9. Autorschaft und Vaterland des Pamphlets תרלילע םירבד.

[456] Von einer anderen Seite wurde gegen das Bestehende ebenfalls gewühlt in der merkwürdigen antirabbinischen Satire םירבד תולילע רפס, welche nach Styl und Tendenz an Isaak Erter's meisterhafte Flugblätter erinnert (früher nur bruchstückweise durch Reggio und Schorr bekannt (רשי תורגא I, p. 121. Chaluz I, Ende), jüngstens vollständig edirt (in Ozar Nechmed, Zeitschrift von Blumenfeld IV, p. 179 Ende), mit einem Commentar dazu25. Das gelehrte Publikum ist dem Copisten und Herausgeber (der sich wie der Verfasser durch Pseudanonymität maskirt hat) dafür zu großem Danke verpflichtet. Denn wenn auch die in dieser Satire kundgegebene scharfe Polemik durchweg einem einseitigen Standpunkte entsprungen ist, so ist es doch interessant, eine Stimme aus dem fünfzehnten Jahrhundert zu vernehmen, die ein Echo mancher modernen Anschauung zu sein scheint. Mehr noch als der Inhalt ist die Form, die anspielungsreichen, witzigen Wendungen, die sich so taktvoll von Uebertreibung und Ueberladung fern hält, durchweg anziehend und hat nur wenig Seitenstücke. Man kann es fast ein Kunstwerk nennen. Es ist nach einem Original des Elieser Aschkenasi Tunensis edirt, der es in Italien aufgetrieben hat.

Der Leser wird natürlich neugierig, den Verfasser einer nach zwei Seiten hin seltenen Schrift kennen zu lernen; seine Neugierde bleibt aber unbefriedigt: denn der Verfasser hüllte sich geflissentlich in Anonymität in der Ueberschrift und im Einleitungsgedicht; er nennt sich תלפ ןב ןומלפ und ינומלפ. Schorr hat also nicht richtig angegeben, daß der Name des Verfassers ולילע ףסוי laute. Auch das Vaterland des Verfassers ist auf den ersten Blick nicht kenntlich. Der Herausgeber (Kirchheim) ist zwar in dem Vorwort der Ansicht, daß es auf [456] italienischem Boden entstanden sei und Ahron Alrabi angehöre, hat aber keinen stichhaltigen Beweis dafür geltend gemacht. Schorr hat es, ebenfalls ohne Argument, nach Spanien versetzt. Um beides, Autorschaft und Vaterland, zu ermitteln, muß man tiefer auf den Text und den Commentar dazu eingehen und das Verhältniß beider zu einander ins Auge fassen. Die Betrachtung der Data soll uns den Weg dazu bahnen.

Der Verfasser schrieb die Satire 1468 oder vielleicht noch ein oder zwei Jahre später, wie S. 180 angegeben ist: אל ונתולגב דועו ,הנש תואמ עבראו ףלא ונל חז הרצ לכמ רבד ונרסח (vergl. Note). Der erste Copist, Abraham b. Mardochaï Farissol hat bereits 28. Nissan 1473 Text und Commentar copirt, wie der Schluß ergiebt: אראריפמ רפוסהו ןגנמה לוצירפ יכדרמ םהרבא ינא גל"ר ןסינ שדוחל םימי ח"כ .הבוטנמ הפ רפסה תז יתמלשה.

Man könnte zwar aus dem geringen Intervalle zwischen der Abfassungs- und der Copirzeit auf den Gedanken kommen, der kenntnißreiche und gebildete Abraham Farissol sei der Verfasser gewesen, er, der zu manchen schwärmerischen Erscheinungen, wie zum Auftreten des Pseudomessias Ascher Lemlein und des Betrügers David Rëubeni ungläubig den Kopf geschüttelt hat. Allein diesen Gedanken muß man wieder aufgeben, wenn man die Jugend des Abraham Farissol zur Zeit der Abfassung betrachtet. Sein Geburtsjahr wird 1451 angesetzt; er wäre demnach im Jahre 1473 zweiundzwanzig Jahre alt gewesen. Und er sollte ein so vollendetes Kunstwerk geschaffen haben, welches eine so außerordentliche Geistesreife und eine erstaunenswerthe Eingelesenheit in das umfangreiche jüdische Literaturgebiet bekundet? Es ist ganz undenkbar. Ein Jahr vorher hat er die Turim copirt, und dann sollte er diese dem Inhalt der Turim so stracks widersprechende Schrift verfaßt haben? Auch das ist schwer zu glauben. Abraham Farissol war kenntnißreich, aber kein Wundergenie; er war nüchtern, aber kein Gegner des rabbinischen Judenthums; er zeigt sich in seinem handschriftlichen Werke םהרבא ןגמ.. als Hyperorthodox. Außerdem bekundet der Verfasser unserer Schrift gründliche Kunde in der Anatomie, da, wo er die Abgeschmacktheit und Ignoranz des Kalirischen Pijut persiflirt (p. 187). Abraham Farissol war aber seinem Gewerbe nach Copist und allenfalls Vorsänger (ןגנמ), aber nicht Arzt.

Sehen wir uns nach andern Fingerzeigen um. Ich komme noch einmal auf das Datum zurück. 1468 ist die Satire verfaßt worden, und schon 1473 hat Farissol nicht blos den Text, sondern auch den Commentar dazu copirt. In so kurzer Zeit, in höchstens vier Jahren, soll schon eine Wort- und Sacherklärung nöthig gewesen sein? Ist es annehmbar, daß dem Commentator nach so kurzem Zwischenraume der Text in die Hand gekommen ist, und er sich genöthigt sah, die Dunkelheiten aufzuhellen? Noch mehr. Der Commentator giebt im Anfange an: er habe den Text an einem verborgenen Orte, zerrissen, verlöscht und fast unleserlich gefunden (p. 196): םלשמ ונבל םלשמ ונב ףסוי םאנ תא תעדי התא .... םירבד תולילע אוהו רפסה הז ראבל ינתיתפ רשא םוקמה ןמ רפסה הז תאצוה ךרדב ינתאצמ רשא האלתה לכ בורב האירקה הענמנש דע ובורב קוחמו עורק וב ןומט היה ויתומוקמ. Ist das denkbar, daß die Urschrift nach so kurzer Zeit bereits größtentheils zerrissen und unleserlich geworden wäre? Das Alles scheint nichts als Maskerade zu sein. Der Verfasser selbst hat auch den Commentar dazu geschrieben, um seine feinen Andeutungen und Anspielungen nicht übersehen zu lassen. Wie der Verfasser bekundet auch der Commentator anatomische Kenntniß. Das Schlußgedicht des Commentators ist durchweg ebenso gehalten, wie das Einleitungsgedicht des Verfassers. Joseph [457] b. Meschullam26, wie sich der Commentator nennt, war zugleich der Verfasser. Um aber wegen seiner scharfen Polemik gegen das bestehende Judenthum Anfechtungen zu entgehen, verhüllt er im Texte seinen Namen und entschuldigt sich im Eingange zum Commentar, daß er die skeptischen Ansichten des Verfassers nicht theile. Nur durch die Identität des Verfassers und des Commentators ist es erklärlich, wie so der Letztere im Stande war, hinter die verschleierten Gedanken des Textes zu kommen und Alles, sogar die Wahl der fingirten Eigennamen, erklären zu können. Der Name des Verfassers wäre damit gefunden.

Das Vaterland desselben kann nur, wie Schorr richtig vermuthet hat, Spanien gewesen sein. Gleich im Anfange spricht er von massenhaften Zwangstaufen der Juden und auch davon, daß einige Neuchristen feindselig gegen ihre Stamm- und Religionsgenossen auftraten (p. 180): םינהכל וחקי םהמ ,ונינפל ןוכנ ונערו ימישיו ,םהישאר לע םילעמ הרומו וניניעל םהיליספ יאיבנלו תמל םהיניע ןיב החרק, eine sehr geistreiche Anspielung auf die Tonsur, welche den jüdischen Zwangstäuflingen aufgenöthigt wurde. Die Satire erwähnt, daß viele Neuchristen nur mit der Zunge das Christenthum bekennen, im Herzen aber Juden bleiben, d.h. die Marranen: רז לא דבעש יתאצמ אל דחאמ שיא הלא לכב םגו המרמ דימצת םנושלו םתולג לוע םהילע דבכ ךא ,תידב רובעל בוט ועדי םרט עורזב םיחוקל הלאמ םיברו .תיוה םברקב ןיאו םיביואל ונל וכפהנ המה םידוהי ביטב םיעדוי םניא םויה םגו ערו תעד ילבמ. Sie bemerkt, daß eine weit größere Zahl Treugebliebener, als die der Convertiten, das Judenthum mit Gefährdung ihres Lebens standhaft bekundet hat: ,וסיעכה ןעמל םבל ןודזמ 'ה יפ תא ורבע הלא לכ םאו םלגר ףכ רשא לארשי יפלא תובבר ושידקה ןעמל תומ ורחב ןד דבל םנושלב ףאו ותדובעמ סונל התסנ אל. Man kann in diesen Zügen die massenhaften Zwangstaufen von 1391 und 1412 gar nicht verkennen. Der Verfasser scheint aus Autopsie zu sprechen. Sein spanisches Vaterland verräth sich auch durch einige Wörter im Commentar – die Identität beider vorausgesetzt. S. 202 werden einige anatomische Ausdrücke des Textes erläutert und einige Fremdwörter, die spanisch klingen, beigefügt. Ein Knochen, das Schiffchen, genannt: הניפסהו זעלב ולקובאנ אדקנו ךורא דבל םצע איה. Das entspricht dem spanischen Worte navichuelo, während es italienisch navicella lautet und ganz anders hebräisch wiedergegeben werden müßte. Fünf zusammenhängende Knochen, welche anatomisch als der Kamm bezeichnet werden, ז"עלב ארקנו קדסמ תרוצב .. תוקובד .. תומצע 'ה עיטיפ, es ist wohl ein Druckfehler für יניפ spanisch peine, Kamm. S. 203 spricht er von der Sopranstimme und erklärt sie durch ןארבוס, d.h. soberan spanisch: זעלב ןארבוס ויתוניגנב םעה לכ חצנ; im Italienischen lautet es: soperano. Ein Fremdwort זעלב הטיסר ist mir nicht erklärlich. Es folgt also daraus, daß der Commentator ein Spanier war, folglich auch der Verfasser.

