Erhaltung und Fortbildung der alten Wehrgemeinde in Sparta und Kreta

[294] Genau den entgegengesetzten Verlauf hat die Entwicklung in Sparta und den kretischen Gemeinden genommen. Eine Adelsherrschaft gibt es hier nicht; die Bürger leben nicht für sich allein auf ihren Gütern, die sie nur vorübergehend besuchen, sondern im Mittelpunkt des Gebiets zusammen mit ihresgleichen. Sie zerfallen in »Männerhäuser« oder »Zeltgenossenschaften« (ἀνδρεῖα, συσκήνια, in Sparta später φιδίτια, von den übrigen Griechen meist συσσίτια genannt), die auf Kreta mit den Hetärien identisch sind, in Sparta durch freieren Zusammenschluß gebildet werden. Es sind zugleich militärische Abteilungen und Tischverbände. Auch die Knaben wachsen nicht im Elternhause, sondern gemeinsam auf; sie leben in »Herden« (ἀγέλαι, βοῦαι) unter der Aufsicht junger Männer, die sie im Waffenhandwerk ausbilden. In Kreta werden sie, wenn sie das mannbare Alter erreicht halten, von Staats wegen verheiratet. Der Spartiate muß sich seinen Beitrag an Brot, Wein und Öl von seinem Gut schicken lassen, während andere Zutaten, namentlich aus der Jagdbeute, freiwillig geliefert, das Fleisch (meist Schweinefleisch), wie es scheint, auf gemeinsame Kosten beschafft wird – nur die Könige erhalten von Staats wegen eine doppelte Portion. In Kreta dagegen werden die Kosten durch eine Kopfsteuer der Leibeigenen, durch einen Zehnten von allen Erträgnissen des Feldes und Viehs und durch einen Zuschuß aus der Staatskasse bestritten und ebenso die Knabenherden auf Staatskosten erhalten. Dies ist offenbar das ursprüngliche. Oder vielmehr in einer Zeit, wo jeder freie Mann sein Landlos erhielt, war beides identisch, erst die Entwicklung des vollen Privateigentums hat [294] den Unterschied hervorgerufen. Das Bestehen einer derartigen Lebensweise ist nur dadurch möglich, daß der freie Mann nicht selbst das Feld bestellt, sondern von der Arbeit leibeigener Knechte lebt. Daher sind die Leibeigenen in Sparta und Kreta – hier heißen sie auch κλαρῶται, weil sie zum Landlos gehören – nicht Eigentum ihrer Herren, sondern des Staats; dieser weist sie den einzelnen Familien zur Nutznießung zu und setzt die Abgaben fest, die sie ihrem Herrn zu zahlen haben470.

So ist in Sparta und Kreta die alte Sitte nicht nur erhalten, sondern gesteigert und zur Grundlage des ganzen Staatslebens geworden. Im Gegensatz zu dem Ritterheer und dem Zusammenleben des Adels hat sich hier ein Bürgerheer und eine Gemeinschaft aller freien Männer gebildet. Ansätze jener Entwicklung[295] fehlen auch hier nicht: in Kreta ist die Bekleidung des Kosmenamts und der Zutritt zum Rat auf eine bestimmte Anzahl von Geschlechtern beschränkt, und in Sparta wie in Kreta gibt es im Heere ein Reiterkorps471. Aber diese Entwicklung ist durch eine Gegenströmung gebrochen: das historische Sparta weist keine Spur eines Adels auf, die »Reiter« dienen nicht mehr zu Rosse, sondern sind die nach persönlicher Tüchtigkeit ausgewählte Elite des Fußvolks, und das Recht von Gortyn kennt nirgends irgendwelche Adelsprivilegien. Die alte Wehrgemeinde hat sich behauptet und zu einem geschlossenen Fußheer entwickelt, das keinerlei Unterschiede des Standes kennt. Diese einheitliche militärische Organisation ist in Sparta erst in den Kämpfen des 8. und 7. Jahrhunderts durchgeführt worden (u. S. 513ff.); erst damals wird sich auch die eigentümlich spartanische Staatsordnung aus älteren einfacheren Verhältnissen herausgebildet haben. Aber sie beruht auf dem alten von den Doriern bewahrten Grundsatz, daß der freie Mann Krieger ist und in Krieg und Frieden mit den Kameraden zusammenlebt. Es ist sehr wohl möglich, daß die Hörigkeit der Landbevölkerung weit mehr aus diesem Grundsatz als aus Eroberung hervorgegangen ist: der Kleinbauer draußen und gar der Tagelöhner ist an seinen Hof gefesselt (οικεύς, u. S. 304) und kann seine Bürgerpflichten nicht erfüllen. Mit der Ausbildung des Privateigentums wird daher in Sparta die Möglichkeit, an der Tischgenossenschaft teilzunehmen, zur Grundlage des Bürgerrechts; wer seinen Beitrag nicht mehr liefern kann, scheidet aus der Zahl der Vollbürger aus so gut wie wer sich vor dem Feind feige zeigt472. Auch sonst haben sich in Sparta manche Reste der ursprünglichen [296] Gemeinwirtschaft erhalten, so das Recht der Knaben, Lebensmittel zu stehlen, wenn sie sich nicht dabei ertappen lassen – das ist eine dem späteren Eigentumsbegriff gemachte Konzession, wodurch die alte Sitte in eine pädagogische Maßregel umgewandelt wird473 – und die jedem gewährte Erlaubnis, die Habe eines andern für seinen augenblicklichen Bedarf zu benutzen (Xen. rep. Lac. 6).


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 294-297.
Lizenz:
Kategorien: