Sitten. Festspiele

[339] In Leben und Verkehr des griechischen Mittelalters herrschen die festen Formen der Konvention, denen jedes naturwüchsige Volk, das sich zu einer gewissen Kultur erhoben hat, sich unterwirft und welche noch heutigentags den ganzen Orient beherrschen. Erwachsen sind sie aus einem Kompromiß der Ansprüche, welche jede einzelne Persönlichkeit erhebt, und der mannigfachen Rücksichten, welche sie, um sich im Leben zu behaupten, fortwährend gegen Gleichgestellte und Höherstehende nehmen muß. Ihre geschichtliche Bedeutung aber besteht in der Zucht, welche sie dem Einzelnen auferlegen. Sie bändigen die ursprüngliche Roheit der Sitten, sie zwingen die gewaltige Leidenschaft nieder, die unter ihrer Hülle in jedem Einzelnen tobt. Freilich nur mit Mühe gelingt es, den hochfahrenden Sinn niederzuhalten; stets ist jeder bereit, zu den Waffen zu greifen, die Verletzung seiner Interessen oder seiner Ehre durch Blut zu sühnen – denn niemand sieht in dem Mord ein Verbrechen, nur der Blutrache muß sich der Täter, auch wenn ein Zufall ihn zum Mörder machte, schleunigst durch die Flucht entziehen. Sind die Schranken einmal durchbrochen oder ist ein Todfeind niedergeworfen, so bricht wohl die natürliche Wildheit mit furchtbarster Gewaltsamkeit hervor (z.B. Il. A oder N 202. X 345ff. I 458). Durch die Herrschaft des Adels wird die Konvention noch gesteigert; der Verkehr der homerischen Helden bewegt sich in den Formen einer gemessenen [339] Höflichkeit, die an den Orient erinnert, wenngleich auch hier schon die der geringeren Durchbildung und Uniformität der Kultur entsprechende größere Freiheit und Beweglichkeit der europäischen Völker hervortritt; die Formen sind weder so fest noch so knechtisch wie bei den asiatischen Kulturvölkern. Dem Wesen des Adels entspricht es, daß er seinen Wohlstand und seine Macht auch äußerlich zur Schau zu stellen liebt und einen reichen behaglichen Luxus entfaltet. Der Adlige erscheint in glänzenden Waffen, mit zahlreichem Gefolge, hält prächtige Rosse, Jagd- und Schoßhunde (ρ 310). Wo ihn nicht der Krieg oder seine eigenen Geschäfte in Anspruch nehmen – die im realen Leben eine weit größere Rolle gespielt haben als im Idealbilde des Epos –, führt er zusammen mit seinen Standesgenossen vor den Augen der Menge ein behagliches Genußleben: ein Gelage folgt dem andern, gewürzt durch Gesang und Tanz, die von berufsmäßigen Sängern und Tänzern vorgeführt werden. Vor allem aber beim Begräbnis entfaltet sich der volle Glanz des herrschenden Standes; da jetzt alle Schranken gefallen sind, kann dem Toten noch reicher als dem Lebenden gegeben werden, was ihm zusteht. Die Frauen und Sklavinnen, auch gemietete Trauerweiber, erheben die Totenklage, alle Verwandten und Genossen strömen zur Feier herbei, prächtig erhebt sich der Scheiterhaufen, reiche Gaben werden dem Toten mitgegeben; an die Bestattung schließen sich Wettspiele in allen adligen Künsten, zu denen kostbare Preise ausgesetzt werden518.

Wie im Mittelalter die Turniere, so werden in Griechenland die Wettspiele der ideale Mittelpunkt des Lebens des Adels, die Ergänzung und das Gegenstück seiner Tätigkeit im Kriege und im Staatsleben. Kraft und Ausbildung des Körpers, Übung in den Waffen, Schönheit und Schnelligkeit der Gespanne kommen hier zur vollen Geltung; hier entscheidet nicht der Zufall des [340] Krieges, sondern Kraft und Tüchtigkeit. Der Wettkampf ist nicht nur das Gegenbild, sondern das verklärte Abbild des Krieges; ständig wächst daher das Ansehen des in ihm gewonnenen Siegespreises. Die homerische Dichtung kennt Wettspiele nur bei Leichenfeiern: Wagenrennen, Faustkampf, Ringkampf, Wettlauf, Speerkampf folgen hier aufeinander (Ψ 621. 634ff.), andere Wettkämpfe, wie der Diskuswurf und der Speerwurf, können hinzutreten. Frühzeitig haben sich auch Preise für Sänger und Tänzer angeschlossen (Hesiod op. 654, vgl. hymn. Apoll. 149). Seit dem 8. Jahrhundert kommen dann auch Wettspiele zu Ehren der Götter auf. Das älteste uns bekannte ist der alle vier Jahre im Dienst des Zeus von Olympia von den Eliern und ihren Nachbarn begangene Wettlauf (o. S. 327), in dem die Sieger seit dem J. 776 aufgezeichnet sind – das Fest ist aber vermutlich schon weit älter. Auch beim Apollofest auf Delos werden Wettspiele gefeiert, und Feiern wie die Lykäen in Arkadien und die Nemeen in Argolis mögen ebenfalls ziemlich hoch hinaufreichen. Daran schließen sich dann seit dem 7. Jahrhundert zahlreiche neue Stiftungen teils lokalen, teils universellen Charakters519.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 339-341.
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