Noch ein Moment spricht für Spanien als Vaterland dieser Schrift. S. 194 constatirt sie in witzigen Wendungen, wie die Wissenschaft und auch das Talmudstudium darniederliegen oder nur betrieben werden, um einen Namen zu erlangen und eine gute Partie zu erhaschen: [458] םירבדה קסעב תצק ץוקל רודה לחה רבכו אלש דע ,ונממ עיגמה דספהל וא תלעותה טעמו האלתה בורל םבורו לארשי ינב ירענמ טעמ יתמ יתלוז וב םיקסוע םויה ואצמי רשאכו .רחא ךרדב םתסנרפ אצמל ךרד םהל ןיא רשא םילדהמ םמוקמ וחיני ,רחא םוקממ הויר דימעהל ךרדה םהינפל בחרי ישארמ היהיש לא עיגהל םהמ הוקמש ימ יתלוז םישרופו יצפח אלו םצפח אצמל סרפ לבקל תנמ לע וא ... םירבדמה רישע םהמ שיא םאו ,םתומדרק ןנשל םדודח םליעוהו ,םימש םהל תושע ןעמל תאזה הדובעה תא דובעל םינטקה וינבמ םונכי םשמו ונממ ותרדא ךילשיו הלחנ תשרוי תב ול חקיו ... םש תלעות אצמ ילבמ ... םייקנ םיאצוי םישרופה הלאמו .דרפי םפסכ איצוהמ םינומהמ םיבר ידי ופר הזה םויהו ... דומלתב םהל תחקל הז תלוזב םהמ רצבי אל יכ רמאל הלאה םירברב םישנה לכ לע םירבדה רבד אצי יב ... ורחב רשא לכמ םישנ קדבב קסעו הנש אלש ימ בוט יכ םרמאב ןהיניעב ןהילעב תוזבהל 'וכו שריפו הנש רשאמ תיבה. Dieselbe Klage stimmte auch Salomo Alami ein halbes Jahrhundert vorher an, daß die spanischen Juden, selbst die ärmeren, lieber ihren Kindern das geringste Handwerk lehren lassen, als sie in das Lehrhaus einzuführen (Iggeret ha-Musar p. 30): .ץחל םימו רצ םחלב םהימכח םילהנמ םידוהיה ירישעו ווקי אל םילודגהו םיעורה יכ .הרותה דובכ ליפשהל הבסה איהו ןומה תוארכו .... הרותה תכאלמ תידבב םהינב סינכהל וואי אלו םהינב סינכהל רחבי םתולבנו םתולד םימכחה תפרח םעהו םתערב תוארל הרותה תירבב םסינכהמ םתנמואבש העודגב. Auf die Juden anderer Länder paßt die Schilderung dieser Zustände keineswegs.

Die Gesammthaltung der Schrift weist nur auf Spanien hin. Nur auf diesem Boden war Spielraum für so kühne Angriffe. In Italien fanden sich schwerlich dankbare Leser für solche ketzerische Aeußerungen. Ahron Alrabi, dem der Herausgeber die Autorschaft vindiciren möchte, war vielleicht selbst Spanier (Schwiegersohn des Mose Gabbaï) und arbeitete als vagabundirender Schriftsteller gar nicht für italienische Juden allein. Angriffe auf die Sophistereien des Pilpul, welche der Schrift ganz besonders als Zielscheibe dienen, hat auch Salomo Alami ungescheut ausgesprochen (daselbst p. 26): ביחרהל קר םבל ותש אל הז רסוא הזש המ ,ריתסמ הז הלגמ הזש המ... םישורפו םישודח תולגל םחיר תא שיאבהל וגוראי שיבכע ירוק לע ריתמ םתלבנ. ... Dieselbe Klage ertönte auch aus demselben Lande von einem anderen Satiriker und von den Kabbalisten, vergl. oben S. 455. Mit einem Worte, alle Momente sprechen für Spanien und kein einziges für Italien oder ein anderes Land.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1890], Band 8, S. 456-459.
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