3. Kapitel. Das neue Chaßidäertum. (1750-1786.)

[95] Vernunft und Mystik im Bunde. Israel Baalschem, sein Lebensgang, lärmendes Leben und Wundertuerei. Kampf gegen die Rabbinen. Beer Mizricz, sein Hochmut und seine Schwindelei. Auflösung der Vier-Länder-Synode. Kosakengemetzel in Posen. Elia Wilna, sein Charakter und seine Studienart. Die Mizriczer und Karliner Chaßidäer. Strenges Verfahren gegen sie in Wilna. Beer Mizricz' Tod. Seine Nachfolger. Der Kozeniezer Maggid und Schneor Salman von Liadi. Die Lachowizer, Ljubowizer oder Chabads. Neue Verfolgungen der Chaßidäer hindern ihre Vermehrung nicht.


Sobald ein geschichtliches Werk seine Dienste getan und eine Wandlung erfahren soll, tauchen von verschiedenen Seiten neue Erscheinungen auf und nehmen eine feindliche Haltung an, um es umzuwandeln oder aufzulösen. Es war vorauszusehen, daß die durch Mendelssohn angebahnte Verjüngung des jüdischen Stammes eine Umgestaltung und Zersetzung der religiösen Lebensformen innerhalb der Judenheit herbeiführen würde. Die Neuerungssüchtigen haben es gewünscht, gehofft und erstrebt, die Altfrommen geahnt und gefürchtet. Dieser Auflösungsprozeß wurde auch auf einem anderen Wege, auf einem anderen Schauplatze unter ganz andern Bedingungen und mit anderen Mitteln eingeleitet, und das war nicht vorauszusehen. Es entstand in Polen ein neues Essäertum, mit gleichen Formen wie das alte, mit Waschungen und Baden, mit weißen Kleidern, Wunderheilungen, prophetischen Träumereien. Es ging wie das alte aus dem Schoße der Überfrömmigkeit hervor, richtete sich aber bald gegen die eigene Mutter und birgt vielleicht Keime eigener Art in seinem Schoße, die, weil sie noch in der Entwicklung begriffen sind, nicht bezeichnet werden können. Es klingt sonderbar, daß zur selben Zeit, als Mendelssohn das vernünftige Denken für das Wesen des Judentums erklärte und sozusagen einen weit verbreiteten Orden von Aufgeklärten stiftete, eine Fahne aufgepflanzt wurde, welche den krassesten Wahnglauben [95] als Grundcharakter des Judentums verkündigte, und ein eigener Orden von wundersüchtigen Mitgliedern entstand. Beide Neugestaltungen nahmen eine feindliche Haltung gegen das bestehende, althergebrachte Judentum an und erzeugten eine klaffende Spaltung. Die Geschichte ist in ihrer Zeugungskraft ebenso mannigfaltig und rätselhaft, wie die Natur. Auch sie bringt dicht nebeneinander Heilkräuter und Giftpflanzen, liebliche Gebilde und häßliche Sumpfgewächse hervor. Die Vernunft und die Unvernunft gingen gewissermaßen ein Bündnis ein, um von zwei Seiten den Riesenbau des talmudischen Judentums zu zerbröckeln. Den Versuch, den die Geschichte schon einmal gemacht hat, als sie zu gleicher Zeit Spinoza und Sabbataï Zewi aufstellte, um an dem bisherigen Bestande des Judentums zu rütteln, wiederholte sie, indem sie zu gleicher Zeit einen Vertreter der Vernunft und der Unvernunft gegen denselben bewaffnete. Die Aufklärung und die kabbalistische Mystik reichten einander die Hände, um das Werk der Zerstörung zu beginnen. Mendelssohn und Israel Baal-Schem, welche Gegensätze! Und doch haben beide unbewußt den Grundbau des talmudischen Judentums unterwühlt. Die Entstehung der bereits zahlreichen und in raschem Wachsen begriffenen Neuchaßidäer liegt nicht so klar vor Augen, wie die von Mendelssohn angebahnte Bewegung. Die neue Sekte, eine Tochter der Finsternis, ist im Dunkel geboren und wirkt auch heute noch auf dunkeln Wegen fort. Nur wenige Umstände, die zu ihrer Entstehung und Fortpflanzung beigetragen haben, sind bekannt.

Ihre ersten Begründer waren Israel aus Miedziboz (geb. 1698, starb 1. Juni 1759) und Beer aus Mizricz (geb. um 1700, starb 1772)1. Der erstere erhielt von seinen Verehrern und Gegnern in gleicher Weise den Beinamen »Der Wundertäter durch Beschwörungen im Namen Gottes«, Baal-Schem oder Baal Schemtob und in der damals beliebten Abkürzung Bescht2. So unschön wie der Name Bescht, war das Wesen des Stifters und der Orden, den er ins Leben gerufen hat. Die Huldgöttinnen standen nicht an seiner Wiege, wohl aber der Wunderglaube, und er füllte sein Gehirn so sehr mit Phantasiebildern, daß er sie von wirklichen, handgreiflichen Wesen nicht mehr unterscheiden konnte. Israels Jugenderlebnisse sind unbekannt. Nur so viel ist sicher, daß er früh verwaist, arm, sich selbst überlassen war und einen großen Teil seines Jünglingsalters in den Wäldern und Höhlen des Karpathengebirges zugebracht [96] hat. Die karpathischen Bergausläufer, welche nach Südgalizien und die Bukowina hineinstreifen, zwischen Kuty (Kutow) und Kassow, am Quellenursprung des Pruth, waren seine Erzieher. Hier lernte er, was er in den dunkeln, engen, schmutzigen Löchern, die man in Polen Schulen nannte, nicht gelernt haben würde, das Alphabet der Naturlaute verstehen. Die Gebirgs- und Quellengeister flüsterten ihm Geheimnisse zu. Hier lernte er auch, wahrscheinlich von kräutersammelnden Bäuerinnen, auf Bergspitzen und an Flußrändern die Verwendung von Pflanzen zu Heilmitteln. Aber wie diese der Heilkraft der Natur nicht trauten, sondern Besprechungen und Beschwörungen von guten und bösen Geistern hinzufügten, so gewöhnte sich Israel ebenfalls an diese Heilmethode. Er wurde ein Wunderdoktor. Auch die Not war seine Lehrerin; sie lehrte ihn zunächst beten. Wie oft mag er in seiner Verlassenheit und Verwaistheit Mangel selbst an trocknem Brot gelitten haben, wie oft mag er von wirklichen oder eingebildeten Gefahren umgeben gewesen sein! In solcher Not betete er die aus der Synagoge geläufigen Formeln; aber er sprach sie mit Inbrunst und tiefer Andacht oder er schrie sie in die Bergeseinsamkeit mit lauter Stimme hinaus. Das laute schreiende Gebet erweckte die Echos in den Bergen, welche ihm Antwort auf seine Fragen zu geben schienen. Er scheint nicht selten in eine verzückte Stimmung geraten und sie auch geradezu durch rasende Bewegung des ganzen Körpers beim Beten hervorgerufen zu haben. Die Bewegung trieb ihm das Blut in den Kopf, machte seine Augen flimmern und versetzte Leib und Seele in einen solchen Zustand der Überreizung, daß er eine Todesschwäche empfand. War es eine magnetische Spannung der Seele, welche die Bewegungen und das schreiende, singende Beten in ihm erzeugt haben?

Israel Baal-Schem behauptete, daß er infolge solches den Körper aufregenden und aufreibenden Gebetes einen tiefen Blick in die Unendlichkeit zu erlangen pflege. Seine Seele stiege bis zur Lichtwelt hinauf, höre, sehe da göttliche Geheimnisse und Offenbarungen, trete in Zwiegespräche mit den hehren Geistern und sei imstande, durch deren Vermittlung die Gnade Gottes, Glück und besonders Abwendung von drohenden Gefahren zu erflehen. Auch tiefer Einblicke in die Zukunft durch Entschleierung ihrer Geheimnisse rühmte sich Israel Miedziboz. War es plumpe Aufschneiderei oder Selbsttäuschung oder Überschätzung krankhafter Seelenerscheinungen? Es gibt Personen, Zeiten und Schauplätze, in denen die Grenzlinie zwischen Betrügerei und Selbstbetrug nicht zu unterscheiden ist. In Polen war gerade zur Zeit Israels in dieser Gegend bei der Überspannung, welche die Kabbala [97] der sabbatianischen Schwindelei, die fieberhafte Erwartung einer baldigen messianischen Erlösung erzeugt hatte, alles möglich und alles glaublich. In Polen lebte und webte die Phantasie in Juden und Christen im Außerordentlichen und Außergewöhnlichen wie in einem natürlichen Elemente. Israel glaubte steif und fest an seine in dem aufgeregten Zustande seiner Seele und seines Körpers geschauten Gesichte, er glaubte an die Macht seines Gebetes. In diesem Wahn verstieg er sich zu der lästerlichen Äußerung, das Gebet sei eine Art ehelicher Verbindung (Siwwug) des Menschen mit der Gottheit (Schechina) und darum müsse es unter Erregung vor sich gehen. Mit der angeblich höheren Kunde von geheimen Heilmitteln und von der Geisterwelt ausgerüstet, die er in der Einsamkeit durch göttliche Gnadenspenden erlangt zu haben glaubte, begab sich Israel in die Gesellschaft, um seine höhere Begabung zu betätigen. Es muß rühmend von ihm anerkannt werden, daß er sie nicht mißbrauchte, um ein Geschäft daraus zu machen und seine Lebensexistenz darauf zu gründen. Er trieb anfangs das niedrige Gewerbe eines Fuhrmanns, machte später Pferdegeschäfte und pachtete hin und wieder, zu größeren Mitteln gelangt, eine Dorfschenke.

Dauernd ließ er sich in Miedziboz, einem Städtchen in Podolien nieder. Gelegentlich wendete er auf Verlangen seine Wunderkuren an und erlangte dadurch einen so großen Ruf, daß er selbst von polnischen Edelleuten zu Rate gezogen wurde. Auffallend wurde er den Leuten durch sein geräuschvolles, rasendes Beten, das ihn auch so verklärt haben mochte, daß sie in ihm den Fuhrmann oder den Roßtäuscher nicht wieder erkannten. Bewundert wurde er durch seine Entdeckung in Geheimnis gehüllter Dinge. In Polen hielten nicht bloß Ungelehrte und nicht bloß Juden solche Gaben und Wunder für möglich. Die Jesuiten und die Kabbalisten hatten Christen und Juden dieses Landes in gleicher Weise dumm gemacht und in den Zustand urweltlicher Barbarei versetzt.

Bescht zeichnete sich weder durch tiefe Talmudkenntnisse, noch durch Einsicht in die Kabbala aus; er galt vielmehr als ein vollständig Unkundiger in diesen Fächern und ließ diese Meinung von sich bestehen, obwohl er durchaus nicht so sehr unwissend war. In Polen, wo die Luft in den jüdischen Stadtvierteln sozusagen talmudisch und kabbalistisch geschwängert war, gehörte für einen Mann, der nicht ganz stumpfsinnig war, nicht sehr viel dazu, sich diese Kenntnisse oberflächlich anzueignen und die Sprache des Talmuds und des Sohar reden zu können. Gerade weil Bescht nicht zum Rabbinerstande gehörte [98] und sich nicht zu einer kabbalistischen Schule bekannte, wurde er, wenn seine Kuren scheinbar anschlugen und seine Prophezeiungen eintrafen, für einen Wundertäter gehalten. Ein Umstand machte ihn besonders in weiten Kreisen beliebt. Israel war nicht wie diejenigen, welche sich mit der Afterwissenschaft der Kabbala beschäftigten, ein Kopfhänger; er ging nicht düster umher, fastete nicht viel, kasteiete sich gar nicht, war vielmehr heiter und lustig und machte derbe Späße. Er behauptete, nur in heiterer Stimmung müßten die Gebete an Gott gerichtet werden, und nur solche wirkten auf die Seele wie auf die Eröffnung der Gnadenströme. Traurigkeit und düsteres Wesen waren ihm verhaßt. Geweckter und guter Laune ging er in den Straßen umher, rauchte seine Pfeife, klopfte und streichelte Rosse und sprach mit jedermann, auch mit Weibern – was in Polen damals eines anständigen Mannes für nicht würdig galt. Das hinderte ihn nicht, zur Zeit des Gebetes oder auch zur Unzeit in sein Kämmerlein zu gehen und sich durch Gesang, Geschrei und tolle Körperbewegungen zu betäuben oder in Verzückung zu versetzen.

Es wäre mit sonderbaren Dingen zugegangen, wenn ein solcher Wunderdoktor, der sichtlich mit der Geisterwelt zu verkehren schien, keine Anhänger hätte finden sollen. Wollte er denn eine neue Sekte stiften? Schwerlich. Es schlossen sich eigentlich ihm Gleichgesinnte an, welche einen religiösen Drang fühlten, und ihn weder durch ein strenges Büßerleben, noch durch ein mechanisches Hersagen vorgeschriebener Formeln befriedigen zu können vermeinten. Sie vereinigten sich mit Israel in Miedziboz, um andachtsvoll, d.h. mit Singsang und Händeklatschen, Verbeugen, Körperbewegungen, Springen, unter Lärmen und Schreien zu beten. Fast um dieselbe Zeit entstand in England (Wales) eine christliche Sekte, »die Springer« (Jumpers) genannt, welche sich durch ähnliche Bewegungen beim Gebete in Verzückung und Hellseherei versetzten. Zur selben Zeit entstand in Nordamerika die Sekte der Schüttler (Shakers), von der Irländerin Johanna Lee hervorgerufen, die ebenfalls durch Raserei beim Gebete mystischmessianischen Phantomen nachjagte. Israel braucht kein Betrüger gewesen zu sein, um Anhänger zu finden. Die Mystik und die Raserei wirken ansteckend. Noch mehr zog er solche an, welche lustig und heiter leben wollten und doch dabei eine hohe Lebensaufgabe zu erfüllen gedachten, in Heiterkeit und Sorglosigkeit der Nähe Gottes gewiß zu sein und die messianische Zukunft zu fördern. Sie brauchten nicht über Talmudfolianten zu hocken, um einer höheren Frömmigkeit teilhaftig zu werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die mit [99] dem Bann belegten und verfolgten Sabbatianer, welche sich anfangs um den Abenteurer Jakob Lejbowicz Frank in derselben Zeit geschart hatten, mit ihm aber nicht durch Dick und Dünn bis zur Schwelle der katholischen Kirche gehen mochten (Bd. X3, S. 402), sich zu Bescht gesellt haben, um einerseits der Verfolgung zu entgehen, und anderseits dem Joche übertriebener Religiosität, dessen sie sich bereits entwöhnt hatten, nicht unterworfen zu sein. Solchergestalt entstand die Sekte oder richtiger der Orden der Neuchaßidäer. In einem Jahrzehnt sollen sich bereits 10000 Fromme um Israel Bescht geschart haben, die sich anfangs nur durch ihr sonderbares und langanhaltendes Beten, durch Waschung vor dem Beten nach Art der Essäer, durch ein heiteres Wesen und vielleicht auch durch das Tragen eines Gürtels von Baumwolle statt von Tuch von den übrigen polnischen Juden unterschieden.

Es wurde aber in den neuchaßidäischen Kreisen Ton, über die Talmudisten zu spötteln. Weil diese sich über das ungelehrte Haupt des neuen Ordens lustig machten, der einen Anhang hatte, ohne der zünftigen Genossenschaft anzugehören; ohne in Talmud und Zubehör eingeweiht zu sein, setzten die Chaßidäer den Wert des Talmudstudiums herab, daß es nicht imstande sei, ein wahrhaft gotterfülltes Leben zu fördern. Als der Bischof von Kamienez Podolski infolge der gemeinen Anschuldigungen von seiten der Frankisten den Befehl erlassen hatte, Jagd auf die Talmudexemplare zu machen und sie zu verbrennen (Bd. X3, S. 396), soll Israel Bescht sich scharf über die Rabbiner ausgelassen haben: Sie allein hätten Schuld an dieser Trübsal, weil sie durch falsche Voraussetzungen Lügenhaftes erdichteten. Er soll auch von dem Vertreter der Vier-Länder-Synode vorgeladen worden sein, sich darüber zu verantworten, wie er sich, als Unkundiger im Talmud, göttlicher Offenbarung rühmen könne, und er soll ihnen eine beschämende Antwort gegeben haben. Doch ist diese Nachricht nicht als Tatsache anzusehen. Allen Sektenstiftern werden hinterher von seiten ihrer Anhänger mutvolle und beschämende Kraftworte gegen ihre Gegner und Richter in den Mund gelegt. Aber ein verdeckter Krieg bestand zwischen den Neuchaßidäern und den Rabbinern jedenfalls; diese konnten jenen jedoch so lange nichts anhaben, als Israels Anhänger sich von dem bestehenden Judentum nicht entfernten. Die Spannung steigerte sich erst nach dem Tode des ersten Begründers unter Beer von Mizricz, als die Verwilderung und Entartung zunahm3, zu einer förmlichen Spaltung.

[100] Dob Beer (oder Berisch) war kein Phantast wie Israel, vielmehr ein feiner Kopf, der sich auf Seelenzustände und auf das, was Effekt macht, sehr gut verstand, und sich daher die Gemüter und den Willen anderer untertänig machen konnte. Obwohl er erst kurz vor Israels Tod in dessen Kreis eingetreten war, so erhielt er doch, man weiß nicht, ob mit dessen Zustimmung oder nicht, mit Umgehung von dessen Sohn und Schwiegersöhnen, die Nachfolgerschaft und Führerschaft über die neuchaßidäische Gemeinde. Beer, welcher den Mittelpunkt nach Mizricz, einem Städtchen in Wolhynien, verlegt hat, war seinem Meister in vielen Stücken überlegen. Er war in das talmudische und kabbalistische Schrifttum eingelesen und ein geschickter Prediger (Maggid), der die entlegensten Bibelverse sowie agadische und soharistische Aussprüche für seine Zwecke zusammenzureimen und seine Zuhörer zu überraschen wußte. Dadurch nahm er von dem chaßidäischen Kreise den Makel der Ungelehrtheit, welcher in Polen außerordentlich schändete, und erhielt einen größeren Zuwachs an Anhängern. Er hatte eine ehrfurchtgebietende Gestalt, mischte sich nicht unter das Volk, lebte vielmehr die ganze Woche hindurch in einem Zimmerchen zurückgezogen, nur für seine Vertrauten zugänglich, und erlangte dadurch den Schein des mysteriösen Verkehrs mit der Himmelswelt. Nur am Sabbat zeigte er sich allen denen, welche sehnsüchtig waren, seines Anblickes gewürdigt zu werden. An diesem Tage erschien er prachtvoll in Atlas gekleidet, alles weiß (die Farbe der Gnade in der kabbalistischen Sprache), Oberkleid, Schuhe und selbst die Tabaksdose. An diesem Tage pflegte er mit seinen Vertrauten, den Auswärtigen, welche zu ihm gewallfahrtet waren, den Neuangeworbenen und Neugierigen, welche den kabbalistischen Heiligen und Wundertäter zu sehen wünschten, gemeinschaftlich zu beten, auf dieselbe Weise, wie es Israel Bescht eingeführt hatte. Um die zum andächtigen Gebete notwendige heitere Stimmung zu erzeugen, pflegte er sich in gemeinen Späßen zu ergehen, z.B. einen aus dem Kreise necken und umwerfen zu lassen, wodurch die Anwesenden in eine ausgelassene Lustigkeit gerieten. Inmitten dieser kindischen Fröhlichkeit rief er plötzlich: »Jetzt dienet dem Herrn in Freude.«

Unter Beers Leitung blieb zwar scheinbar das chaßidäische Wesen in derselben Gestalt wie unter seinem Vorgänger: inbrünstiges, zappelndes Beten, Begeisterung (Hitlahabut), Wunderkuren und Enthüllung [101] der Zukunft. Aber da diese Tätigkeiten nicht wie bei Israel aus dessen eigenartiger Seelenstimmung oder Krankhaftigkeit kamen, sondern nur nachgeahmt wurden, so mußten Künstelei oder Blendwerk dem nachhelfen, was die Natur versagt hatte. Der chaßidäische Führer oder Zaddik, der vollkommen Fromme, mußte nun einmal im Gebete begeistert, verzückt sein und Erscheinungen haben. Aber wie kann ein kluger Rechner begeistert erscheinen? So mußte die in Polen so beliebte Alkoholflasche die Stelle des inneren, eingebenden Dämons vertreten. Beer hatte nicht die Kunde von Heilkräutern, welche sein Vorgänger in den karpathischen Bergen erlangt hatte. So verlegte er sich darauf, sich einige medizinische Kenntnisse anzueignen, und wenn die Mittel nicht anschlugen, so starb der Kranke – an seiner Sündhaftigkeit. Die Zukunft zu verkünden, war noch schwerer, und doch mußte es geschehen; sein Ruf als Wundertäter hing davon ab. Beer wußte auch dafür Rat. Er hatte unter seinen Vertrauten einige gewandte Kundschafter, würdig, in der Geheimpolizei zu dienen. Diese brachten vieles heraus, was mit dem Schleier des Geheimnisses bedeckt war, und hinterbrachten es dem Meister; so konnte er den Schein der Allwissenheit annehmen. Oder seine Spione begingen Diebstähle; wandten sich die Betroffenen an den »Heiligen« in seiner Klaus (Klösel), sie zu entdecken, so war er imstande, den Ort genau zu bezeichnen, wo sich die vermißten Gegenstände befanden. Waren Fremde, von seinem Rufe angezogen, in seiner Nähe, so wurden sie, wie gesagt, immer erst an dem nächsten Sonnabend zur Teilnahme an dem chaßidäischen Hexensabbat zugelassen. Inzwischen hatten seine Kundschafter durch geschickte Fragen und anderweitige Ausforschungen die Erlebnisse und geheimen Wünsche der Fremden herausgebracht und sie dem Zaddik mitgeteilt. Bei der ersten Begegnung konnte Beer scheinbar harmlos in einer künstlich angelegten Predigt jedem der Fremden ein Wort hinwerfen, wodurch diese die Überzeugung gewannen, daß er in ihre Herzen geblickt hatte und ihre Vergangenheit kannte. Durch solche und ähnliche Mittel wußte er sich als Allwissender zu behaupten und die Schar seiner Anhänger zu vermehren. Jeder Neuangeworbene verkündete seine göttliche Begabung und lockte andere Anhänger herbei.

Zur festen Begründung seines Ansehens stellte Beer eine Theorie auf, welche in folgerichtiger Anwendung höchst schädliche und verderbliche Erscheinungen zu fördern geeignet ist. Gestützt auf die kabbalistische Formel, der »Gerechte oder Fromme ist der Grund der Welt«4, [102] schraubte er diese Theorie von der Bedeutung des Zaddik oder des chaßidäischen Oberhauptes so hoch hinauf, daß sie Gotteslästerlichkeit aussprach, ein solcher sei nicht bloß der vollkommenste, sündenlose Mensch, er sei nicht bloß Mose, sondern der Stellvertreter Gottes und dessen Abbild. Alles und jedes, was der Zaddik tue und treibe und denke, habe einen entscheidenden Einfluß auf die höhere und niedere Welt. Die lurjanische Kabbala hatte zwar ähnliches aufgestellt, daß der Fromme durch Ausübung der religiösen Gebote auf die Himmelssphäre einwirken und gewissermaßen die Gottheit nötigen könne, die Gnadenströme auf die irdische Welt zu ergießen. Aber Beer Mizricz' verderbliche Lehre ging noch weiter. »Gottes Herrlichkeit füllt die Welt« bedeute, daß kein Punkt im Weltenraum, auf Erde wie im Himmel, des göttlichen Wesens bar oder »entleert« sei; in allem sei die Gottheit vielmehr gegenwärtig, zeige sich ihr Leben. Ganz besonders offenbare sich die Gottheit in dem Tun und Lassen des Zaddik, keine seiner geringsten Handlungen sei gleichgültiger Natur. Wie er sein Kleid trage, seine Schuhe binde, seine Tabakspfeife rauche, er möge tiefsinnig predigen oder plumpe Späße machen, das alles habe eine höhere Beziehung zur Gottheit, bedeute ebensoviel wie eine religiöse Pflichterfüllung. Selbst wenn er aus der Flasche Begeisterung schöpfe, wirke er damit auf die höhere und niedere Welt ein. Welcher bodenlose Wahn! Das alles hat die Afterlehre der Kabbala verschuldet, welche trotz der unsäglichen Verwirrungen, welche sie von Sabbataï Zewi an bis auf Frank zuwege gebracht hat, trotz der Bekämpfung, die ihre Grundschrift, der Sohar, in derselben Zeit durch Jakob Emden erfahren hatte5, doch noch immer die Köpfe der polnischen Juden benebelte. Der Zaddik, d.h. Berisch Mizricz, sei nach dieser Theorie der Inbegriff aller Macht und Herrlichkeit auf Erden. Er dünkte sich in seinem »Stübel« oder »Klösel«, d.h. in seinem schmutzigen Zimmerchen der Zurückgezogenheit, ebenso groß, wie der päpstliche Stellvertreter Gottes auf Erden in seinen Prachtpalästen. Auch Stolz müsse der Zaddik den Menschen gegenüber geltend machen6, das geschehe alles »zur Ehre Gottes« – ein Katholizismus innerhalb der Judenheit.

Beers Theorie sollte aber nicht müßig und unfruchtbar bleiben, sondern ihm Ehren und Ertrag bringen. Während der Zaddik für den Bestand der Welt, für die Gnadenspenden und besonders für [103] Israels Erhaltung und Verherrlichung Sorge trage, sollten seine Anhänger auf dreierlei Tugenden bedacht sein. Es sei ihre Pflicht, sich ihm zu nähern, seines Anblickes zu genießen, von Zeit zu Zeit zu ihm zu wallfahrten. Sie müßten ferner ihm ihre Sünden beichten; dadurch allein könnten sie auf Sündenvergebung rechnen. Endlich müßten sie ihm Geschenke, reiche Geschenke bringen, die er auf das Wirksamste zu verwenden wisse. Auch für seine Kehle zu sorgen, sei ihre Pflicht. Man glaubt sich in die Zeit der Baalspriester versetzt, so gemein und anwidernd lautet diese Verkehrtheit. Das Traurige dabei ist, daß diese, eines einen Fetisch anbetenden Volkes würdige Lehre Anklang fand, in Polen Anklang fand, wo ein Übermaß von Kunde des jüdischen Schrifttums herrschte. Aber gerade diese Überfüllung und sozusagen Überfütterung der geistigen Verdauungswerkzeuge hat diese trübselige Erscheinung zuwege gebracht. Das Organ des Geistes war bei den polnischen Juden so überreizt worden, daß ihnen das Geschmackloseste noch mehr zusagte, als das Geschmackvolle.

Beer sandte ordentliche Apostel zur Verbreitung seiner Lehre aus. Seine brauchbarsten Werkzeuge waren zunächst Joseph Jakob Kohen aus Raschkow, Elimelech aus Lyzensk, Nahum aus Tschernobyl, Prediger mit vielem Schwulst, welche diese verderbliche Lehre mit Verdrehungen von Schriftversen würzten. Einfältige, Schlauköpfe und Müßiggänger, deren es in Polen so viele gab, schlossen sich den Neuchaßidäern an, jene aus Neigung zu Schwärmerei und Wunderglauben, diese, die Listigen, um auf eine leichte Weise zu Geld und zu einem vergnügten Leben zu gelangen, und die Müßiggänger, weil sie an der Hofhaltung des Zaddik Beschäftigung und Befriedigung der Neugier fanden. Fragte man die Müßiggänger, woran sie dächten, wenn sie den ganzen Tag mit der Pfeife im Munde umherschlenderten, so antworteten sie allen Ernstes: »Wir denken an Gott.« Die Einfältigen aber, welche durch die chaßidäische Weise selig zu werden hofften, zerarbeiteten sich in Gebeten, bis sie vor Erschöpfung ohnmächtig niederfielen.

Zweierlei Umstände haben das Neuchaßidäertum begünstigt, die Verbrüderung der Genossen untereinander und die Trockenheit und Verknöcherung des Talmudstudiums, wie es seit mehr denn einem Jahrhundert in Polen betrieben wurde. Die Chaßidäer bildeten von Anfang an untereinander eine Art Ordensgesellschaft, die zwar keine gemeinschaftliche Kasse hatte, wie ehmals die ihnen ähnlichen Essäer und Judenchristen, aber doch für die dürftigen Mitglieder Sorge trug. Bei den Verbindungen, die sie unterhielten, ihrem Auskundschafterwesen. [104] ihrer Geschäftigkeit und Rührigkeit, war es ihnen leicht, die Geschäfts- und Brotlosen unter ihnen irgendwo unterzubringen. Zu dem Neujahrs- und Versöhnungsfeste pflegten auch die Entferntesten sich zum Zaddik zu begeben, eine Wallfahrt, wie einst zum Tempel, zu machen, Frau und Kinder zu verlassen, um die sogenannte heilige Zeit gemeinschaftlich mit dem Oberhaupte zuzubringen und sich an seinem Anblick und Getue zu erbauen. Hier lernten die chaßidäischen Genossen einander kennen, besprachen ihre örtlichen Verhältnisse und leisteten einander Vorschub. Auch wohlhabende Geschäftsleute fanden bei solchen Versammlungen Gelegenheit, durch Besprechung mit Genossen, auf deren Treue und brüderliche Zugetanheit sie rechnen konnten, ihre Erwerbszweige zu finden und zu erweitern. Väter von mannbaren oder halbmannbaren Töchtern suchten und fanden hier leicht Männer für dieselben, was in Polen damals als eine hochwichtige Angelegenheit angesehen wurde. Die gemeinsamen Mahle an Sonnabenden und Festtagen nachmittags befestigten das Band der Brüderlichkeit untereinander. Woher die Mahlzeiten für so viele Gäste bestritten wurden? Die reichen Chaßidäer sahen es als eine Gewissenssache an, den Zaddik reichlich zu unterstützen. Eine besondere Einnahmequelle bot ein Wahnglaube unter den vielen, daß das chaßidäische Oberhaupt für gewisse Summen imstande sei, drohende Gefahren abzuwenden und tödliche Krankheiten zu heilen (Pidjon, Auslösung). Durch Schreckmittel wurde auf schwachköpfige Reiche ein Druck ausgeübt, daß sie nur durch reiche Gaben sich einem über sie angeblich verhängten Unglück entziehen könnten. Wer ein gewagtes Geschäft unternehmen wollte, befragte den Zaddik wie ein Orakel über den Ausgang und zahlte dafür. Die klugen Chaßidäer, wie die Jesuiten, wußten alles, hatten für alles Rat, konnten auch durch ihre Schlauheit wirkliche Hilfe bringen. Der Zaddik mußte von seinen Einnahmen, er mochte noch so geizig sein, Armen und Bedrängten zufließen lassen. So fand hier jedes Mitglied Hilfe in der Not. Begeistert kehrten sie von der Wallfahrt heim, das Gefühl, einem Bunde von Brüdern anzugehören, hob sie, und sehnsüchtig erwarteten sie die Wiederkehr der heiligen Zeit. Arme und Verlassene, Schwärmer und Schlaue konnten nichts Besseres tun, als sich diesem Bruderbunde, diesem leichtlebigen und doch religiösen Orden anzuschließen.

Aber auch ernste Männer fühlten sich durch das Bedürfnis des Gemütes zu den Chaßidäern hingezogen. Das rabbinische Judentum, wie es in Polen geübt wurde, bot dem Herzen keinerlei religiöse Erquickung. Die Vertreter desselben legten den höchsten Wert auf [105] dialektische, gekünstelte Auslegung des Talmuds und der Kommentare. Noch dazu hatte das praktische Bedürfnis, weil die Rabbinen zugleich die Zivilgerichtsbarkeit über ihre Glaubensgenossen ausübten, den zivilgesetzlichen Teil des Talmuds in den Vordergrund gestellt. Ausklügelung von Entscheidungen für neue, verwickelte Rechtsfälle beschäftigte die Talmudbeflissenen Tag und Nacht. Und diese Haarspalterei galt zugleich als höchste Religiosität, der alles andere nachgesetzt wurde. Hatte einer derselben ein recht verwickeltes Thema im Talmud aufgelöst, etwas Neues gefunden, eine Thora genannt, so fühlte er sich behaglich und war seiner Seligkeit gewiß. Alles Übrige, selbst Andachtsbedürfnis, Beten, gemütliche Regungen, Einflußnahme auf die sittliche Haltung der Gemeinden, war ihnen Nebensache, der sie kaum eine halbe Aufmerksamkeit schenkten. Das logische Formelwesen, auf den Talmud oder richtiger auf die Gesetze von Mein und Dein angewendet, überwucherte in Polen alle übrigen Seelenkräfte. Die religiösen Pflichtvorschriften waren bei den Talmudbeflissenen wie bei den Unwissenden zu gedankenlosen Übungen und das Gebet zu einem bloßen Lippenwerk herabgesunken. Den Gemütsmenschen war diese Trockenheit des Talmudstudiums, die daraus entstandene Disputiersucht und Rechthaberei und der Stolz der Rabbinen widerwärtig, und sie warfen sich in die Arme des neuen Ordens, welcher der Phantasie und dem Gefühlswesen so viel Spielraum einräumte. Ganz besonders war es die Klasse der Prediger, jener Halbtalmudisten, welche von den talmudisch geschulten Rabbinen als unebenbürtig mit Verachtung angesehen und behandelt wurden und ein kümmerliches Auskommen hatten oder gar am Hungertuche nagten, die sich dem Neuchaßidäertum zuwendete, weil sie dort ihr Predigertalent verwerten konnte, eine Ehrenstellung erhielt und vor Not geschützt war. Durch solche Elemente vergrößerte sich der Kreis der Neuchaßidäer täglich mehr. Fast in jeder Stadt gab es Anhänger derselben, welche, wie gesagt, mit den Gesinnungsgenossen und dem Oberhaupt von Zeit zu Zeit in Verbindung traten.

Die Antipathie der Neuchaßidäer gegen die Rabbinen und Talmudbeflissenen nahm mit ihrer Erstarkung immer mehr zu. Die Trockenheit, Gemütlosigkeit und Haarspalterei des Talmudstudiums und seiner Pfleger wurde das Stichblatt des Spottes in den chaßidäischen Kreisen. Der Talmud, dieses alles in allem in Polen zu dieser Zeit, wurde von ihnen vernachlässigt und nur jener untergeordnete Teil desselben gepflegt, welcher Stoff und Anhaltspunkte für Predigten lieferte. Ein Jünger Beers, Löb Szerham, äußerte sich: »Ich habe Beer in [106] Mizricz nicht aufgesucht, um von ihm Thora, neue talmudische Ausklügelungen zu hören, sondern um zu sehen, wie er seine Schuhe auszieht und bindet; das ist viel wichtiger. Was ist Thora? Der Mensch muß selbst Thora sein in seinen Handlungen, Bewegungen, seinem Sprechen, seinem Betragen und seiner Verbindung mit Gott (durchs Gebet).« In der kabbalistischen Literatur fanden die Chaßidäer Belege genug, daß das Talmudstudium neben der höheren mystischen Weisheit keine Wichtigkeit habe. Mose de Leon und Isaak Lurja oder Chajim Vital hatten diese Lehre7 deutlich genug gepredigt. Aus dem Sohar entnahmen sie einen Spitznamen für die Talmudbeflissenen »Vom Teufel erfüllte jüdische Weise (Schedin Jehudaïn)«. Sie, wie die Sabbatianer und Frankisten, sprachen ihnen den rechten Glauben ab oder sagten von ihnen, daß sie sich bloß mit der Äußerlichkeit der Religion befaßten, ohne in den Kern einzudringen. Ehe sie sich's versahen, bildeten die Neuchaßidäer eine neue Sekte, welche die Gemeinschaft mit den talmudischen Juden verabscheute. Schon fühlten sie sich, und Beer an ihrer Spitze, stark genug, eine Neuerung einzuführen, welche, wie vorauszusehen war, den Zorn der Rabbinen auf sie herabziehen würde. Da das Gebet und die damit verbundenen gottesdienstlichen Riten für sie die Hauptsache war, so kümmerten sie sich nicht um die Vorschriften des Ritualkodex, wieviel gebetet und zu welcher Stunde die verschiedenen Gebete begonnen und beendet sein müßten, sondern nahmen ihre Stimmung zur alleinigen Richtschnur dafür. Durch die täglichen Waschungen, Reinigungen und andere Vorkehrungen vor dem Gebete, wobei auch das Tabakrauchen eine wichtige Rolle spielte, kamen sie selten dazu, die vorgeschriebene Zeit für das Gebet einzuhalten, sondern begannen es später, brachten wegen ihrer Körperbewegungen und ihres Singsangs lange damit zu, brachen plötzlich ab und ließen manche Partien weg. Die holprigen Einschiebsel in den Sabbat- und Festgebeten, die Piutim, waren ihnen besonders im Wege. Diese Einschiebsel zerstückeln die wichtigsten und anregendsten Hauptbestandteile des Gebetes. Um sie mit einem Schlage loszuwerden, führte Beer Mizricz das Gebetbuch des Hauptkabbalisten Isaak Lurja ein, welches größtenteils nach der portugiesischen Ordnung angelegt ist, und jene poetanischen Zusätze nicht enthält. In den Augen der Stockfrommen war freilich diese Neuerung ein Hauptvergehen oder eigentlich ein doppeltes, das Weglassen der durch die Gewohnheit geheiligten Einschiebsel und dazu die Umwandlung des [107] deutschen in den sefardischen Ritus. Einer umgekehrten Umwandlung würden sich damals auch die gebildetsten portugiesischen Juden, und vielleicht Isaak Pinto an der Spitze widersetzt haben; so zähe hingen ja die portugiesisch oder deutsch redenden Juden an ihrer ererbten synagogalen Verschiedenheit.

Diese Neuerung wäre wahrscheinlich an den Neuchaßidäern streng geahndet worden, wenn nicht damals, als die politische Macht Polens gebrochen wurde, zugleich der feste politische Zusammenhang der polnischen Judenheit aufgelöst worden wäre. Das durch Parteiungen zerwühlte Polen, »in dem«, wie der Primas von Gnesen bei Eröffnung des Reichstages, März 1764, klagte »die Freiheit unterdrückt, die Gesetze nicht befolgt, die Gerechtigkeit nicht gehandhabt wurde, der Handel danieder lag, Flecken und Dörfer verwüstet, der Schatz ohne Geld, die Münze ohne Wert war«8, dieses von den Jesuiten geschwächte und von den Russen bereits als eine sichere Beute angesehene Polen hatte einen Schwächling zum König erhalten, Stanislaus August Poniatowski, den abgedankten Mitschuldigen der ehebrecherischen Kaiserin Katharina, den Spielball der inneren Parteien und der äußeren Feinde (September 1764). Im ersten Jahre seiner Regierung erließ Poniatowski unter andern Gesetzen auch dasjenige, welches den Gesamtverband der polnischen Juden aufhob9. Die Synode der Vier-Länder, welche, aus Delegierten von Rabbinen und Laien (Parnassim) zusammengesetzt, die Machtbefugnis hatte, Bannbullen zu schleudern und Geldstrafen zu verhängen, durfte nicht mehr zusammenkommen, Beschlüsse fassen und ausführen. Wahrscheinlich haben Juden selbst dem König dazu geraten, diese Verfassung aufzulösen, vielleicht Baruch Javan, ein erbitterter Gegner der Sabbatianer und Frankisten, der noch unter Poniatowski Einfluß hatte10. Denn wie der polnische Reichstag, so war auch die Synode [108] in Parteiungen zerfallen und hing von der Willkür der Gewaltigen ab. Gerade wie im Polenreich die Konföderationen die Macht der Regierung lahmlegten, so vereitelten örtliche Versammlungen durch Ungefügigkeit und Trotz die Beschlüsse der Synode. Schon bei den Streitigkeiten für und gegen Jonathan Eibeschütz11 hatte sich die Parteiung in ihrer ganzen tumultuarischen Gestalt gezeigt. So sank die Vier-Länder-Synode nach einem Bestande von etwa drei halben Jahrhunderten ebenso klanglos ins Grab, wie sie entstanden war. Die Zeitgenossen haben es nicht einmal der Mühe für wert gehalten, die Urkunden ihrer Tätigkeit zu retten und der Nachwelt zu hinterlassen.

Die Auflösung der Synode kam den Neuchaßidäern außerordentlich zustatten. Sie konnten nun von den Vertretern der polnischen Gesamtjudenheit nicht mit dem Banne belegt werden, sondern es blieb lediglich jeder einzelnen Gemeinde überlassen, gegen sie einzuschreiten und ihre Zusammenkünfte zu verbieten. Aber auch dazu kam es sobald nicht, da der schwere Todeskampf, welchen Polen vor seiner ersten Verstümmelung zu bestehen hatte, die wohlhabenden Juden hart traf und sie mit Sorgen um die eigene Existenz erfüllte. Es brach der Konföderationskrieg aus, welcher viele Landstriche zur Einöde machte; Polen wurde von der ewigen Gerechtigkeit gerade dadurch bestraft, wodurch es gesündigt hatte. Es hatte im Namen des Papstes und der Jesuiten die Dissidenten allerwärts verfolgt und ihre Überbleibsel von allen Ämtern ausgeschlossen, und im Namen der Dissidenten warf Katharina die Fackel der Zwietracht ins Land. Die Konföderation von Bar (in Podolien), geleitet von Pulawski, Potocki und Krasinski, hatte für die Erhaltung der katholischen Religion und der Freiheit, d.h. für die Adelsprivilegien, die Fahne des Aufstandes aufgepflanzt; da hetzten die Russen zum zweiten Male Zaporoger Kosaken, die wilden Haida maks, gegen die Polen, die mit allen Todesarten gegen polnische Adlige, Geistliche und Juden wüteten. In der Stadt Homel, der einzigen festen Stadt in dem Gebiet von Mohilew, wohin sich alles geflüchtet hatte, wurden bei diesem Aufstande der Kosaken wie bei dem ersten12 durch Gontas Arglist viele tausend Juden neben 10000 Polen erschlagen (20. Juni 1768). Die Haidamaks hängten nebeneinander einen Edelmann, einen Juden, einen Mönch und einen Hund auf und fügten die höhnische Inschrift bei »Alles ist gleich«. [109] Die unmenschlichsten Grausamkeiten wurden an den Gefangenen und Wehrlosen verübt. Dazu kamen noch die Türken, welche angeblich als Retter Polens auftraten und ihrerseits mordeten und plünderten. Die Ukraine, Podolien und überhaupt die südpolnischen Provinzen wurden in Einöden verwandelt. Dieser unglückliche Zustand dauerte bis zur ersten Teilung Polens. Viele südpolnische Juden siedelten sich, der Kriegswut weichend, in Volhynien, Litauen und Kleinrußland an.

Dieses Unglück brachte den Neuchaßidäern mehr Nutzen als Schaden. Sie breiteten sich auch im Norden aus, und während sie früher ihr Wesen nur in kleinen und verhältnismäßig jungen Gemeinden treiben konnten, faßten sie seit der Zeit Fuß in den großen und alten Gemeinden. Schon war ihre Zahl so sehr gewachsen, daß sie zwei Stämme bildeten, Miz riczer und Karliner, die ersteren nach dem Grundstock, die letzteren nach einem Städtchen Karlin (unweit Pinsk) genannt, vielleicht von Ahron Karlin gegründet, einem Bewunderer von Beer Mizricz, der, im sechsunddreißigsten Jahre verstorben, von den Chaßidäern als ein »Heiliger und Reiner« verehrt wird. Die Karliner breiteten sich im Norden von Szklow und Minsk bis nach Wilna und Brody aus. Doch verfuhren sie anfangs vorsichtig. Sobald mindestens zehn zusammentrafen, suchten sie sich ein Betzimmer (Stübel) aus, trieben dort ihr Wesen und suchten neue Anhänger anzuwerben, aber alles mit vieler Klugheit, um nicht eher entdeckt zu werden, als bis sie festen Fuß gefaßt hatten. In Litauen war ihre Art noch nicht bekannt, und so erregten sie anfangs keinen Verdacht. Indessen verrieten sie sich doch in Szklow; das Rabbinat stellte eine Untersuchung an, und ihre Änderung des Synagogenritus genügte, sie für schuldig zu befinden und zu verurteilen. Es traf aber nur die wenigen in diesem Städtchen; die Verbindung derselben mit einem zahlreichen Orden, der von einem Oberhaupte geleitet wurde, scheint in Szklow nicht beachtet worden zu sein. Erst in Wilna erhob sich ein Sturm gegen die Chaßidäer, der sie zu Boden warf, und es gehörte dazu ihre ganze Zähigkeit und ihre Geschicklichkeit, sich tot zu stellen, um nicht aufgerieben zu werden.

Der heftige Kampf gegen sie ging von einem Manne aus, der während seines Lebens und über das Grab hinaus segensreich wirkte, und der, wenn er wie Mendelssohn in einer günstigeren Umgebung gelebt hätte, für die Verjüngung seiner Stammesgenossen hätte wirken können. Elia Wilna (geb. 2. April 1722, starb 10. Oktober 1797)13, [110] dessen Name noch heute von den litauischen Juden unter der Bezeichnung »der Gaon« mit Ehrfurcht und Liebe ausgesprochen wird, war eine seltene Ausnahme unter den polnischen Juden, von lauterstem Charakter und hoher Begabung, die er nicht zu Verkehrtheiten mißbrauchte. Es genügt, um seinen Charakter ins Licht zu setzen, daß er bei seiner umfassenden und tiefen Talmudgelehrsamkeit kein Rabbinat annehmen mochte, im Gegensatz zu seinen Standesgenossen in Polen, die meistens Stellenjäger waren und sich durch Schliche Rabbinatssitze erwarben. Bei der außerordentlichen Fruchtbarkeit seiner Feder auf vielen Gebieten des jüdischen Schrifttums, hat er bei seinem Leben nichts veröffentlichen lassen, im Gegensatze zu seinen Standesgenossen, die, um sich einen Namen zu machen und ihre Einfälle gedruckt zu sehen, kaum das Trockenwerden ihrer Schreibereien erwarten konnten. In seiner Selbstlosigkeit verwirklichte Elia Wilna das Ideal, das der Talmud von einem Lehrer des Judentums aufstellt, daß ein solcher »die Lehre weder als Krone gebrauchen sollte, um sich damit zu schmücken, noch als Scheit, um damit zu graben«. Bei der Überlegenheit seines Wissens und der vollen Anerkennung, die ihm nah und fern zuteil wurde, vermied er es mit Bescheidenheit und Gewissenhaftigkeit, sich geltend zu machen. Die Befriedigung, welche die Forschung, das Suchen nach Erkenntnis gewährt, genügte ihm vollständig. Schlicht und einfach wie sein Wesen und sein Tun war auch die Art seiner Geistestätigkeit. Es versteht sich von selbst, daß der Talmud mit seinen Nebengebieten und seinen Ausflüssen seinen Geist ganz erfüllte. Aber er verabscheute die verderbliche Methode seiner Landsleute, sich in Haarspaltereien, Spitzfindigkeiten und Künsteleien zu ergehen. Er wollte nur in den einfachen Sinn des Textes eindringen, machte auch einen Ansatz zur Prüfung und Berichtigung der Lesarten und blies solchergestalt durch die Ermittelung eines sinngemäßen Wortes in dem verdorbenen Texte die Kartenhäuser um, welche die Talmudbeflissenen in ihrer Sucht nach Klügelei auf Flugsand aufgebaut hatten. Elia Wilna ähnelte in seiner Methode der Forschung Salomon Lurjas14, eines der Begründer des Talmudstudiums in Polen; nur war sein Blick erweiterter und seine Kenntnisse mannigfaltiger. Es gehörte eine außerordentliche Geisteskraft dazu, gegen den hochangeschwollenen Strom der Gewohnheit zu schwimmen und sich von den Verirrungen [111] loszuwinden, denen sämtliche Söhne des Talmuds in Polen verfallen waren. Elia Wilna stand auch vereinzelt in seiner Zeit und seiner Umgebung da. Als hätte er von Jugend auf gefürchtet, in die Irrgänge seiner Landsleute zu geraten oder von ihnen auf Irrwege geführt zu werden, schloß er sich keiner Schule an, sondern war – eine erstaunliche Erscheinung – sein eigener Lehrer im Talmud. Nur einen einzigen talmudischen Anleiter hatte er, der die Richtung seiner Studien anregte, Mose Margalit aus Keydanie, der sich nach David Fränkel (o. S. 4) auf die Erforschung des palästinensischen (jerusalemischen) Talmuds verlegt, in seinem Vaterlande damit keinen Anklang gefunden hatte, und zu Wanderungen bis nach Südfrankreich und Italien gezwungen worden war15. Dieser hatte den jungen Elia Wilna auf ein Gebiet aufmerksam gemacht, dessen Vernachlässigung die polnischen Talmudisten in so traurige Verirrungen geführt hatte. Elia Wilna sah richtig ein, daß die gründliche Erkenntnis des palästinensischen Talmuds der Faden sei, welcher dazu anleitet, sich auch in dem Labyrinth des bevorzugten babylonischen Talmuds zurechtzufinden; nur waren seine literarischen, vielleicht auch seine geistigen Mittel unzulänglich, das Richtige aus der Vergleichung der Talmudzwillinge zu finden und Schlußfolgerungen zu ziehen. Aber nicht bloß die talmudischen Fächer beschäftigten seinen Geist. Elia Wilna suchte wieder – abermals eine Seltenheit in seiner Umgebung – die Bibel auf und – eine noch größere Seltenheit – er machte sich auch mit der Formenlehre der hebräischen Sprache (Grammatik) vertraut. Weit entfernt, wie seine Landsleute, außertalmudisches Wissen zu verachten oder gar zu verabscheuen, befaßte er sich auch mit Mathematik und schrieb ein Buch über Raumlehre, Algebra und mathematische Astronomie. Er regte seine Zuhörer und Freunde an, sich in die Profanwissenschaften zu vertiefen und sprach seine Überzeugung offen aus, daß durch dieselben das Judentum nur gewinnen könne. Nur seine skrupulöse Frömmigkeit, die Makellosigkeit seines Wandels, seine Selbstlosigkeit und sein Fernbleiben von jedem Amte und jeder Ehrenstellung mochten ihn davor geschützt haben, wegen seiner Beschäftigung mit außertalmudischen Wissensfächern verketzert zu werden.

Einen guten Geist hat Elia Wilna besonders unter den litauischen Juden gepflanzt. Seine Söhne und Jünger hielt er dazu an, das Einfache aufzusuchen, und sich von der Klügelei des polnischen [112] Talmudstudiums fernzuhalten. Sie folgten seiner Weisung getreu und vererbten diesen Geist weiter. Bei Elia Wilna bewährte sich der schöne talmudische Spruch: »Wer den Ehren entflieht, den suchen sie auf.« Er wurde frühzeitig als Autorität und als Mann der Wahrhaftigkeit auch auswärts anerkannt. Eine Schattenseite seines Wesens war, daß auch er von dem Wahne befangen war, die häßliche Kabbala sei eine echte Tochter des Judentums und enthalte Wahrheit. Er beschäftigte sich daher mit ihr ebenso ernstlich, wie mit der Bibel und dem Talmud. Jakob Emdens Beweise von der Falschmünzerei des Sohar erschütterten seinen Wahn nicht. Die Befangenheit trübte seinen sonst klaren Blick und machte ihn auch unfähig, die Bibel in ihrem wahren Lichte zu sehen; er sah sie nur durch eine gefärbte Brille. Elia Wilna war tief betrübt über die sittlichen Verheerungen, welche die Kabbala durch den Schwindler Frank unter den podolischen und galizischen Juden angerichtet hatte. Er war unglücklich darüber, daß sie dieselben in die Arme der Kirche geworfen und zu Feinden der Synagoge gemacht hatte, und doch konnte er sich von ihr nicht lossagen. Selbst als ihm die Gefährlichkeit dieser Lügenlehre durch das Auftreten der Chaßidäer näher rückte und ihn zwang, den Kampf gegen sie aufzunehmen, konnte er seine Vorliebe für die Kabbala nicht loswerden und hielt die neuauftauchende, widerliche Erscheinung nur für einen Mißbrauch derselben.

In Wilna hatten sich nämlich ebenfalls Neuchaßidäer oder Karliner eingeschlichen und heimlich ein »Stübel« für ihr Poltergebet eingerichtet. Ein zum vertrauten Kreise des Oberhauptes gehörender Mann, namens Isser, und ein Sendbote, namens Mendel aus Minsk, hatten den Aussatz dorthin eingeschleppt und mehrere Wilnaer Gemeindemitglieder damit angesteckt, unter anderen auch den Prediger Chajjim. Ihre Zusammenkünfte, ihr Treiben und ihr Gespötte über die Talmudbeflissenen wurden indes verraten. Die ganze Gemeinde war dadurch in große Aufregung geraten. Ganz besonders war sie erbittert darüber, daß sich die Karliner erfrecht hatten, von dem allverehrten Elia Wilna zu sagen, er sei, wie seine Beschäftigung und sein Glaube, eine Lüge. Der Vorsteher und das Rabbinat traten sofort zur Beratung zusammen. Das chaßidäische Konventikel wurde auseinander gejagt, Untersuchungen wurden angestellt und Verhöre vorgenommen. Was ergab sich? Wenig und viel. Schriften wurden bei den Chaßidäern gefunden, welche die Grundsätze enthielten, daß man die Traurigkeit meiden müsse, selbst bei der Reue über vergangene Sünden. Doch die Änderung des Gebetes und die [113] respektwidrigen Äußerungen gegen die Rabbinen gaben am meisten Ärgernis. Elia Wilna, welcher, obwohl Privatmann, zu allen Beratungen zugezogen wurde und bei den Beschlüssen maßgebend war, dessen Wort mehr galt, als das des Rabbiners Samuel, nahm die Sache sehr ernst. Er sah in der chaßidäischen Verwirrung eine Fortsetzung der frankistischen Ausschweifungen und Verworfenheit und drang daher auf exemplarische Bestrafung. Der sonst milde und sanfte Mann geriet förmlich in Fanatismus. Der Prediger Chajjim wurde seines Amtes entsetzt, zeigte Reue und bat Elia Wilna um Verzeihung. Finster antwortete dieser ihm: »Der Angriff auf meine Ehre sei dir verziehen, aber der Angriff auf die Ehre Gottes und die Thora kann dir und deinen Genossen bis in den Tod nicht verziehen werden. Für Ketzer gibt es keine Buße.« Der Verführer Isser sollte nach Elias strengem Urteil an den Pranger gestellt werden; aber die Vorsteher verfuhren milder. Sie taten ihn bloß am Sabbat, im Beisein der ganzen Gemeinde, in den Bann, sperrten ihn ein, geißelten ihn und verbrannten die vorgefundenen chaßidäischen Schriften am Pranger (Anfang Mai 1772). Darauf richtete das Rabbinat und der Vorstand, im Verein mit Elia Wilna, ein Sendschreiben an sämtliche großen Gemeinden, mit der Aufforderung, ein scharfes Auge auf die Chaßidäer zu haben und sie in den Bann zu legen, bis sie von ihren Verkehrtheiten lassen würden. Mehrere Gemeinden folgten dem Beispiele pünktlich. In Brody wurde zur Meßzeit, während der Anwesenheit vieler Fremden, der Bann bekannt gemacht gegen alle diejenigen, welche lärmend beten, von dem deutschen Synagogenritus abweichen, an Sabbat- und Festtagen weiße Gewänder anlegen, und andere Sonderbarkeiten und Neuerungen sich zuschulden kommen lassen sollten. In einer Gemeinde (Lasczow) wurde den des Chaßi däertums Verdächtigen untersagt, sich zum Gebete zu vereinigen, selbst zwei derselben durften nicht zusammensitzen; auch von Ehrenämtern wurden sie ausgeschlossen. Aus dem Kreise Elia Wilnas wurde eine brandmarkende Anklageschrift gegen sie in die Welt geschickt. Das war der erste Schlag, der die Chaßidäer getroffen hat. Dazu kam noch, daß ihr Leiter Beer Mizricz in demselben Jahre starb – die Rabbinen bildeten sich ein, infolge der Bannflüche – und so fühlten sie sich verwaist. Das Polenreich wurde infolge der Schwäche des Königs und der Ländergier der Nachbarn zerstückelt und 3000 Quadratmeilen davon losgetrennt, wovon der größte Teil an Österreich (Galizien) und die übrigen an Rußland und Preußen fielen (1773). Dadurch wurde äußerlich der Zusammenhang unter den Chaßidäern [114] aufgehoben und die getrennten Glieder von der Gesetzgebung oder Willkür der verschiedenen Regierungen abhängig.

Indessen dieser Sturm warf sie nicht nieder; sie blieben aufrecht und machten auch nicht den geringsten Versuch, sich den Gegnern (Mithnagdim) unterwürfig zu zeigen. Im Gegenteil, der Kampf gab ihnen mehr Schwung und mehr Rührigkeit. Um den Bann kümmerten sie sich nicht viel; diese, seit dem Streit für und gegen Jonathan Eibeschütz stumpf gewordene Waffe verwundete nicht mehr. Die bereits auf 50000-60000 angewachsenen Chaßidäer gruppierten sich in kleine Gemeinden mit einem Leiter, der den Namen Rebben führte. Ihre Wanderprediger Elimelech aus Lysensk (starb 1786), Jakob Joseph Kohen (starb um 1790), Nahum aus Tschernobyl ermutigten die einzelnen Gemeinden zum Ausharren und die Verfolgungen als wohltätige Prüfungen über sich ergehen zu lassen. Der Zusammenhang der Gruppen untereinander wurde dadurch erhalten, daß ein Oberhaupt aus der Nachkommenschaft Beer Mizricz' an die Spitze, als Haupt-Zaddik, gestellt wurde, dem die verschiedenen Rebben scheinbar untergeordnet waren und von ihrer Einnahme einen Teil zufließen lassen mußten. Der erste Ober-Zaddik Abraham, Beers Sohn, wird von den Chaßidäern als Ausbund aller Heiligkeit gerühmt und mit dem Beinamen »der Engel« (ha-Malach) benannt; aber er war unbedeutend; um so eher konnten ihn die übrigen Häupter anerkennen. Dem möglichen Abfall der Einfältigen durch die von Wilna aus gegen sie geschleuderte Anklageschrift begegneten die Oberen durch die Verordnung, daß die Chaßidäer keine Schrift lesen oder auch nur anblicken dürften, die nicht von ihnen gebilligt worden sei. Der Gehorsam gegen die Oberen wurzelte bereits so tief in den Gemütern der Chaßidäer, daß sie dieses Verbot nicht übertraten. Die Häupter lieferten ihnen dafür ihre Predigten oder Spruchsammlungen angeblich von Israel Baal-Schem oder Beer Mizricz, welche sich um die hohe Bedeutung des Zaddik, Wichtigkeit des chaßidäischen Lebens und Verachtung der Talmudisten drehten, – abgeschmackte Schriften, die dennoch von den in stetem Rausche erhaltenen Mitgliedern mit Bewunderung gelesen wurden. Was früher Belieben und bloßer Einfall war, das wurde durch solche Schriften zur Satzung und zum strengen Gesetz erhoben.

Zwei Häupter haben nach Beers Tod zur Hebung des Chaßidäertums beigetragen, der eine durch maßlose Schwärmerei, der andere durch Gelehrsamkeit, weil beide dem Schwindel entsagten, Israel von Kozieniza (nördlich von Radom) und Salman [115] von Liadi, beide aus dem Jüngerkreise des Mizriczers. Der erstere, unter dem Namen Kozienizer Maggid (1773-1815) bekannt, war halb toll und wußte, ein jüdischer Capistrano, durch seine ungeschminkte chaßidäische Frömmigkeit und seine schwärmerischen Predigten seine Zuhörer bis zu rasender Begeisterung hinzureißen. Es versteht sich von selbst, daß er auch Heilkuren angewendet hat. Die Gläubigen waren von der Überzeugung durchdrungen, daß sein Wort und sein Gebet alles Übel und alle Gefahren beschwören, alles Geheime ans Licht ziehen könne. Scharenweise strömten die Chaßidäer von weit und breit zu seinem Aufenthaltsorte, und die es nicht waren, bekehrten sich zu seiner Lehre. Selbst Christen wendeten sich an den angeblichen Wundertäter und glaubten an seine Macht. Er wurde mit Gaben und Geschenken überschüttet. Israel Kozieniz soll aber so selbstlos gewesen sein, wenig davon für sich zu behalten, sondern alles unter die Dürftigen zu verteilen. – Schneor Salman von Liadi (geb. in Lozno, unweit Witebsk 1751, starb 1813)16, der Liadier schlechtweg genannt, zeichnete sich ebensosehr durch talmudische und kabbalistische Gelehrsamkeit wie durch chaßidäische Frömmigkeit aus. Er soll, auf einer Auswanderung nach Palästina begriffen, eine Stimme vernommen haben, die ihn bedeutete, in Polen zu bleiben und dort das Amt eines Oberen zu übernehmen. Er machte ein Städtchen Ljubawice (in der Nähe seines Geburtsortes) zum Mittelpunkte von Gemeindegruppen. Die Chaßidäer zogen kleine Städte vor, um ihr Wesen ungestörter treiben zu können. In einigen Punkten wich der Liadier von den Mizriczern und Karlinern ab. Er stellte das geräuschvolle Beten ab und pflegte wieder Talmudstudium und Kabbala. Seine Anhänger wurden die Ljubawizer, auch Lachowizer oder Chabads genannt17, die wenigstens die Unwissenheit nicht zur Tugend stempeln. Aber auch der Liadier betrachtete das Hineinblicken in eine Schrift, die nicht in hebräischen Buchstaben geschrieben ist, für eine Befleckung der Seele und wußte diesen Unsinn mit kabbalistischen Floskeln zu belegen; dagegen rügte er die Sucht, den Zaddik als Orakel für Geschäftsunternehmungen zu befragen.

So erstarkt waren die Chaßidäer wieder, daß sie zum zweiten Male in den Bann gelegt werden mußten. Auch diesmal ging ihre [116] Verfolgung von Wilna und von Elia Wilna aus. Die Veranlassung war, daß Jakob Joseph Kohen seine chaßidäischen und rabbinenfeindlichen Predigten drucken ließ (1780), die in den großen Gemeinden Verbreitung fanden. Um dem Weitergreifen dieses Wahnes zu begegnen, wurden die Chaßidäer für Ketzer erklärt, mit denen sich kein frommer Jude verschwägern dürfe (Sommer 1781). Von Wilna aus wurden zwei Sendboten an die litauischen Gemeinden abgeordnet, um sie anzuspornen, sich dem Banne anzuschließen. In Brody und Krakau wurden infolgedessen die chaßidäische Predigtsammlung und andere Schriften, obwohl sie Verse aus der heiligen Schrift enthielten, öffentlich verbrannt. In Selvia (unweit Slonim) wurde zur Messezeit in Gegenwart sehr vieler Juden der Bann über die Chaßidäer und ihre Schriften öffentlich verkündigt (21. August 1781); doch diese verbrauchten Mittel schlugen wenig an. In den österreichisch-polnischen Provinzen (Galizien) wurden von den Jüngern der Mendelssohnschen Schule andere Mittel gegen das Verdummungssystem der Chaßidäer angewendet. Josephs II. Dekret, daß in allen jüdischen Gemeinden Schulen für den Unterricht in der deutschen Sprache und in den Elementarkenntnissen errichtet werden sollten, stieß auf gewaltigen Widerstand von seiten fast sämtlicher Juden und noch mehr der Chaßidäer. Um so mehr Eifer entwickelten dafür die wenigen Bewunderer Mendelssohns, welche die Verkümmerung und Verwilderung durch Kulturmittel heilen zu können vermeinten. Am eifrigsten wirkte für Aufklärung der galizischen Juden Alexander Kaller in Brody, welcher einen begabten Jüngling, Bär Günzburg, unterstützte, damit er ein Apostel für Kultur und Wissenschaft in Galizien werden könne. Kaller und seine Gesinnungsgenossen erwirkten wahrscheinlich vom Wiener Hofe ein Dekret, daß chaßidäische und überhaupt kabbalistische Schriften in Galizien nicht eingeführt werden durften (1785). Nach der zweiten Teilung Polens wurden Angebereien auch gegen die Chaßidäer in Russisch-Polen vorgebracht, als wenn sie staatsgefährlich wären. Salman, der Liadier, das Haupt der Ljubawizer, wurde in Fesseln nach Petersburg geschleppt. Elia Wilna soll auch hierzu der Anreger gewesen sein und verfolgte die Chaßidäer überhaupt bis an sein Lebensende. Was taten sie? Ein Chaßidäer reiste mit einem abgerichteten Knaben umher, gab ihn für Elia Wilnas Sohn aus und ließ ihn sprechen, sein Vater bereue unter Tränen sein Verfahren gegen die Chaßidäer. Elia mußte durch Sendschreiben und Sendboten diesem Lügengewebe entgegentreten. Nach seinem Tode rächten sich die Chaßidäer gefühllos an ihm, indem sie auf seinem [117] Grabe tanzten und seinen Todestag als einen Feiertag mit Geräusch und Rausch begingen. Alle gegen sie angewandten Mittel waren nicht imstande, sie zu unterdrücken, weil sie nach einer Seite hin ein berechtigtes Prinzip vertraten, dem Übermaß des Talmudismus entgegenzuwirken. Ehe das achtzehnte Jahrhundert abgelaufen war, waren sie bereits auf 100000 Seelen angewachsen. Gegenwärtig geben sie in den Gemeinden, in denen sie ehemals verfolgt wurden, den Ton an und breiten sich nach allen Seiten hin aus.


Fußnoten

1 S. über beide und den Chaßidismus überhaupt Note 2.


2 ט"שעב, auch ש"ביר abbreviert: םש לעב לארשי 'ר.


3 Künstlerisch vollendet ist diese Entartung geschildert in Erters תודיסחו המכח Gesamtausgabe הפוצה von Letteris S. 75 f., auch S. 30 und in einem Briefe das. S. 90.


4 םלוע דוסי קידצ, in der Kabbala ursprünglich nur eine Spielerei mit Worten.


5 Schon 1757 in שומש 'ס, noch mehr aber in תחפטמ םירפסה 1768.


6 [Vgl. jedoch hierzu D. Cahana in der Ztschr. רחשה V, S. 635, Note 3.]


7 S. Bd. VII, S. 210 und Bd. IX, Note 9, S. 553.


8 Raumer, historisches Taschenbuch, 3. Jahrg., S. 417.


9 Czacki, Rosprawa o Żydach (Abhandlung über die Juden), ed. 1807, p. 105 nach der Konstitution von 1764. Auf die Aufhebung der Synode spielt nur das Verdammungsurteil der Brodyer Gemeinde gegen die Chaßidäer von 1772 an: יסנרפ רודה ימכח איהה תעב םויהכו (םיעשר הכלוז) ןיזעוויג ףדור ןעבאה תוצרא 'דד יגיהנמו הרטע םרוהו תפנצמה רסוה (in םירוצ תוברחו םיצירע רימז). [Vgl. jedoch Dembitzer im Bd. IV des תורפסה רצוא, S. 213 f., wonach die letzte Synode 1762 stattgefunden hat. Nach Dembitzers Ergebnissen entstanden die Synoden um 1500 und gingen um die Mitte des 18. Jahrhunderts infolge der verwirrten politischen Verhältnisse allmählich ein.]


10 Vgl. den Brief in »Frank und die Frankisten«, S. 65, d.d. 1768.


11 Bd. X, S. 375.


12 Bd. X, S. 65 f.


13 Seine Biographie enthalten והילא תוילע von Josua Heschel, Wilna 1856 und Finn הנמאנ הירק, S. 133 f. [Vgl. Steinschneider C. B. Nr. 4975 und Add. p. XCVII.]


14 Bd. IX, S. 417 f.


15 Vgl. seine Approbation zu ןויניוא רוזחמ von 1765 zum Versöhnungstag und seine Einleitung zu seinem Jerusalem-Kommentar השמ ינפ 1770.


16 [Über seine letzten Erlebnisse und seinen Tod vgl. die Mitteilungen bei Jellinek, ם"במרה סרטנוק, 2. Aufl., Wien 1893, S. 37 f.]

17 Akrostichon der hebräischen Wörter: הני'ב המכ'ח תע'ד.



Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1900], Band 11, S. 119.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Elixiere des Teufels

Die Elixiere des Teufels

Dem Mönch Medardus ist ein Elixier des Teufels als Reliquie anvertraut worden. Als er davon trinkt wird aus dem löblichen Mönch ein leidenschaftlicher Abenteurer, der in verzehrendem Begehren sein Gelübde bricht und schließlich einem wahnsinnigen Mönch begegnet, in dem er seinen Doppelgänger erkennt. E.T.A. Hoffmann hat seinen ersten Roman konzeptionell an den Schauerroman »The Monk« von Matthew Lewis angelehnt, erhebt sich aber mit seiner schwarzen Romantik deutlich über die Niederungen reiner Unterhaltungsliteratur.

248 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon