11. Der Inquisitionsproceß wegen des angeblichen Martyriums des Kindes von La Guardia.

[466] Zwei Jahre vor der Austreibung der Juden aus Spanien hat die Inquisition einen horrenden Proceß gegen einige Juden und Neuchristen angeblich wegen der von denselben begangenen Ungeheuerlichkeiten eingeleitet und hat die Angeschuldigten auch verurtheilt und hinrichten lassen. Dieser Proceß, bekannt unter dem Namen »des heiligen Kindes von La Guardia« (el santo niño de La Guardia), der sich anderthalb Jahre hingezogen hat, machte zu seiner Zeit großes Aufsehen in Spanien. Er beruhte zwar von Anfang bis Ende auf Lug und Trug, nichtsdestoweniger wurde die Schuld der Angeklagten zur Zeit und später geglaubt; neue Frevelthaten wurden hinzugedichtet, und er wird noch heutigen Tages von erleuchteten Christen und selbst von Historikern halb und halb als Factum angenommen. Isidor Loeb hat sich die Mühe nicht verdrießen lassen, mit dem Scharfblick eines genialen Untersuchungsrichters die Aussagen der sogenannten Zeugen und das Verfahren des Inquisitionsrichters zu beleuchten. Er hat dazu Karten zeichnen lassen von den Oertlichkeiten, welche in diesem Processe genannt wurden, um augenscheinlich zu beweisen, daß die Angaben topographische Unmöglichkeiten verrathen, und hat überhaupt das Lügengewebe bis auf die letzten Fäden zerfasert. Loeb hat die Aussagen der Zeugen gegen einander gehalten und nachgewiesen, daß unmögliche Facta als erwiesene Schuld dargestellt wurden. Ein zartes Kind von drei Jahren soll gemartert und umgebracht worden sein. Aber in den Proceßakten ist auch nicht schattenhaft darauf hingedeutet, daß ein Kind in dem Städtchen La Guardia oder in der Nachbarschaft vermißt worden wäre, daß eine Mutter es gesucht und nicht gefunden hätte, und auch nicht, daß die Gebeine desselben irgendwo versteckt [466] gewesen wären. Loeb hat als unerschütterliches Resultat festgestellt, daß der Hauptpunkt der Anklage: nämlich das Kind von La Guardia, gar nicht existirt hat, und folglich daß die Frevelthaten der Juden und Neuchristen, welche sich daran knüpften, gar nicht geschehen sein können (vergl. darüber Revue des Etudes juives XV, p. 203 f.). Ein anderer Schriftsteller, S. Berger ist zu genau demselben Resultat gekommen (in der Zeitschrift le Témoignage, October 1887).

Aber beide Kritiker haben nicht die ganze Tücke aufgedeckt, welche sich in diesem Proceß zeigt, auch nicht, welchen Zweck die Inquisition mit einer rein erfundenen Beschuldigung verfolgt hat, daß es entschieden ein Tendenz-Proceß war und mit der Austreibung der Juden im Zusammenhang steht. Es stellt sich auch heraus, daß eine bei Hofe angesehene jüdische Persönlichkeit in diesen Proceß hineingezogen und kompromittirt werden sollte, um ihren Eifer zu Gunsten der Juden zu lähmen. Um dieses zu beweisen, muß ich diesen Proceß, gewissermaßen als historisches Moment, ergänzend beleuchten.

Um die Leser zu orientiren, seien die Umrisse des Processes hier kurz zusammengestellt. Auf Antrag des Anklägers der Inquisition, Alonso de Guevara, wurden Juli 1490 vier Neuchristen aus der Familie Franco mit noch zwei anderen, Benito Garcia und Juan de Ocaña, und einige Juden von der Inquisition schwerer Frevelthaten angeklagt. Die Juden werden genannt Jucé Franco, ein junger Mensch von 18 Jahren, ein schlichter Schuhmacher, und ein Rabbiner Mose Abenamias. Später wurde noch hineingezogen der Vater des Jucé Franco, Namens Ça (Isaak) Franco, ein Greis von 80 Jahren. Angeklagt wurden sie sämmtliche wegen dreier Kapitalverbrechen:

1) Sie hätten ein junges christliches Kind von drei Jahren aus La Guardia nicht blos umgebracht, sondern ihm alle Martern angethan, welche Jesus hatte erdulden müssen, gewissermaßen um in dem Kinde Jesus noch einmal zu kreuzigen.

2) Mit dem dem Kinde ausgeschnittenen Herzen und einer gestohlenen Hostie hätten sie ein Zaubermittel bereitet, um den Inquisitoren und womöglich allen Christen den Garaus zu machen.

3) Sämmtlich hätten sie die entsetzlichsten Blasphemien gegen Jesus und die Kirche ausgesprochen, und die Neuchristen wären dazu von den Juden und noch dazu zur Beobachtung der jüdischen Riten verleitet worden.

Die Akten dieses Processes waren bis vor kurzer Zeit unbekannt; nur die Anklagen und die Verurtheilung sind öfter und zwar mit großer Uebertreibung als Schauermärchen veröffentlicht worden. Pater Fidel Fita hat die Akten des Processes gegen Jucé Franco und das ausführlich motivirte Todesurtheil gegen Benito Garcia zuerst entdeckt und veröffentlicht (Boletin de la Academia, Jahrg. 1887, und als Separatabdruck Estudios Historicos, T. VII: el santo niño de La Guardia, 129 Seiten). Die Akten über die übrigen Angeklagten, die sicher vorhanden waren, sind bis jetzt nicht aufgefunden worden. Aber das vorhandene Material des Processes und das Todesurtheil läßt zur Genüge erkennen: 1) daß der ganze Proceß eine bodenlose Niedertracht war und 2) daß er eine Tendenz hatte. Diese Punkte sollen hier beleuchtet werden.

1) Bei der Anklage gegen Jucé Franco leugnete dieser Alles und erwiderte mit Recht, daß die Denunciation nicht Ort und Zeit des begangenen Frevels angiebt, noch Zeugen stellt, welche es behaupten (No. 2, p. 17): Porque en su denunciatión no dice exprime, ni aclara el dicho fiscal los lugares, [467] ni años, ni meses, ni dias, ni tiempos, ni personas, en que y con que dize que dicho mi parte cometió los delictos. Das war doch nur eine zu gerechte Forderung. Was antwortet der bestellte Ankläger, der Fiskal der Inquisition, darauf? Daes ein Ketzerproceß ist, brauchen diese Punkte nicht angegeben zu werden (No. 3, p. 21): é quel non es obligado á declarar dia, nin tiempo, nin año, nin lugar, por ser la causa special é de eregia. Wie sollte aber die Wahrheit oder Falschheit der Anklage konstatirt werden? Der Ankläger hat von vorn herein das Mittel dazu an die Hand gegeben, nämlich die Tortur: la prueva (das. u. No. 48, p. 78). Der Ankläger trägt auf Tortur an, da der Angeklagte Alles leugnet, und sie in einem solchen Falle nach dem Rechte erforderlich und gestattet sei; á quistión de tormento, pues que en esta causa el derecho asi lo mandava et permitia. So wurden sämmtliche Angeklagte gefoltert, und was sie unter der Folter ausgesagt, d.h. zugegeben haben, wurde zu Protokoll genommen, das Geständniß jedes Einzelnen galt als Zeugniß gegen die Anderen. In den Akten werden die Angeklagten stets als Zeugen bezeichnet: el testigo N. N. confesó. Sie sind sämmtlich thatsächlich gefoltert und nicht blos damit bedroht worden, wie M. Loeb anzunehmen scheint. Von Johan Franco ist protokollirt: Johan Franco testigo jurato estando puesto en el tormento dixo et confesó (No. 20, p. 52). Dann ist weiter protokollirt: estando fuera dixo del tormento altro dia siguiente. Es war nämlich ein heuchlerischer Schein angewendet worden. Da doch die Richtigkeit des Geständnisses unter der Folter angefochten werden konnte, wurde der Gefolterte Tags darauf – ausgenommen wenn er vor Schwäche nicht verhört werden konnte – gefragt, ob er Alles aus freien Stücken bestätige. Das bedeutete fuera del tormento, so wie en el tormento »unter der Folter«. Die Anwendung der Tortur war in den Constitutionen der Inquisition vorgeschrieben (vergl. Revue des Etudes XI, p. 94 f.). Die gewöhnliche Tortur der Inquisition, wie sie Llorente schildert (histoire de l'Inquisition d'Espagne II, p. 21), ist an sämmtlichen Angeklagten in diesem Processe angewendet worden. Der halbnackte Körper wurde in eine Art Maschine (escalera) gezwängt, die Füße nach oben und der Kopf nach unten, Hände und Füße gebunden und der schwebende Körper mit Stricken und mit einem Holzstück fest eingeschnürt (vergl. No. 49, p. 81): atar en una escalera, »an die Foltermaschine binden«, kommt bei allen vor. Benito Garcia wurde mehreremale gefoltert, vielmal hintereinander von der Hand des Henkers gestäupt, in einer Nacht zweimal mit der Kurbel (garrote) und noch dazu mit der Wassertortur gefoltert. Diese bestand darin, daß während der Einschnürung des Körpers dem Deliquenten ein feuchter Lappen in den Mund gelegt wurde, der vermittelst eines Wassergefäßes immer wieder angefeuchtet wurde, so oft der Gefolterte den Mund öffnete. Der Tod konnte durch Ersticken eintreten (No. 13, p. 34): dos cientos azotes e un tormento de aqua é ... dos garrotes. An den Folterqualen der Angeklagten weideten sich die Spanier mit solcher Befriedigung, daß ein Dichterling Hieronymus Ramiro, welcher die Fabel von dem heiligen Kinde nach Sagen 1592 erzählte, (mehr als 100 Jahre später), Benito Garcia's Tortur in Hexametern versificirte (a.a.O. p. 159):


At judex ... ... .... ....

Tortorem accersit. Strictis venit ille lacertis,

Ore ferox, funesque gerit resonasque catenas,

Et manicas, et vincla pedes nexura fugaces.

[468] Ligneus hic substratur equus, qui membra negantum

Funiceo nexu constrictisque orbibus urget.

Illic stant plenae lymphis manantibus urnae,

Humida quae tenues rapiant per guttura vittas.


Der achtzigjährige Greis Ça Franco wurde ebenfalls mit der Wassertortur gefoltert (No. 51, p. 8; No. 54, p. 91). Was Wunder, daß dieser Alles eingestand, sich, seinen Sohn und sämmtliche Angeklagte beschuldigte. Das waren die Beweismittel, welche zu Protokoll genommen und mit allen Formalitäten als Grund zur Verurtheilung verkündet wurden. In dem langstieligen Urtheilserkenntniß gegen Benito Garcia erklären die Inquisitionsrichter: Da Dieser, sowie die Uebrigen alle ihnen zur Last gelegten Ungeheuerlichkeiten, – Marter an dem Kinde, Blasphemien gegen das Christenthum, Judaisiren der Neuchristen und Bereitung des Zaubermittels – eingestanden hätten, so wird er dem weltlichen Arm zur Vollstreckung der Todesstrafe an ihm übergeben (das. p. 115-122). Daraufhin wurden sie sämmtlich am 16. November 1491 auf dem Scheiterhaufen verbrannt, einige, welche bis auf den letzten Augenblick keine Reue bezeugten, bei langsamem Feuer. Eine Thatsache beweist, daß trotz des so lange ausgedehnten Processes und der feierlichen Hinrichtung gerade die Bewohner von La Guardia nicht recht an das, was an dem Kinde aus ihrer Mitte begangen worden sein sollte, geglaubt haben. Der Notar der Inquisition theilte im Namen derselben den Sachverhalt und die Hinrichtung des Benito Garcia mit und befahl, daß besonders das Sündenregister des Benito Garcia an einem Festtage in der Kirche verlesen werden sollte, »damit Jedermann seinen Mund halte; ich sage es wegen der Klatschereien in dieser ehrenwerthen Stadt« (No. 65, p. 114): y se dé noticia de todo, porque cada uno calle su boca. ... Digolo. ... por las chismerias de esa honrada villa. Darum sollte der Bericht von der Schuld der Angeklagten bei Strafe der Exkommunikation wegen Unterlassung öffentlich vorgelesen werden. Er sollte Allen den Mund stopfen und den Klatschereien ein Ende machen. Geht nicht daraus hervor, daß es in La Guardia selbst Ungläubige gab, welche den Thatbestand von dem Kinde aus ihrer Umgebung bekrittelt und den Kopf dazu geschüttelt haben? Allerdings, laut den Zweifel kundgeben, wäre gefährlich gewesen; aber Bekannte müssen untereinander diesen Zweifel leise zugeflüstert haben. Dieses Gerede (chismerias) war der Inquisition auch schon fatal, und darum wollte sie es verstummen machen.

Welcher Wust von martyrologischen Zügen von dem Kinde von La Guardia gefabelt worden ist, kann man bei Fidel Fita im Anhang zu den Proceßakten lesen (a.a.O. p. 135 f.). Von Jahrhundert zu Jahrhundert steigerte sich ins Ungeheuerliche die Schilderung der Unthaten der Juden an diesem Martyr-Kinde und der Wunderthätigkeit des ihm geweihten Sakraments, das im Kloster von Avila aufbewahrt wird. Der Benediktiner Grams schrieb noch vor 10 Jahren: »Die Thatsache selbst ist über jeden Zweifel erhaben. Das Kind wurde seiner blinden Mutter gestohlen« (Span. Kirchengeschichte III, 2. 44). Aber in den Proceßakten ist auch nicht eine leise Andeutung, daß die Mutter des Kindes vorhanden gewesen wäre. Erst spätere Martyrologisten haben die Eltern des existenzlosen Kindes gefunden oder erfunden und ihnen, sowie dem Kinde selbst Namen gegeben. – Bemerkenswerth ist es, daß der Kardinal Ganganelli (später Papst Clemens XIV.) in seiner Apologie gegen die Beschuldigung des Kindermordes, worin er die meisten Anklagen historisch aufzählt und sie widerlegt. [469] den Proceß des Kindes von La Guardia mit keinem Worte erwähnt (Revue des Etudes XVIII, p. 185 f.). Am päpstlichen Hofe hat man also keine Notiz davon genommen oder der Anklage keinen Glauben geschenkt.

2) Es scheint, daß auch die hochangesehene Persönlichkeit, der bei dem Königspaar wohlgelittene Groß-Rabbi und Finanzmeister Don Abraham Senior, in den Proceß verwickelt werden sollte. Als der Angeklagte Jucé Franco schwer erkrankt war, und der Inquisitionsarzt Antonio de Avila ihn besuchte, erbat jener sich einen jüdischen Beistand, der mit ihm die Sterbegebete recitiren sollte. Die Inquisitoren begingen aber das Bubenstück, einen Mönch in der Vermummung eines Rabbiners unter dem Namen Rabbi Abraham zu substituiren. Dieser Mönch, Alonso Enriques, verstand die Sprechweise der spanischen Juden, halb hebräisch und halbromanisch, und sollte dem Kranken etwas auslocken: yendo este – Alonso Enriques – en hábito de judio. ... fablando con el en ebrayco y romance (No. 31, p. 58). Dieser falsche Rabbi ermahnte ihn, nichts als die Wahrheit zu sagen, und wenn es nöthig wäre, daß Don Abraham Senior sich damit befassen sollte, so würde er ihn bitten, daß er es thun möge. Y estando fablando con este testigo (Jucé Franco) preguntó el Rabi Abrahén ... é que si fuese menester, que don Abrahén Seneor entendiese en ello, quelle rogaria, que entendiese en ello (No. 32, p. 59). Rabbi Abraham ist der fingirte Name des verkappten Mönchs, und Don Abraham Seneor ist der Rabbi-Mayor von Spanien (s.o. S. 421), nicht, wie Loeb vermuthete, Rabbiner von Segovia. Der spionirende Mönch hat demnach den Angeschuldigten anregen wollen, daß er sich an den Großrabbiner wenden möge. Darauf ist dieser aber nach der protokollirten Aussage garnicht eingegangen. Der verkappte Rabbi aber deponirte ganz anders über diesen Punkt. Der Angeklagte hätte ihn gebeten, das, was er ihm im Vertrauen mitgetheilt hätte, nämlich daß er wegen des Todes des Kindes in Kerkerhaft sei, Niemandem zu verrathen, es sei denn dem Groß-Rabbiner: rogando el judio (Jucé Franco) á este testígo (Alonso Enriques) afetuosamente, que non lo dixiese, sinón á don Abrahén (No. 31, p. 58). Der Arzt, ebenfalls ein Spion, welcher bei der Unterredung zwischen dem Angeklagten und dem falschen Rabbi, d. h dem Spion, zugegen war, hat noch dazu deponirt, der Angeklagte hätte zu diesem gesagt: er möge es dem Rabbiner Don Abraham sagen, daß er wegen eines umgebrachten Knaben in Haft sei: commo dixo (Jucé Franco) al dicho fray Alonso (que) dixiese al Rabi don Abrahén Seneor que estava preso por un nahar (רענ) que avia muerto etc. (No. 29, p. 57).

Diese beiden Spione haben dem Angeklagten in den Mund gelegt, daß er dem Groß-Rabbiner ein Geheimniß habe anvertrauen wollen. Der eine von den Spionen hat erst diesen Namen aufs Tapet gebracht, und wenn der Angeklagte darauf eingegangen wäre, so hätte die Inquisition Gelegenheit gehabt, Abraham Senior zum Verhör zu ziehen und jedenfalls in die Kerkerhaft der Inquisition zu bringen. Es scheint also im Plane der Inquisitoren gelegen zu haben, den Groß-Rabbiner und Finanzmeister Don Abraham Senior in die Anklage zu verwickeln, um den Proceß noch mehr aufzubauschen oder ihn bei dem Königspaare als Mitwisser von Frevelthaten zu verdächtigen.

3) Gelungen ist es der Inquisition, mit diesem Monstre-Proceß dem Königspaare den Glauben an die Schuld der Verurtheilten und der Bevölkerung den Glauben an die Ruchlosigkeit der Juden beizubringen. Es entstand nämlich in Avila, wo der Proceß gespielt hat und die Angeschuldigten den Feuertod [470] erlitten, eine furchtbare Erbitterung gegen die Gemeinde dieser Stadt. Ein Jude wurde gesteinigt, und sämmtliche Juden schwebten in Furcht vor einem Volksaufstande gegen sie. Sie wendeten sich daher um Schutz an das Königspaar, und dieses gewährte ihnen denselben vermittelst eines Erlasses an sämmtliche Behörden, Diejenigen, welche sich an den Juden vergreifen sollten, streng zu bestrafen. Dieser Erlaß ist ausgestellt am 16. December 1491, gerade einen Monat nach der Hinrichtung der Angeschuldigten. In diesem Erlaß, welchen Fidel Fita aus dem Municipal-Archiv von Avilav eröffentlicht hat (Boletin 1889 und Separatabdruck Documentos historicos VIII, p. 110 f.), bemerken die Könige, daß in Folge des Processes eine große Aufregung entstanden sei: por cierta esecuçion de justicia, que se hizo por la inquisicion de la cibdad de Avila de ciertos erejes é de dos Judios, vezinos de La Guardia, diz que se escandaló el pueblo de tal manera que apedrearon un Judio de la dicha cibdad, e que ellos se temen ... que la comunidad de la dicha cibdad ... los feriran ó mataran ó lisiaran ó prenderan á ellos á sus mugeres ó fijos é criados ... por cabso é razon de lo suso dicho.

4) Auf diesen Effekt hatte es die Inquisition bei Einleitung des Processes von vornherein abgesehen, eine leidenschaftliche Erbitterung gegen die Juden und wohl auch gegen die Marranen zu erregen. Zu diesem Zwecke war sie geschäftig, gleich an dem Tage nach der Hinrichtung der Angeschuldigten den Behörden und Honorationen des Städtchens La Guardia das Todesurtheil und die Hinrichtung derselben mitzutheilen und zugleich sie zu beschwören, den Flecken Erde, wo die Gebeine des »Kindes« begraben sein könnten, ja nicht zu pflügen (Documentos VII. suplemento p. 113). Wozu das? Damit dieser Winkel von dem Königspaare, dem Kardinal (Mendoza von Toledo) und von aller Welt gesehen werden könnte: Una cosa suplico ... que aquel cornijal de la tierra ... no lo consintais arar; porque es cosa que por sus Altezas y por el señor Cardenal y por todo el mundo ha de ser visto. Wo soll sich aber dieser Winkel befunden haben? Angeblich da, wo Juan Franco bezeichnet hätte, daß die Gebeine des Kindes begraben worden wären: aquel cornijal.. donde Juan Franco señaló que habia sido enterrado. Zu finden waren weder die Gebeine, noch der Flecken Erde des Grabes. Denn der Notar der Inquisition äußerte den frommen Wunsch, daß doch ein Wunder geschehen möge, wodurch die Gebeine zum Vorschein kommen könnten. Plega á nuestro Señor maravillosamente mostra sus huesos! Also der angebliche Flecken für das angebliche Grab der angeblichen Gebeine des angeblich gemarterten Kindes sollte von aller Welt und besonders von Ferdinand und Isabella und dem Cardinal (welcher als der dritte Herrscher in Spanien bezeichnet wurde) gesehen werden können! Angedeutet wurde allerdings, wo dieser Flecken gefunden werden könnte: es müsse doch ein Loch sein, welches sichtbarlich zum Vorschein kommen könnte: donde pareció un hoyo que manifestamente fué visto. Es war ein Avis au lecteur. Ein Loch mit Gebeinen läßt sich doch unschwer bewerkstelligen. Liegt nicht in diesem Apparat eine Tendenz, und war nicht damit ein Fingerzeig gegeben, wie gerade in La Guardia, dem angeblichen Wohnorte des Kindes, ein Zeichen für die Versichtbarung der Unthaten der Hingerichteten für die Machthaber und das Volk zu schaffen sei?

Daß es ein Tendenz-Proceß war, folgt auch aus einem anderen Umstande. Torquemada, welcher nur beim Beginne des Processes auftrat – er ertheilte dem Officium die Erlaubniß, gegen die Angeschuldigten vorzugehen – war [471] nach der Hinrichtung außerordentlich geschäftig. Er ließ das langathmige Todeserkenntniß gegen Bendito Garcia in das katalonische Idiom übersetzen, und zwar gleich nach der erfolgten Hinrichtung (das. p. 122 f.). La misma sentencia (inquisitorial contra B. Garcia) traducida al idioma catalán y comunicada por Torquemada à los Inquisidores de Barcelona. Zu welchem Zwecke sollte das Urtheil den Cataloniern in ihrer Mundart bekannt gemacht werden? Diese, welche das Spanische nicht recht verstanden, sollten in ihrer eigenen Sprache erfahren, welche Ungeheuerlichkeiten die Inquisition ans Licht gezogen hat. Die Catalonier hatten der Einführung der Inquisition in ihrer Landschaft thätlichen Widerstand entgegengesetzt. Durch den Proceß sollten sie sich von der Nothwendigkeit des sanctum officium überzeugen.

Der Trug-Proceß hatte demnach eine doppelte Tendenz: das Verfahren gegen die Marranen zu rechtfertigen und die Vertreibung der Juden, welche von den Dominikanern von langer Hand angelegt war, bei dem Königspaare durchzusetzen. Den Zusammenhang zwischen dem Proceß und der Verbannung der Juden deutet ein lateinisches Testimonium an, welches die Wunderthätigkeit der von den Angeschuldigten angeblich entweihten Hostie rühmt. Es fügt hinzu: »Wegen des Ankaufs der Hostie uud der Ermordung des »Kindes« haben die katholischen Könige die Vertreibung der Juden aus Spanien, welche sie im Plane hatten, thatsächlich ausgeführt« (das. p. 153): Propter cujus conditionem (hostiae) parvulique occisionem predicti catholici reges quod de expulsione Judaeorum ab Hispania decreverant, opere compleverunt. Das Testimonium stammt aus dem Dominikaner-Kloster von Avila, der Werkstätte Torquemada's. Dieser Kreis konnte recht gut wissen, daß der von Torquemada angestellte Kindes-Proceß nicht ohne Einwirkung auf den Entschluß des Königspaares zur Vertreibung gewesen ist.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1890], Band 8, S. 466-472.
Lizenz:
Faksimiles:
466 | 467 | 468 | 469 | 470 | 471 | 472
Kategorien:

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Die Reise nach Braunschweig

Die Reise nach Braunschweig

Eine Reisegruppe von vier sehr unterschiedlichen Charakteren auf dem Wege nach Braunschweig, wo der Luftschiffer Blanchard einen spektakulären Ballonflug vorführen wird. Dem schwatzhaften Pfarrer, dem trotteligen Förster, dem zahlenverliebten Amtmann und dessen langsamen Sohn widerfahren allerlei Missgeschicke, die dieser »comische Roman« facettenreich nachzeichnet.

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon