1. Kapitel.

[9] Erstes Tannaiten-Geschlecht. Gründung des Lehrhauses in Jabne; R. Jochanan ben Sakkaï. Das Flavianische Kaiserhaus. Die letzten Herodianer.


Der unglückliche Ausgang des so energisch geführten vierjährigen Krieges gegen die Römer, der Untergang des Staates, die Einäscherung des Tempels, die Verurteilung der Kriegsgefangenen zu den Bleiwerken Ägyptens, zum Verkauf auf den Sklavenmärkten oder zum Kampfe mit wilden Tieren, wirkten auf die übrig gebliebenen Juden mit so niederschlagender Betäubung, daß sie ratlos waren über das, was nun zu tun sei. Judäa war entvölkert; alle, welche die Waffen ergriffen hatten, im Norden und im Süden, diesseits und jenseits des Jordans, waren auf den Schlachtfeldern gefallen oder mit der Sklavenkette in die Verbannung geschickt. Der zornerfüllte Sieger hatte Frauen und Kinder nicht geschont. Die neue Gefangenschaft, das römische Exil (Galut Edom), durch Vespasian und Titus hatte mit weit größeren Schrecken und Grausamkeiten als die babylonische Gefangenschaft unter Nebuchadnezar begonnen. Verschont geblieben waren nur die wenigen, welche es offen oder heimlich mit den Römern gehalten hatten, die Römlige, welche von Anfang an kein Gefühl für die Nationalsache hatten, die Herodianer und ihr Anhang; die Friedensfreunde, welche im Judentume eine andere Aufgabe erblickten, als mit blutigen Waffen zu kämpfen; die Besonnenen und Bedächtigen, die einen Kampf mit den Römern als einen Selbstmord betrachteten, und endlich Ernüchterte, welche anfangs das Abwerfen des eisernen Jochs der Römer für eine heilige Sache gehalten hatten, aber durch die Schreckensherrschaft der Zeloten und die Parteikämpfe geängstigt, die Waffen gestreckt und ihren Sonderfrieden mit dem Feinde geschlossen hatten. Diese wenigen Überbleibsel im jüdischen[9] Lande und die Gemeinden im benachbarten Syrien, welche immer noch gehofft hatten, Titus werde den Tempel, den Mittelpunkt des Kultus und der Religion, verschonen, waren von dessen Brand tieferschüttert und verzweifelt. Der Schmerz und die Betäubung über den Verlust des wie eine Pforte zum Himmel verehrten Tempels hatte noch größere Kreise ergriffen. Die Diaspora in Babylonien und in den griechisch redenden Ländern, Ägypten, Kleinasien und selbst in Griechenland hing mit dem tiefsten Empfinden des Herzens an dem Flecken Moria. Von hier aus hatten sie die Weisung über ihr religiöses Tun und Leben erhalten. Von Zion war für sie die Lehre ausgegangen und das Gotteswort vermittelst des in der Quaderhalle des Tempels tagenden Synhedrions von Jerusalem. Nun war das Synhedrion völlig aufgelöst, die Mitglieder entweder umgekommen oder zersprengt. Wie wird sich das Judentum als Lehre und religiöses Bekenntnis in dieser allgemeinen Auflösung erhalten können? Und wie wird die Judenheit, die bis dahin lediglich durch das Band der gemeinsamen Lehre und gewisser Institutionen zusammengehalten wurde, vor Zersplitterung und Zerfahrenheit geschützt werden können? Der Untergang des Judentums und damit zugleich der Gesamtjudenheit hätte damals viel sicherer vorausverkündet werden können, als zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft.

Der Fortbestand beider gleicht allerdings einem Wunder; aber auch ein Wunder bedarf natürlicher Bedingungen, vermöge deren es sich in die Erscheinung ringt. Welche Bedingungen waren wirksam, daß ein neues einheitliches Band sich knüpfen konnte, die Gesamtjudenheit zu umschlingen und einen neuen Mittelpunkt zu schaffen?

Von Bedeutung war es, daß eine Bevölkerung, wie gering auch an Zahl, im Lande geblieben ist, bleiben durfte, daß die Sieger zwar dem von der Provinz Syrien getrennten Judäa zur größeren Bewachung eine entsprechende militärische Besatzung gaben, deren Befehlshaber zugleich Statthalter von Judäa war1, daß sie aber nicht eine durchgreifende Exportation verhängt haben. Glücklich war die Lage der Überbleibsel im Landesteil Judäa keineswegs. Sie mußten unter den feindlichen Blicken der römischen Beamten zittern. Da Vespasian das eroberte Land als sein Eigentum erklärt hatte, so mußten die zurückgebliebenen Ackerbauer und Winzer den Boden von der Fremdherrschaft pachten. Sie konnten mit den Worten des Klageliedes seufzen: »Unser Erbe ist Fremden zugewendet, unsere Häuser den Feinden«. Allein sie hatten doch den Schein eines eigenen Vaterlandes, und dieses Vaterland galt als ein heiliges Land, als Erbe Gottes. Es war ein Trost im grenzenlosen Leiden.

[10] Wie ein Scheinvaterland bestand auch ein Scheinkönigtum. Agrippa II., welcher dem Siege der Römer soviel Vorschub geleistet hatte, war von Vespasian als König belassen worden. Sein Herrschergebiet war Galiläa, dessen judäische Bewohner sich unter seiner Herrschaft wohler gefühlt haben. Da er selbst in der Nähe des Kaisers und besonders des Cäsars Titus weilte, um die im tiefsten Innern gehegte Hoffnung, den Titularrang eines Königs von Judäa in den eines wirklichen Königs mit Herrschermacht verwandelt zu sehen, zu verwirklichen, so ließ er Galiläa von einem heidnischen Kriegsobersten und von einem judäischen Friedensbeamten verwalten. Agrippa scheint bei der jüdischen Bevölkerung des Landes beliebt gewesen zu sein, so sehr ihn auch die kriegführenden Zeloten wegen seiner Anhänglichkeit an Rom ingrimmig haßten. Als er einst, wahrscheinlich von einer Romfahrt zurückgekehrt, in einem Hafenplatz landete, beeilten sich auch die Gesetzesstrengen, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, selbst die Aaroniden scheuten sich nicht, dabei mit Verletzung des levitischen Reinheitsgesetzes über Grabgewölbe zu schreiten. Nach dem Untergang alles Hohen wollten sie sich an dem Anblick eines judäischen Königs weiden. Vielleicht schmeichelten sich einige, durch diesen Titularkönig die Wiederherstellung des judäischen Gemeinwesens zu erlangen. Es war ein lautes Geheimnis, daß Titus leidenschaftlich in die Prinzessin oder Königin Berenice, des Königs Schwester, verliebt war, daß er sie zu heiraten gedachte und aus Eifersucht einen seiner Tafelgenossen umbringen ließ. Allerdings der prosaische Vater mißbilligte eine solche Mischehe mit einer Barbarin, noch dazu mit einer Judäerin. Aber wie, wenn nach dessen Tode Titus zur Regierung gelangte und Berenice zur Kaiserin machte? Es war auch bekannt, daß sie trotz ihres Leichtsinns immer die rituellen Gesetze des Judentums beobachtete. Würde sie nicht ihren Einfluß aufbieten, die Opferstätte in Jerusalem wieder aufzurichten? Es war nicht ganz und gar eine kindische Illusion, von welcher sich die Gesetzestreuen leiten ließen, wenn sie häufig geltend machen: Bald kann das Heiligtum erbaut werden.

An diesen Schein des fortbestehenden, von Rom bestätigten Königtums und an die Hoffnung einer Restauration klammerten sich auswärtige wie heimische Gemeinden, und sie dämpfte für den Augenblick die Verzweiflung und beruhigte die aufgeregten Gemüter. Zur größeren Beruhigung diente aber das Auftreten und die Wirksamkeit des R. Jachanan ben Sakkaï, der dem erschütterten Volke eine neue und belebende Richtung vorzeichnete. Und ihm gelang es auch in der Tat die gelockerten Bestandteile zu einem Ganzen zusammenzufügen.

[11] Jochanan war ein Schüler Hillels und zwar, der Tradition nach, unter den achtzig Jüngern einer der jüngsten, dem sein großer Lehrer vorausverkündet haben soll, er werde der bedeutendste unter ihnen werden. Er soll vierzig Jahre lang Geschäfte getrieben haben2, wie überhaupt die Kraftgeister der jüdischen Geschichte die Lehre nicht zum Broterwerb oder zum Soldamte mißbrauchen mochten. Während des Staatslebens saß R. Jochanan im Synhedrion und lehrte im Schatten des Tempels; sein Lehrhaus in Jerusalem soll sehr bedeutend gewesen sein.3 Er war der erste, der die Sadduzäer mit Gründen siegreich bekämpfte und ihre grundlosen Theorieen mit scharfer Dialektik zu erschüttern verstand.4 In den Revolutionsstürmen gehörte er, infolge seines friedfertigen Charakters, zu der Friedenspartei; mehreremal hatte er Volk und Zeloten zur Übergabe der Stadt Jerusalem und zur Unterwürfigkeit unter die Römer nachdrücklich ermahnt. »Warum wollt ihr die Stadt zerstören und den Tempel dem Feuer preisgeben?« sprach er zu den Führern der Revolution. Trotz seines Ansehens verschmähten die Zeloten in ihrem Unabhängigkeitssinn seine treugemeinten Ermahnungen. Die Spione, welche der römische Feldherr im belagerten Jerusalem zu unterhalten wußte, um über alle Vorgänge Kunde zu erlangen, verfehlten nicht, ihm zu berichten, daß R. Jochanan zu den Römerfreunden gehöre und daß er die Häupter des Aufstandes zum Frieden ermahne. Die Nachrichten aus der Stadt wurden nämlich auf kleine Zettel geschrieben und vermittelst abgeschossener Pfeile ins römische Lager geschleudert. Furcht vor dem wütenden Fanatismus der Zelotenpartei oder weise Vorsicht, der Lehre im Voraus eine Zufluchtsstätte zu sichern, gaben R. Jochanan den Gedanken ein, ins römische Lager überzugehen. Aber die Entfernung aus der Stadt war bei dem lauernden Argwohn der Zeloten schwer ausführbar; R. Jochanan faßte daher den Entschluß, im Einverständnis mit einem Zelotenführer, Ben-Batiach, der sein Verwandter war, sich scheinbar als Leiche aus der Stadt bringen zu lassen. In einem Sarge trugen ihn seine Schüler Elieser und Josua in der Dämmerstunde bis zum Stadttore. Ein Stück faules Fleisch hatten sie noch dazu hineingelegt, um durch den Leichengeruch die Thorwache vollends zu täuschen. Diese trug jedoch Bedenken, den Sarg hindurch zu lassen, und machte schon Anstalt, ihn zu öffnen. [12] Nur die dringende Warnung ihres Führers Ben-Batiach, sich nicht an der Hülle des hochverehrten Lehrers zu vergehen, brachte sie von ihrem Vorhaben ab. Der römische Kriegsherr nahm den Flüchtling freundlich auf und stellte ihm eine Bitte frei. R. Jochanan bat bescheiden nur um die Erlaubnis, in Jabne ein Lehrhaus eröffnen zu dürfen. Gegen diesen unverfänglichen Wunsch hatte jener nichts einzuwenden, da er nicht ahnen konnte, daß durch diesen geringfügigen Akt das schwache Judentum in den Stand gesetzt sein würde, das kraftstrotzende, eherne Römertum um Jahrtausende zu überleben. Von der jüdischen Quelle wird als dieser Feldherr nicht Titus, sondern Vespasian bezeichnet, dessen gnädiges Entgegenkommen dort noch damit begründet wird, daß R. Jochanan ihm seine Erhebung zur Kaiserwürde vorher verkündet habe. Bei R. Jochanan soll diese Voraussage nicht die Folge einer Prophetengabe, sondern eine, durch die Deutung eines Prophetenwortes gewonnene Überzeugung gewesen sein, daß »der Libanon (Tempel) nur durch einen Gekrönten fallen könne« (Jesaias 10. 35.).5 Dieser Nebenzug durfte in der Darstellung um so weniger übergangen werden, als auch der Geschichtsschreiber Josephus, der sich aus persönlichem Interesse den Römern ganz und gar verkauft hatte, dasselbe von sich erzählt.6 In seiner Art den römischen Machthabern zu schmeicheln und seine Eitelkeit zu befriedigen, rühmt sich Josephus mit nachdrücklicher Hinweisung auf den Besitz der ihm von Gott verliehenen Prophetengabe, er habe Vespasian seine Kaiserwürde prophezeit.

R. Jochanan ließ sich mit seinen Schülern in Jabne oder Jamnia nieder, einer Stadt unweit der Küste des Mittelländischen Meeres, zwischen der Hafenstadt Joppe und der ehemaligen Philisterstadt Asdod und auf römischem Gebiet gelegen. Es war eine alte und nicht unbedeutende Stadt, ein Stapelplatz für Aus-und Einfuhr von Weizen. Einige behaupten nach einer sagenhaften Quelle, daß in Jabne schon früher ein Lehrhaus bestanden; doch ist es vielmehr zweifellos, daß diese Wichtigkeit Jabnes erst nach der Zerstörung Jerusalems begonnen hat.7 Auch nach R. Jochanans Niederlassung war nicht an irgend eine Tätigkeit zu denken, so lange der erbitterte [13] Kampf vor den Mauern Jerusalems, in seinen Straßen und um den Tempel wütete. – Als die Nachricht einlief, daß die Stadt gefallen und der Tempel in Flammen aufgelodert sei, zerrissen R. Jochanan und seine Jünger ihre Kleider, trauerten und jammerten, wie um den Tod eines Nahverwandten. Aber der Meister verzweifelte nicht, wie die Jünger; denn er erkannte, daß das Wesen des Judentums nicht unauflöslich an Tempel und Altar gebunden sei, um mit ihnen unterzugehen. Er tröstete vielmehr seine trauernden Schüler über den Verlust der Sühnestätte mit der Bemerkung, daß »Mildtätigkeit« das Opfer ersetze, wie es in der Schrift heißt: »denn ich habe an Mildtätigkeit Gefallen und nicht am Opfer«.8 Diese freie Ansicht über den Wert der Opfer ließ ihn klar erkennen, daß es vor allem nötig sei, einen neuen Mittelpunkt anstatt des Tempels hinzustellen. Er ließ daher in Jabne ein Synhedrion zusammentreten, als dessen Präsident er um so eher anerkannt wurde, als er der einzig übriggebliebene Schüler Hillels gewesen sein mochte, und Gamaliel, der Sohn des in der Revolution tätigen Patriarchen Simon, ohne Zweifel noch unmündig war.9 Das neue zusammengeraffte Synhedrion war sicherlich nicht vollzählig mit siebzig Mitgliedern besetzt und sollte wohl einen ganz anderen Wirkungskreis haben, als das jerusalemische während der Revolution, dem die Gewalt der Verhältnisse die wichtigsten politischen Angelegenheiten zugewiesen hatte. Dem jamnensischen Synhedrion übertrug dessen Gründer vor allem die religiöse Machtvollkommenheit, die es in Jerusalem besessen hatte, mit der zugleich die richterlichen Funktionen eines Obertribunals verbunden waren. Nur die vollgültige Autorität R. Jochanans konnte ein solches Werk, wie die Schöpfung und Kräftigung eines Synhedrions, unter den ungünstigsten Umständen zustande bringen. Denn er mußte der herrschenden Ansicht entgegentreten, daß der Synhedrialkörper lediglich innerhalb der Tempelquaderhalle (Lischchat ha-Gazit) Befugnis habe, außerhalb dieser Stätte aber seinen gesetzgebenden und gesetzentscheidenden Charakter verliere und aufhöre, Vertretung der Nation zu sein. Das Synhedrion und seine Funktionen galten bis dahin selbst nur als ein wesentlicher Teil des Tempellebens und waren ohne dessen Bestand gar nicht denkbar. Indem also R. Jochanan die Synbedrialfunktionen von der Tempelstätte ablöste und sie auf Jabne übertrug, hatte [14] er das Judentum überhaupt vom Opferkultus losgelöst und es selbständig hingestellt. Ohne daß dieser Akt irgendwo Widerspruch gefunden hätte, vertrat Jabne von nun an Jerusalem ganz und gar; es wurde der religiöse und nationale Mittelpunkt für die zerstörten Gemeinden. Die wichtigste Funktion des Synhedrions, wodurch es zunächst bestimmend und vereinigend auf die auswärtigen Gemeinden wirkte, nämlich die Anordnung des Neumondes und der Festzeiten, ging von Jabne aus. Es sollte die meisten religiösen Vorrechte der heiligen Stadt genießen; unter anderm sollte das Posaunenblasen am Neujahrstage, der auf einen Sabbat fiele, hier ebenso ausgeübt werden, wie früher in der heiligen Stadt.10 Das Synhedrialkollegium führte von jetzt an den Namen Bet-Din (Obergerichtshof), der Vorsitzende hieß Rosch-bet-din, wurde aber mit dem Titel Rabban, d.h. allgemeiner Lehrer, beehrt. Dem Gerichtshofe allein übertrug Rabban Jochanan das Kalenderwesen, das früher eine Ehrenfunktion des Präsidenten gewesen war, so daß die Zeugen, welche über das Sichtbarwerden des Neumondes auszusagen hatten, nicht mehr, wie früher, dem Präsidenten nachzugehen, sondern lediglich sich zur Sitzung des Obergerichtshofes zu begeben brauchten.11 Diese Neuerung war ein wichtiger Schritt, das Synhedrion selbständig hinzustellen und von der Person des Vorsitzenden unabhängig zu machen. – Die Überlieferung zählt im ganzen neun Einrichtungen auf, welche R. Jochanan eingeführt hat. Die meisten betrafen die Aufhebung solcher Bestimmungen, welche nach dem Untergange des Tempels bedeutungslos geworden waren. Doch behielt er manche religiöse Sitte, wie den Feststrauß für die ganzen sieben Festtage, den Priestersegen ohne Fußbekleidung12 zum Andenken an das Tempelleben bei.

Noch mehr förderte er nach einer andern Seite hin den Fortbestand und die Erhaltung des Judentums mit nicht geringerer Tatkraft. Indem er für die lebendige Fortpflanzung der Lehre sorgte, befestigte er um so dauerhafter die gelockerten Wurzeln des jüdischen Gesamtwesens. Im Lehrhause wirkte er zunächst auf seine Jünger, auf die er seinen Geist und sein Wissen übertrug. Fünf seiner ausgezeichneten Schüler werden namhaft gemacht, von denen aber nur drei einen bleibenden Namen erlangt haben, die schon genannten Elieser und Josua, die ihn im Sarge aus Jerusalem getragen hatten, und neben ihnen Eleasar ben Arach; auch der nachmalige Patriarch Gamaliel war sein Schüler.13 Der [15] hervorragendste und bedeutendste unter ihnen war Eleasar ben Arach, von dem gesagt wurde, daß er, auf eine Wagschale gelegt, alle seine Mitjünger aufwiege. Ihr Meister liebte es, sie durch inhaltreiche Fragen zum Selbstdenken anzuleiten.14 So gab er ihnen einst das Thema zum Nachdenken auf: »Was soll sich der Mensch am liebsten aneignen?« Der eine erwiderte: »ein wohlwollendes Wesen«; ein Anderer: »einen edlen Freund«; ein Dritter: »einen edlen Nachbar; der Vierte endlich: »Die Gabe, die Folgen seiner Taten im Voraus zu berechnen«. Eleasar bemerkte: »der Mensch soll sich ein edles Herz aneignen«, und diese Bemerkung gefiel R. Jochanan und er erklärte sich ganz derselben Ansicht, weil darin alles enthalten sei.

R. Jochanan galt zu seiner Zeit als der volle Inbegriff und als lebendiger Träger der mündlichen Lehre, er umfaßte alle ihre Teile mit Meisterschaft. Hillel, sein Lehrer, hatte dem Judentume einen eigenen Schnitt und Wurf gegeben oder vielmehr den Gesetzescharakter, der ihm von Hause aus eigen ist, zuerst ausgebildet und begründet und damit eine eigene Theorie, eine Art jüdische Theologie, richtiger Nomologie (Lehre vom Religionsgesetze) geschaffen. Er war der erste Begründer der talmudischen Behandlungsweise der Lehre. Aus dem Getriebe der Parteien, welche einander zerfleischten, hatte Hillel die Lehre in das Stilleben des Lehrhauses gezogen, sie mit Sorgfalt umgeben und mit den ihr scheinbar feindlichen Denkgesetzen zu versöhnen versucht. Denn dem, was bisher nur als Brauch und Herkommen gegolten und darum von den Sadduzäern als Menschensatzung und als unberechtigte Neuerung verworfen worden war, hatte Hillel eine biblische oder sinaitische Unterlage gegeben. Seine sieben Deutungs- oder Auslegungsregeln hatten den Kreis der vorhandenen und durch die sopherischen und pharisäischen Lehrer eingeführten Gesetze einerseits gesichert und anderseits ihnen die Keimfähigkeit gegeben, sich zu erweitern. Die schriftliche (pentateuchische) und mündliche (sopherische) Lehre lagen seitdem nicht mehr wie zwei einander fremde Gebiete weit auseinander, sondern traten in innige Berührung zu einander, durchdrangen und befruchteten einander.

Von einer anderen Seite hatte sich noch zur Zeit des Tempelbestandes eine andere Art der Schriftauslegung ausgebildet. Seitdem der idumäische Herodes den einander bekämpfenden Parteien die Waffen aus den Händen gerungen, allen den Fuß auf den Nacken gesetzt und mit den Römern gemeinschaftliche Sache gemacht hatte, hatten die für die Freiheit und Nationalität glühenden, [16] zelotischen Lehrer des Volkes geistige Waffen geschaffen, um die verhaßte Fremdherrschaft zu bekämpfen. In die scheinbar harmlose Auslegung des Bibel- und besonders des Prophetenwortes mischten sie ironische Anspielungen und spitzige Andeutungen auf Edom, den Bruder und doch Feind Jakobs. Diese Anspielungen, einmal angebahnt, wurden häufiger, witziger und zugleich erbitterter gegen Rom angewendet, als dieses ohne Fug und Recht Judäa in eine Provinz verwandelt und ihm Blutsauger als Beherrscher vorgesetzt hatte. Jeder Vortrag in den Lehrhäusern, vielleicht auch in den Synagogen, war eine mehr oder weniger versteckte politische Polemik gegen die römische Tyrannei; die Stichworte waren Edom, Esau, der biblische Träger für das Prinzip des blutigen Schwertes, der Gottlosigkeit und der Verhöhnung des Gesetzes. So hatte sich eine eigene Vortragsweise und Schriftauslegung gebildet, beziehungs- und anspielungsreich, voller Stacheln und Spitzen, welche in den Vorgängen und Zuständen der Vergangenheit die Gegenwart herauskehrte und sich in ihnen abspiegeln ließ. Sie wurde Agada (Homilie) genannt; sie gebrauchte jedes rednerische Mittel, um auf das Gemüt der Zuhörer zu wirken, Fabeln, Parabeln, nur nicht sinngemäße Exegese. Die Lehre zerfiel in zwei Fächer oder Hauptteile; der eine mit Gesetzescharakter führte den Namen Mischna (aramäisch Matnita) (δευτέρωσις), gleichsam die zweite Lehre neben der schriftlichen Lehre (Mikra), als der ersten. Die Kenner und Überlieferer der Mischna hießen Tannaim (Tannaiten), von denen dieses Zeitalter den Namen erhalten hat. Der andere Teil der Lehre ohne Gesetzescharakter umfaßte die Agada oder die predigtartige, zwangslose Auslegung der heiligen Schrift. –

Der Inhalt der Mischna wurde in dreifachen Lehrweisen vorgetragen, die jedoch in innigem Zusammenhange und ineinandergreifender Wechselwirkung zueinander standen.

Die erste Art war, die überlieferten Gesetzesbestimmungen einfach im Namen einer älteren Autorität oder kraft eines Synhedrialbeschlusses, ganz trocken ohne weitere Erläuterung, eigentlich nur für das Gedächtnis berechnet, mitzuteilen, damit die Gesetze, beim Mangel an schriftlichen Dokumenten, nicht der Vergessenheit verfallen sollten. Solche ganz bestimmte, kurz gefaßte Sätze nannte man Halacha, das eben so gut Herkommen, Brauch, wie Praxis bedeutet. Halachische Sätze sollten zur Sicherheit der Überlieferung mit denselben Worten mitgeteilt und weitergefördert werden, wie sie aus dem Munde des Lehrers vernommen worden, um dadurch jedem willkürlichen Zusatze vorzubeugen.15 So weit solche Halachas [17] aus älterer Zeit bereits ausgeprägt vorlagen, waren sie in dieser Zeit durchaus nicht geordnet oder irgendwie klassifiziert, sondern ohne Zusammenhang untereinander, nur an den Namen des Überlieferers gereiht. So lehrte man zum Beispiel: Hillel hat sechs Halachas überliefert und zwar diese und diese. Die Halacha bildete den Grundstock der mündlichen Lehre, deren treue Bewahrung und gewissenhafte Überlieferung die Lebensaufgabe dieses Zeitraumes war. – Die zweite Art war, den Stoff der Tradition aus dem Schriftworte nach gewissen Regeln herzuleiten, entweder aus dem Inhalte und Zusammenhange des Textes oder aus einer Andeutung, aus einem eigenen Worte oder aus einer eigenen Silbe. Diese Art der Herleitung aus der Schrift hieß Midrasch (Deutung); das geschriebene Wort galt als Träger für den mündlichen Gesetzesstoff.16

Die dritte Art war, die Regeln der Schriftauslegung auf Grund vorhandener Gesetzesbestimmungen unter gewissen Umständen auf neue Fälle anzuwenden. Dieses Verfahren der Anwendung und Folgerung hieß Talmud (im engeren Sinne). Die Herleitungsregeln waren aber zu der Zeit weder fest, noch allgemein giltig. Die sieben Regeln, welche Hillel zuerst aufgestellt hatte, fanden bei Schammaï und seiner Schule Widerspruch.17 – Die talmudische Lehrweise erforderte vermöge ihrer Eigentümlichkeit, aus gegebenen Gesetzen neue Resultate zu ermitteln, mehr Gedankenarbeit, sie erweckte die logischen Operationen des Geistes, schärfte den Verstand und befähigte ihn, sich in neue Gedankenkreise leicht hineinzufinden.

Die Agada, welche unter der Hand der friedliebenden Hillelschen Schule, der übriggebliebenen Trägerin der Lehre, einen andern Charakter hatte oder annahm, machte ein eigenes Fach aus. Sie war in diesem Kreise nicht feindselig oder aufreizend, sondern harmlos erbaulich, versöhnlich. Die Erläuterung der Geschichte, des Prophetenwortes, das Vergegenwärtigen der Vergangenheit und Zukunft des Judentums war ihr Geschäft. Sie zog in ihren Kreis die Untersuchung über Sinn und Bedeutung der Gesetze, sie forschte nach den allgemeinen sittlichen Wahrheiten des Judentums, sie verknüpfte geschickt die Gegenwart mit der Vergangenheit und ließ aus alten Erlebnissen gegenwärtige Lebenslagen widerspiegeln. Die Halacha bildete den Grundstamm der Lehre, der Midrasch die Saugwurzeln, die aus dem Schriftworte das Lebenselement sogen, der Talmud die weitverzweigten Äste, und die Agada war die Blüte, welche den farblosen Stoff der Gesetze durchduftete und färbte.18

[18] Alle diese Teile der mündlichen Lehre: Halacha, Midrasch, Talmud und Agada handhabte R. Jonachan ben Sakkaï in seinem Vortrage und schuf daraus den Lebensodem, der den erstarrten Volkskörper neu belebte und zu neuer Kraftäußerung emporschnellte. Die Sage schreibt aber R. Jochanan noch viele andere Kenntnisse zu, die sich erst im späteren Verlaufe der Geschichte ausgebildet und ausgeprägt haben. Eigentümlich behandelte er die Agada, er erhob sie beinahe zur Höhe philosophischer Anschauung. Die Gesetzesbestimmungen suchte er vernunftgemäß zu beleuchten und an allmeine Wahrheiten zu knüpfen19, aber in ganz schlichter und nüchterner, nicht in der überschwenglichen Weise der alexandrinisch-jüdischen Philosophie, die den blendenden Schimmer der griechischen Gedankenwelt aus der heiligen Schrift herausdeutelte oder in sie hineintrug. Unter anderem deutete R. Jochanan das Verbot, beim Bau des Altars eiserne Werkzeuge zu gebrauchen, sehr sinnig: »Das Eisen ist Symbol des Krieges und der Zwietracht, der Altar hingegen das Symbol des Friedens und der Sühne; darum soll das Eisen vom Altar fern bleiben.« Er folgerte daraus den hohen Wert des Friedens und der Friedensstiftung »zwischen Mann und Frau, einer Stadt und der andern, einer Familie und der andern, zwischen Volk und Volk.« Es sind dieselben Grundsätze, die ihn bewogen hatten, es mit den Römern gegen die Revolution zu halten. Auf diese Weise deutete er mehrere Gesetze und machte das Auffallende und Seltsame an ihnen dem Geiste und dem Herzen verständlich und verwandt. Auch mit Heiden, welche durch Umgang mit Juden oder aus der griechischen Übersetzung der heiligen Schrift Kunde von der Lehre des Judentums hatten, pflegte Jochanan ben Sakkaï Unterredungen zu halten, indem er Widersprüche, die sie aufgeworfen hatten, widerlegte und ausglättete oder Seltsamkeiten an den religiösen Vorschriften durch passende Gleichnisse erläuterte.20

Neben R. Jochanan, welcher der Mittelpunkt und Hauptträger dieser Zeit war, bildeten sieben Tannaiten den Lehrerkreis. Sie standen sämtlich beim Untergang des Staates in hohem Alter, gehören demnach diesem Geschlechte an und waren ohne Zweifel Mitglieder des jamnensischen Synhedrin. Die meisten von ihnen sind bis auf geringe Züge nur dem Namen nach bekannt. Die sieben ältern Tannaiten waren: R. Chanina, Stellvertreter mehrerer Hohenpriester (Segan ha-Kohanim), welcher Traditionen aus dem[19] Tempelleben überlieferte. Er gehörte auch zu den Friedliebenden und ermahnte seine Zeitgenossen für das Wohlergehen der herrschenden Macht, der Römer, zu beten, weil, »wenn die Furcht vor ihr nicht vorhanden wäre, einer den andern lebendig verschlingen würde.« Es gehörte ferner dazu R. Zadok, ein Schüler Schammaïs, der in der Ahnung von dem Untergange des Tempels vierzig Tage fastete, und seine Gesundheit dadurch so zerrüttete, daß sie später nicht mehr hergestellt werden konnte. Nachum der Medier, früher Mitglied eines eigenen Gerichtskollegiums in Jerusalem21; R. Dossa ben Harchinaß, ein konsequenter Schüler Hillels, der seine Gäste auf vergoldeten Sesseln sitzen lassen konnte. Er lebte noch bis tief in das nachfolgende Geschlecht hinein, stand in hohem Ansehen und war in zweifelhaften Fällen das Orakel für die Mitglieder desselben. Mit seinem Bruder Jonathan, einem scharfsinnigen und disputiersüchtigen Jünger Schammaïs, konnte sich R. Dossa nicht vertragen und warnte die Unerfahrenen vor dessen verfänglichen Erörterungen. Der fünfte dieses Kreises war Abba Saul ben Botnit, früher Weinhändler in Jerusalem. In seinem Geschäfte war er so außerordentlich gewissenhaft, daß er nicht einmal die Neige für sich behalten mochte, weil er glaubte, daß sie den Käufern gehörte. Er sammelte davon 300 Maß und brachte es den Tempelschatzmeistern in Jerusalem. Obwohl man ihm das Anrecht darauf zusprach, mochte er doch keinen Gebrauch davon machen. Auf seinem Totenbette konnte er seine Hand ausstrecken und von sich rühmen: »Diese Hand war gewissenhaft beim Messen.«22 Abba Saul entwarf ein grelles Gemälde von den herrschenden hohenpriesterlichen Familien während des Zeitalters der Herodianer, wie sie an Ehrgeiz, Habgier, Eitelkeit und Intrigensucht einander überbietend, das weiße Kleid des Hohenpriestertums befleckten. Abba Sauls Worte lauten in ihrer scharfen einschneidenden Kürze: »Wehe mir um das Haus Boëthos und um ihre Knüttel; wehe mir um das Haus Anan und um ihre Einflüsterungen; wehe mir um das Haus Katharas (Kantharas) und um ihre Schmähschriften; wehe mir um das Haus Phabi und um ihre Fäuste; sie machen sich selbst zu Hohenpriestern, ihre Söhne zu Schatzmeistern, ihre Schwiegersöhne zu Aufsehern, und ihre Sklaven traktieren das Volk mit Knütteln.«23

Unter diesen Tannaiten haben jedoch nur die zwei folgenden geschichtliche Bedeutsamkeit in der Entwicklung der Traditionslehre: [20] Nachum aus Gimso und Nechunja ben Hakana; beide hatten eine eigene Schule und Lehrweise. Nachum aus Gimso, einer eine halbe geographische Meile von Lydda entfernten Stadt24, hat die Sage zum Helden vieler wunderlicher Abenteuer gemacht und selbst den Namen seines Geburtsortes Gimso hat sie agadisch gedeutet, um ihm die Worte in den Mund zu legen: »Auch dieses gereicht zum Guten« (Gam-su l'-toba). Er gilt in der Sagenwelt als Candide, dem viele widerwärtige Erlebnisse zustießen, die ihm aber sämtlich zum Guten umschlugen. Nur in seinem Alter traf ihn gehäuftes Unglück, seine Augen waren erblindet und seine Gliedmaßen gelähmt. Um die Gerechtigkeit des Himmels nicht anzuklagen, maß er in selbstquälerischer Weise sich selbst dieses Unglück als gerechte Strafe zu. Er erzählte denen, die ihn besuchten, daß ihn die Leiden mit Recht als Folgen seines Vergehens getroffen hätten. Als er einst seinem Schwiegervater reiche Geschenke, auf Eseln geladen, zugeführt, habe ihn ein Armer um eine Gabe angefleht, den er warten ließ, bis er das Gepäck werde abgeladen haben. Wie er sich dann nach dem Armen umgesehen, habe er ihn tot gefunden. Im Schmerze über den verschuldeten Tod eines Menschen habe er seinen Augen Blindheit, seinen Händen und Füßen Lähmung angewünscht, weil sie nicht mit mehr Rührigkeit für den Armen gesorgt hatten, und diese Verwünschung habe ihn bald darauf getroffen. Seine Schüler konnten sich beim Anblick seiner Leiden eines Schmerzensrufes nicht erwehren: »Wehe uns, dich in diesem Zustande zu sehen!« Nachum aus Gimso antwortete ihnen: »Wehe mir, wenn ihr mich nicht in diesem Zustande erblicktet!«25 Nachums eigene Lehrweise bestand darin, die mündliche Lehre aus dem heiligen Texte herauszudeuten auf Grund gewisser Partikeln, deren sich der Gesetzgeber bei der Fassung der Gesetze recht absichtlich zum Fingerzeig bedient hätte. Solche Partikeln sollen nach seiner Ansicht nicht nur zur syntaktischen Ordnung der Sätze dienen, sondern vielmehr als Andeutung für Erweiterungen und Einschränkungen des gegebenen Gesetzkreises niedergeschrieben sein.26 Dieses Herleitungsverfahren Nachums war ein neuer, fruchtbarer Zusatz zu den Hillelschen Deutungsregeln; es fand Aufnahme, Pflege und Weiterbildung und führte den Namen die Regel der [21] Erweiterung und Ausschließung (Ribbuj u-mi'ut); aber es hatte auch Gegner gefunden.

R. Nechunja ben Hakana wird besonders als Gegner dieser Nachumschen Lehrweise genannt. Es ist von ihm weiter nichts bekannt, als daß er sanften, nachgiebigen Charakters war. Er gehörte nicht zu dem Jüngerkreise R. Jochanans, sondern war sein ebenbürtiger Zeitgenosse.27 R. Nechunja verwarf die Regeln der Erweiterung und Ausschließung und behielt nur die Hillelschen Regeln bei.28 Eine sehr junge Sage stempelt ihn zum Kabbalisten und schreibt ihm oder seinem Vater Kanah die Abfassung mehrerer mystischer Schriften zu, die aber, wie alle den älteren Tannaiten beigelegten Kabbalawerke, ganz entschieden jüngeren Ursprungs sind.

R. Jochanan ben Sakkaï scheint auch nach der politischen Seite hin ein Schild für das junge Gemeindeleben, das er neu geschaffen, gewesen zu sein. Seinen freundlich milden Charakter, wodurch er seinem Lehrer Hillel so ähnlich war, bewährte er auch gegen Heiden. Es wird von ihm erzählt, daß er Heiden zuvorkommend grüßte.29 Solche Freundlichkeit bildet einen grellen Kontrast zu dem Hasse der Zeloten gegen die Heiden vor dem Aufstande und während desselben, der sich dann nach der Tempelzerstörung noch steigerte. Den Vers (Sprüche 14, 10): »Die Milde der Völker ist Sünde« deuteten die Zeitgenossen ganz buchstäblich, mit sichtbarer Gereiztheit gegen die Heidenwelt, zu deren Nachteil, indem sie es geradezu aussprachen: »Die Heiden mögen uns noch so viel Gutes und Mildes erweisen, so wird es ihnen als Sünde angerechnet; denn sie tun es nur, um uns zu verhöhnen.« Nur R. Jochanan ben Sakkaï deutet diesen Vers im Sinne echter Menschenliebe: »Wie das Sündenopfer Israel sühnt, so sühnt Wohltätigkeit und Milde die Heidenvölker.«30 Eben diese sich gleichbleibende Friedfertigkeit R. Jochanans mag dazu beigetragen haben, daß die zwei flavianischen Kaiser Vespasian und Titus trotz neuer Aufstände der Juden, die sie in Kyrene und Ägypten zu dämpfen hatten, ihre Strenge aufgaben und die judäischen Gemeinden keine außerordentliche Verfolgung mehr erdulden ließen. Ausdrücklich merken die ältesten Quellen an, daß die römischen Machthaber nach der Dämpfung des Krieges die Ächtung, welche früher gegen jeden Juden verhängt war, der den Soldaten in die Hände fiel, aufhoben und sogar die Todesstrafe auf den Mord eines Juden setzten.31 R. Jochanans Persönlichkeit mochte ihnen Garantie für die friedliche Gesinnung des Mutterlandes geboten haben. Die flavianischen Kaiser waren [22] überhaupt nicht undankbar gegen diejenigen, welche es treu mit ihnen hielten. Josephus, dessen Machinationen sie allerdings einen Teil ihres Sieges zu verdanken hatten, stand bei ihnen in hoher Gunst, erlangte von ihnen Ländereien, Ehren, Vorrechte und sogar eine Wohnung in den kaiserlichen Gemächern.32 In der Tat erfährt man bis auf die Regierung des blutdürstigen Domitian von keiner besonderen politischen Bedrückung der judäischen Gemeinden. Nur die Tempelsteuer, die Vespasian in eine Zwangssteuer zur Zahlung an den Jupiter Capitolinus verhängt hatte, wurde nachdrücklich eingetrieben; sie betrug einen halben Sekel (ungefähr 1 Mark 12 Pf. auf den Kopf)33 und sie erhielt den Namen jüdischer Fiskus (Fiscus Judaicus). Daran hatte aber die sprichwörtlich gewordene Habgier Vespasians mehr Anteil als Verfolgungssucht. Außer dieser förmlichen Judensteuer, die hier zu allererst auftritt, scheinen auch ungesetzliche Eingriffe in das Vermögen der Juden häufig vorgekommen zu sein. Es ist aber aus den Quellen nicht zu ermitteln, ob sich nur einzelne Römer Erpressungen von Grundstücken durch Androhung des Todes erlaubt oder die römischen Behörden Güterkonfiskationen vorgenommen haben. Eine Quelle stellt diesen Raub der Römer an liegenden Gründen der Juden in unzweideutigen Worten dar: »Die Römer verhängten Verfolgung über die Juden, machten sie sich untertänig, nahmen ihre Felder weg, um sie andern zu verkaufen.« Man nannte diese Gewalttätigkeit Sicarikon, von dem blutigen Handwerke der Sicarier (Banditen in der Maske politisch-nationaler Zeloten mit kurzen Dolchen), welche vor und während des letzten Krieges eine terroristische Rolle gespielt hatten. Fälle des Ackerraubes müssen so häufig vorgekommen sein, daß sich die jüdische Gesetzgebung mit der Frage beschäftigen mußte, inwiefern der Kauf eines solchen Gutes rechtskräftig sei. Das Synhedrin erließ ein Sicariergesetz (Din sicaricon), das den Kauf unter gewissen Beschränkungen anerkannt hat, damit der Boden des heiligen Landes nicht in den Händen der räuberischen Römer bleiben sollte, wenn Juden vom Kaufe abgeschreckt würden.34

Aus solchen Vorgängen mußte ein unbehaglicher Zustand hervorgehen, welcher den Verlust der Freiheit noch fühlbarer machte. Dieses Mißbehagen der Abhängigkeit schilderte R. Jochanan selbst [23] mit treffenden Worten, welche seinen Zeitgenossen einen Spiegel ihrer Gesinnung entgegen hielten. Er sah einst eine Frau aus dem reichen und angesehenen Hause Nicodemos ben Gorion aus Jerusalem, wie sie in Maon unter Rosseshufen Gerstenkörner zu ihrer kärglichen Nahrung auflas. Diese Szene machte einen um so schmerzlicheren Eindruck auf ihn, als er Zeuge ihres ehemaligen Glückes und Glanzes war. »Unglückliches Volk,« sprach er, »ihr wolltet nicht eurem Gotte dienen, so müßt ihr jetzt fremden Völkern dienstbar sein; ihr mochtet nicht einen halben Sekel für den Tempel steuern, so müßt ihr jetzt fünfzehn Sekel für den Staat eurer Feinde zahlen; ihr mochtet nicht die Wege und Straßen für die Festwaller in Ordnung halten, so müßt ihr jetzt die Wächterhäuser in den Weinbergen unterhalten, die sich die Römer angeeignet haben.«35 Das war allerdings hart für diejenigen, denen die Freiheit und Selbständigkeit noch in frischem Andenken lebten; aber diese Lage war noch erträglich gegen den Leidensstand der unmittelbar nachfolgenden Zeiten. Zu dem leidlichen Verhältnisse zwischen den siegenden Kaisern Vespasian und Titus und den besiegten Juden mögen auch die übrig gebliebenen Glieder des herodianischen Königshauses, Agrippa und seine Schwester Berenice, beigetragen haben, die in ganz nahen Beziehungen zu den Machthabern standen. Die Fürstin Berenice, deren Schönheit der Zeit zu trotzen schien, hielt eine sehr lange Zeit den leidenschaftlichen Titus in ihren Reizen gefesselt, und es fehlte nur sehr wenig dazu, daß die jüdische Fürstin römische Kaiserin geworden wäre. Nur das Vorurteil des römischen Stolzes gegen ihre jüdische und barbarische Abstammung, wie die Römer es nannten, störte das Eingehen eines ehelichen Bündnisses zwischen Titus und Berenice; es legte dem Kaisersohne den Zwang auf, das jahrelang gepflogene Verhältnis mit gebrochenem Herzen aufzulösen. So hatte es wohl der kluge kaiserliche Vater verlangt; die jüdische Prinzessin mußte den Palast und Rom verlassen. Als Titus Kaiser geworden war, eilte Berenice nach Rom, in der Erwartung, von ihm mit offenen Armen und schlagendem Herzen empfangen zu werden. Sie wurde aber kalt abgewiesen; in der Brust des wiewohl noch jugendlichen Kaisers schlug nicht mehr das Herz des Jünglings, er hatte sich inzwischen unnatürlichen Gelüsten ergeben.36 Die Glieder des jüdischen Königshauses sind übrigens in der jüdischen Geschichte ganz und gar verschollen; nicht einmal die gefällige Sage hat sich ihrer angenommen, um ihrem Untergange einige elegische Klänge zu [24] weihen. Das herodianische Haus hatte in dem Herzen des Volkes kein Plätzchen gewonnen, darum rächte sich das Volk an ihm durch vollständiges Vergessen. Ohne Zweifel verloren sich Herodes' Nachkommen durch Mischehen unter die Römer. Einige Glieder derselben saßen auf dem Throne von Groß- und Klein-Armenien, freilich als völlig dem Judentume entfremdet. Nur von einem einzigen Gliede dieses Hauses ist der tragische Tod bekannt geworden: Agrippa, ein Neffe des letzten jüdischen Königs Agrippa, ein Sohn der leichtsinnigen Drusilla, fand mit seiner Frau den Tod in den Flammen des Vesuvs37, als dieser bei seinem heftigen Ausbruche im Jahre 79 die Städte Herkulanum und Pompeji unter einer Lavadecke begrub.

Wie lange R. Jochanan in dem neugeschaffenen Kreise gewirkt hat, ist nicht mit Bestimmtheit anzugeben, indessen kann seine Wirksamkeit nicht über zehn Jahre gedauert haben, und er hat wohl Domitians Regierung nicht erlebt.38 Von den auswärtigen jüdischen Gemeinden in Rom, Griechenland, Ägypten und in den parthischen Ländern ist in diesem Zeitalter durchaus nichts bekannt; sie haben sich ohne Zweifel dem jamnensischen Synhedrion gefügt, zu dem sie durch die Anordnung der Festzeit und wohl auch durch Anfragen über zweifelhafte Gesetzesbestimmungen in Beziehung standen. Es kann nicht genug hervorgehoben werden, daß eben diese Einmütigkeit des jüdischen Volkes in der Zerstreuung das Werk R. Jochanan ben Sakkaïs war, der das Band, welches die entferntesten Gemeinden miteinander zu einem Gesamtbewußtsein vereint hatte, und welches durch die Kämpfe halb zerrissen war, wieder zusammenzuknüpfen wußte. Er bereitete den Übergang vor aus dem geräuschvollen verwickelten Staatsleben in das stille, aber nicht minder tatenreiche Gemeinde- und Gedankenleben. R. Jochanan vereinigte in sich den Propheten Jeremias und den aus dem Exil heimgekehrten Fürsten Zerubabel. Wie Jeremias trauerte er auf den Trümmern Jerusalems, wie Zerubabel schuf er einen neuen Zustand. Beide, R. Jochanan, wie Zerubabel, standen an der Schwelle zweier Epochen, von der einen erbend, die andere vorbereitend; beide haben den Grundstein gelegt zu einem Neubau des Judentums, an dessen Vollendung und Überdachung die folgenden Geschlechter gearbeitet haben.

R. Jochanan starb auf seinem Bette in den Armen seiner Jünger. Vor dem Tode hatte er mit ihnen eine Unterredung geführt, welche einen Blick in sein Inneres gewährt. Seine Schüler [25] waren erstaunt, ihren mutvollen Meister in der Todesstunde verzagt und kleinmütig zu finden. Er bemerkte ihnen gegenüber, daß er nicht den Tod fürchte, sondern das Erscheinen vor dem ewigen Richter, dessen Gerechtigkeit unbestechlich ist. Seine Schüler segnete er vor dem Tode mit den bedeutungsvollen Worten: »Möge die Gottesfurcht auf euer Tun ebenso wirksam sein, wie die Furcht vor Menschen.« Das letzte Wort des Sterbenden war: »Räumet die Gefäße aus der Wohnung und bereitet den Thron für Hiskija den König von Juda, der da kommt.«39 Die Peinlichkeit für die Beobachtung der levitischen Reinheitsgesetze und die messianische Erwartung beschäftigten also noch im letzten Augenblicke seine scheidende Seele. Darin aber spiegelt sich ein Zeichen der Zeit innerhalb des judäischen Kreises ab. Er starb nach einer nicht geradezu sagenhaften Nachricht in seinem hundertundzwanzigsten Lebensjahre; man sagte von ihm, nach seinem Tode sei der Glanz der Weisheit erloschen.40 R. Jochanan ben Sakkaï gehört zu denjenigen Erscheinungen in der Geschichte, deren Persönlichkeit allein das ganze Zeitalter ausfüllt und dessen gediegenster Inhalt ist. Bei solcher Persönlichkeit ist auch der geringste lebensgeschichtliche Zug von Interesse; aus diesem Grunde durften auch die geringfügigsten Nachrichten über ihn nicht unerwähnt bleiben.


Fußnoten

1 S. Schürer, Gesch. d. jüd. V. usw. 1890. I, p. 539.


2 Sukka, p. 28 d. Baba Batra, p. 134 a. Vergl. Note 2. Sifri Ende. Genesis Rabba Ende.


3 Band III, 5. Auflage, S. 433. Jerus. Megilla, p. 73 d. Babli Pes. 26 a.


4 Jadaim IV, 6, 7. Tosifta Jadaim Ende; b. Menachot, p. 65 a.b. Baba Batra, p. 115 b. Megillat Taanit, c. 1, 5, 8.


5 Abot de R. Nathan, c. 4. Midrasch Kohelet edit. Frankf. 64. Gittin, p. 56 a. An letzter Stelle ist die einfache Tatsache sagenhaft erweitert und ausgeschmückt. Unwahrscheinlich wird diese Erzählung durch die Erwägung, daß Vespasian gar nicht Jerusalem belagert hat, sondern schon vorher Kaiser geworden war.


6 Josephus, jüdischer Krieg, III, 8.


7 Abot de R. Nathan, c. 4; b. Gittin, p. 56 b. [Aus den Worten der letztgenannten Stelle הימכחו הנבי יל ןת könnte man eher das Gegenteil folgern].


8 Abot de R. Nathan das.


9 [Diese Ansicht wurde auch von Früheren ausgesprochen, und bereits Jakob Emden, Gutachten I, 85 weist hin auf Mischnah Pesach. VII, 2 und wenn dieser dann diesen Beweis durch die Annahme zu entkräften glaubt, daß man auch nach der Zerstörung des Tempels das Passahlamm opferte, so bedarf diese Annahme heute keiner Widerlegung.]


10 Rosch ha-Schana, p. 29 b.


11 Das., p. 31 b.


12 Sotah, p. 40 a. Rosch ha-Schana, das.


13 Baba batra, 10 b.


14 Das. und Abot II, 13.


15 Edujot I, 1.


16 Siehe Note 2.


17 [Durch diese Begriffsbestimmung wird Talmud mit Midrasch vermengt. Talmud ist Erläuterung der Mischna, hat aber mit den Auslegungsregeln nichts zu schaffen].


18 Sachs, religiöse Poesie der Juden. S. 148.


19 Mechilta, Ende des Abschnittes Jethro. Kiduschin 22 b. Baba Kama 79 b. Tosifta Baba Kama, c. 7, auch Jalkut zu Exodus Nr. 318.

20 Pesikta, c. 14. Jalkut zu Numeri, c. 19. Jerus. Synhedrin I, Ende. Numeri Rabba, c. 4. Bechorot, 5 a, wohl auch Chulin 27 b, siehe Tossafot das.


21 Die betreffenden Stellen sind lichtvoll zusammengestellt in Frankels הנשמה יכרד oder Hodogetica in Mischnam, p. 59, 70, 71.


22 Traktat Jom-Tob 29 a, und besonders Jeruschalmi zur Stelle.


23 Pesachim 57 a. Tosifta Menachot, c. 13, 21.


24 2. Chronik, 28, 18. Robinson, Palästina, III, 271, jetzt Jimzu.


25 Taanit 4, 21 a. Synhedrin 108 b. Jerus. Peah Ende.


26 Schebuot 26 a. Chagiga 12 a. Genesis Rabba, c. 1. [Die erstere Stelle handelt von einer anderen Eigentümlichkeit des Nachum aus Gimso als die beiden letztern. Regel der Erweiterung und Ausschließung wird strenggenommen nur das an erster Stelle besprochene Verfahren genannt].


27 Baba Batra 10 b.


28 Schebuot das.


29 Berachot 17 a.


30 Baba Batra das.

31 Siehe Note 3.


32 Josephus Leben, Ende.


33 Dess. jüdischer Krieg, VII, 6. Dio Cassius LXVI, 5.


34 Siehe Note 3. [Genau genommen, bedeutet Din sicaricon die Bestimmung, daß der Kauf ungiltig ist, was als selbstverständlich gilt, und einer besonderen Anordnung bedurfte es bloß für die Giltigkeitserklärung.]


35 Mechilta zu Abschnitt Jethro, c. 1. Ketubbot, p. 66 b.


36 Sueton in Titus, c. 7; Dio Cassius, 66, 18; vergl. Dio 67, 2.


37 Josephus, Altertümer XX, 7.


38 Siehe Frankels Monatsschrift 1852, S. 201 ff.


39 b. Berachot 28 b.


40 Sota 49 a.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig 1908, Band 4, S. 27.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Vorschule der Ästhetik

Vorschule der Ästhetik

Jean Pauls - in der ihm eigenen Metaphorik verfasste - Poetologie widmet sich unter anderem seinen zwei Kernthemen, dem literarischen Humor und der Romantheorie. Der Autor betont den propädeutischen Charakter seines Textes, in dem er schreibt: »Wollte ich denn in der Vorschule etwas anderes sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber?«

418 Seiten, 19.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon