).« – Witzig sind endlich R. Meïrs agadische Anwendungen von Bibelversen auf dogmatische und Zeitverhältnisse, die er durch eine geringe Buchstabenveränderung zustande brachte und in seinem Bibelkodex anmerkte. Der Tod sei ein Gut, weil er zur Unsterblichkeit führe, das deutete er mit den Worten דואמ בוט (ausgesprochen tob-mot) תומ בוט an (Genesis Rabba c. 9.). Der erste Mensch sei von Licht umflossen gewesen, Gott habe ihn mit einem Lichtgewand umhüllt: רוא תונתכ anstatt רוע תונתכ (l.c. 21.); Jesaias habe die Nacht der Leiden unter den Römern prophezeit: המור אשמ anstatt אשמ המוד (j. Taanit I. 1.). Von derselben Art ist auch R. Meïrs Umdeutung von εὐαγγέλιον in ןוילג ןוע (Sabbat 116 a. in den unzensierten Ausgaben).

Ich habe früher angenommen, daß der in der jüdischen Literatur ehrenvoll genannte Philosoph סומינבא ידרגה oder ידרגה סומינ mit dem Pythagoräer oder Neuplatoniker Numenios identifiziert werden könne, weil er ein Zeitgenosse R. Meïrs und der erste heidnische Philosoph war, der nicht nur die Bibel und die jüdische Agada kannte und sie zitierte, sondern dem Judentum soviel Autorität einräumte, daß er glaubte, Pythagoras und Plato hätten aus dieser Quelle ihre Weisheit geschöpft (Zellers Philosophie der Griechen III., S. 545); er nennt Plato den attischen Mose: Νουμƞνιὸς δὲ $ Πυϑαγόρειος φιλόσοφος ἀντικρὺς γράφε: τὶ γὰρ ἐστι Πλάτων ἤ Μωϋσῆς ἀττικίζων; (Clemens Alexandrin, Stromata I. 22.). Allein der Beiname ידרגה blieb mir rätselhaft. Ich glaube daher, daß der Kyniker Oenomaos von Gadara (ירדגה) besser dafür paßt (Suidas s.o.). Οἰνόμαος Γαδαρεὺς φιλόσοφος κυνικὸς γεγονὼς οὐ πολλῷ πρεσβύτερος Πορφυρίου. Mag Suidas Quelle oder Eusebius (bei Syncellus Chronographie p. 659) Recht haben, wenn er ihn mit Sextus und Agathobulus unter [434] Hadrian setzt, so war Oenomaos jedenfalls Zeitgenosse R. Meïrs. Freilich war dieser keineswegs ein so hervorragender Philosoph, wozu ihn die Agada stempelt (G. Rabba c. 65.) רועב ןב םעלבכ םלועב ןיפוסוליפ ודמע אל רמאת ורמא .םלצא םלועה תומוא לכ וסנכתנ ידרגה סומינבאכו תויסנכ יתב לע ורזחו וכל רמא ?וז המואל גוודזהל ןילוכי ונאש ןהלש תושררמ יתבו. Er wird deswegen mit Bileam gleichgestellt, weil er wie jener dem Judentum Anerkennung gezollt und es unter die Völker verbreiten half. (Vergl. Origines, Homilia in numeros 14. 15.): Agebatur enim Balaam mira et magna dispensatione, ut quoniam Prophetarum verba, quae intra aulam continebantur Israeliticam ad gentes pervenire non poterant, per Balaam ferrentur, cui fides ab universis gentibus habebatur. Von Oenomaos' philosophischen Schriften sind zwar nur Bruchstücke bekannt (bei Eusebius praeparatio evangel. V. c. 19. f. VI. 7. f.) und aus diesen nur so viel, daß er die Orakel der Götter und das Fatum ad absurdum geführt hat. Aber es ist doch viel, daß ein heidnischer Philosoph die Seele der griechischen Mythologie so angegriffen hat. Möglich, daß er in seinen untergegangenen Schriften dem Judentum das Wort geredet hat. סומינבא führte mit jüdischen Weisen, namentlich mit R. Meïr, philosophische Unterredungen (b. Chagiga etc.) סומינבא (Exod. Rabba c. 13.): ךיאה ץראה .ונימכח תא ידרגה סומינבא לאש ךל אלא וללה םירבדב עדוי םדא ןיא ול ורמא ?הליחת תארבנ יאנכה ףסוי אבא לצא; mit R. Meïr in Bezug auf Achar (b. Chagiga 15 b.) רמע לכ .מ"ר תא ידרגה סומינ לאש קילס הימיא בגא יקנ הוהד לכ ל"א ?קילס הרויל תוחנד. R. Meïr stand im intimen Verhältnis zu demselben (Rut Rabba I. 8.): תוארהל ריאמ 'ר הלעו ומא התמ ידרגה סומינבא םינפ ול תוארהל ריאמ 'ר הלעו ויבא תמ – םינפ ול.

Die Dialektik R. Meïrs, deren er sich bei Eruierung der Halacha oder nach Frankels richtiger Auffassung bei dem Resumieren der Ansichten nach der Diskussion, um das pro und contra ins Licht zu setzen (Monatsschr. I. S. 348), zu bedienen pflegte, wird an seinem Jünger Symmachos scharf getadelt. Die Beweisstellen dafür leiden aber an vielfachen Korruptionen und müssen eine aus der andern ergänzt werden. Von einem Jünger R. Meïrs wird mitgeteilt, daß er sophistisch die Berührung eines toten Reptils, obwohl in der Schrift für verunreinigend erklärt, aus 49 Gründen als rein zu beweisen imstande gewesen. Daß dieser Jünger Symmachos war, bezeugen b. Erubin 12. b. und Midrasch zu Psalm 12.: סוכמוסו ריאמ 'רל היה דימלת םינפ ט"מב ץרשה תא רהטמ היהש ומש. – Diese Nachricht wird von zweien tradiert: von R. Jochanan und R. Chija (אייח 'ר ינת), nur findet sich in Midrasch Psalm beim ersten die Korruption אביקע 'ר statt ריאמ 'ר, und im Talmud beim ersteren ח"מ האמוט לש רבדו רבד לכ לע האמוט ימעט anstatt הרהט ימעט und beim letzteren נ"ק anstatt ט"מ. In j. Synh. IV, Anf. und Pesikta c. 21. wird dasselbe berichtet, wenn man einige Korruptelen hinwegschafft; im erstern 'וכו 'רל היה קיתו דימלת, muß ergänzt werden ריאמ; im letzteren 'רל היה קיתו דימלת וכו' אביקע soll heißen ריאמ 'רל. Diese beiden Stellen haben aber den wichtigen Schluß von der Mißliebigkeit dieser Sophistik, daß jener Jünger (Symmachos) nicht von solchen abstammen könne, deren Eltern am Sinaï gestanden: יניסד ארוטמ עוטק אדימלת יאה ןירמא, und daß er dadurch außerstande gewesen, eine praktische Entscheidung zu treffen: הירוה עדי הוה אל אדימלת יאה.

R. Meïr lehrte auch in Ardiskos סוקסידרע (Nasir 56. b. Tosifta N. c. 5. Oholot c. 4.): יתכלהשכ רזעלא 'ר רמא (רתפ ןב הדוהי 'ר) שוריתפ ןב עשוהי 'ר תא יתאצמ איקסידרעל הכלהב ןינד ריאמ 'ר תאו und j. Erubin II. 1.: תבשש השעמ סוקסידראב ריאמ 'ר. Ardiskos ist aber mit Damaskus identisch; denn ינומדקו יזינק ינק wird [435] (b. Baba Batra 57. a.) mit אימפאו איסא סוקסידרע erklärt und in der Parallelstelle (j. Kidduschin 61. d., Genesis Rabba c. 44.) אימפאו איסא סוקסמרד [Vergl. dagegen Neubauer, la Géogr. du T. p. 196.] Während der hadrianischen Verfolgung war R. Meïr in Babylonien, wie aus b. Aboda Sara p. 18 hervorgeht, (ריאמ 'ר) לבבל אתא קרע und ebenso muß man lesen Midr. Kohelet 102. d.: לבבל קרעו wie Heilperin die Lesart hat (s. V. ריאמ). Überhaupt scheinen die Jünger R. Akibas nach der Euphratgegend geflohen zu sein.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 433-436.
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