Soziale und politische Umwandlungen. Industrie und Geldwirtschaft. Der Demos und das Bürgertum

[503] Für alle Staaten, die am Handel teilnehmen, ist die Beschaffung der Waren für den Export die Lebensbedingung. Eine Schale aus Kyrene zeigt den König Arkesilaos II. (um 560), wie er auf seinem Thron dem Verpacken und Abwägen der Silphionballen (o. S. 437) zuschaut. Auf dem Ertrag des Thunfischfangs beruht der Wohlstand von Byzanz und Sinope, zum Teil auch von Tarent. Andere Staaten exportieren Getreide, wie namentlich die unteritalischen und später die pontischen Kolonien, Wein, z.B. Chios, Naxos, Lesbos, Thasos, Rhodos, Öl, Feigen, Wolle, Honig u.a. Daneben gewinnen die Erzeugnisse des Handwerks immer größere Bedeutung. Wie in der mykenischen Zeit beginnen die alten Gewerbe der Schmiede und Töpfer aufs neue für einen ständig wachsenden Export zu arbeiten. Namentlich die griechischen Tonwaren bilden überall einen Hauptartikel des Handels, Trinkschalen und Becher, Kannen, Salbgefäße, daneben gröbere Krüge und Urnen als Warenbehälter. Seit dem Beginn der Kolonisation entwickeln sich neue Stile in Form und Dekoration. Die Führung übernehmen Chalkis und Korinth, die ganz Italien und Sizilien mit Tonwaren versorgen. Aber auch Megara, Rhodos, die äolischen Städte (Myrina), später Kyrene u.a. haben ihre heimische Industrie, die sich auswärtige Absatzgebiete erobert, und bald beginnen die Töpferwaren von Attika in die Konkurrenz einzutreten. Dieselben Gebiete haben Metallwaren exportiert, Waffen von Bronze und Eisen, Schmuckgegenstände und Gefäße; doch hat hier, wie schon erwähnt, der Metallreichtum Italiens die Selbständigkeit der heimischen Industrie gesichert, ja wohl schon früh umgekehrt einen Export aus Etrurien nach Griechenland erzeugt (Kritias el. fr. 1, 7). Auch die Zeugstoffe sind ein wichtiger Handelsartikel, so die wollenen Gewänder, Teppiche und Decken von Milet und Chios, die Purpurstoffe von Euböa und Lakonien (Kythera); ferner die Möbel Ioniens, die Kleinwaren Äginas, die Wagen von Sizilien, Cypern, Kyrene, Theben u.a. Auch die Erzeugnisse der kleinasiatischen Industrie, namentlich Lydiens, werden von den griechischen[504] Kaufleuten exportiert754. Wie die Griechen den Phönikern ihr Handelsgebiet und ihre Faktoreien der Reihe nach entreißen, werden sie ihnen auch in der Industrie ebenbürtig, ja bald überlegen.

So tritt an die Stelle des für den Bedarf des Hauses und der Gemeinde arbeitenden Handwerks eine ausgebildete Industrie, welche dem Handel die Waren liefert und daher eine ganz andere Organisation und andere Hilfsmittel nötig hat. Die Produktion muß fabrikmäßig betrieben werden. Dazu reichen die freien Arbeitskräfte und die kleinen bürgerlichen Handwerker nicht aus; die Sklavenarbeit tritt an ihre Stelle. Der Handel und der gesteigerte Wohlstand bieten die Mittel dazu, die fremden Länder das Bezugsgebiet. Kleinasien, die Pontusländer, Thrakien versorgen die Handelsstädte des Mutterlandes mit Sklaven, die Kolonien Italiens und Siziliens beziehen sie aus der unterworfenen einheimischen Bevölkerung. Damit tritt wieder ein neues Element in die griechische Welt. Der älteren Zeit ist der Kaufsklave fast völlig fremd, er verbreitet sich mit der neuen Kultur als einer ihrer wichtigsten und unentbehrlichsten Bestandteile. Als die ersten, welche Sklaven in Massen importierten, gelten die Chioten (Athen. VI 265 usw.), aber Korinth, Ägina, Milet, Chalkis und die übrigen Fabrikstädte konnten sie ebensowenig entbehren, und ständig wächst hier ihre Zahl, oft weit über die freie Bevölkerung hinaus755.

Noch einschneidender wirkt das Aufkommen der Geldwirtschaft. In der homerischen Zeit herrschen Naturalwirtschaft und [505] Tauschhandel (z.B. H 472. α 431 u.a.) Der Wert der Waren, auch kostbarer Gegenstände, wie z.B. einer goldenen Waffenrüstung (Z 236), wird nach Rindern gemessen, wie im ältesten Rom (pecunia); die Bußsätze, welche der Staat auferlegt, waren noch bei Drakon in Vieh ausgedrückt (Pollux IX 61, vgl. Plut. Sol. 23). Der gesteigerte Verkehr bedarf eines anderen Wertmessers, der leicht transportierbar und beliebig teilbar ist, so daß er eine genaue Abschätzung ermöglicht; ihn bieten nur die Metalle. Sie werden meist in Barrenform gebracht und dem Verkäufer zugewogen. Für den lokalen Verkehr genügen die einheimischen Metalle. So ist in Italien überall, bei den Griechen wie bei den Einheimischen, das Kupfer der allgemeine Wertmesser (o. S. 470f.). Auch in Griechenland ist es weit verbreitet, auf Kreta z.B. geben alte Gesetze von Gortyn und Knossos die Strafsätze in ehernen Kesseln (λέβητες) und Dreifüßen (τρίποδες) an. Im Peloponnes verwendet man Eisenbarren (ὀβελίσκοι σιδηροί), aus denen sich später vor allem in Sparta, aber auch in Argos, Tegea, Heräa und ebenso in Byzanz eine eiserne Scheidemünze entwickelt hat; auch Homer (Il. H 473) kennt Eisen als Tauschmittel. Aber für die Ansprüche des Großhandels sind diese Metalle zu wohlfeil; nur die Edelmetalle können ihm genügen. Seit dem Anfang des 7. Jahrhunderts gewinnen die Edelmetalle, im Orient seit Jahrtausenden die allgemeinen Wertmesser, auch im griechischen Verkehr immer mehr die Herrschaft; zur Verbreitung des orientalischen Gewichtssystems (o. S. 494) haben sie wesentlich beigetragen.

Diese Entwicklung ist von folgenschwerer Bedeutung gewesen. Nicht nur für den Verkehr wird eine feste Norm geschaffen; sie wirkt erschütternd und umgestaltend auf alle Lebensverhältnisse bis in das entlegenste Dorf. Die Erzeugnisse der Heimat reichen für die Bedürfnisse des täglichen Lebens nirgends mehr aus, die fremden Waren aber können nur gegen das Äquivalent gekauft werden, welches der Handel allein anerkennt. Auch im heimischen Verkehr schwindet der Tauschhandel; die Marktpreise werden abhängig von den Konstellationen des Verkehrs, von der Konkurrenz des italischen, sizilischen, pontischen Getreides. Jedes Unternehmen, jede notwendige Anschaffung, die Deckung von Mißerfolgen [506] erfordert bares Geld. Wer keins hat, muß es zu schweren Zinsen aufnehmen, muß nach dem alten harten Schuldrecht mit seiner Habe und mit seinem und der Seinen Leibe dafür haften, muß Bürgen stellen, die er, wenn er nicht zahlen kann, mit sich in dasselbe Verderben reißt. »Leiste Bürgschaft und du sitzt im Unglück« (ἐγγύα, παρὰ δ᾽ἄτα) lautet ein Sprichwort dieser Zeit. Der vermögende Adlige, der Kaufmann, der glückliche Unternehmer prosperieren dabei; auch der Staat hat Vorteil davon, wenn er die richtigen Hafen- und Marktgefälle erhebt. Dagegen der Kleinbauer, der Pächter, der Tagelöhner werden mit doppelter Wucht von den neuen Verhältnissen getroffen. Die alten ruhigen Zustände, wo sie in patriarchalischer Abhängigkeit von den adligen Herren die Felder bestellten, diesen ihre Abgaben zahlten und dafür ihren Schutz genossen, sind geschwunden. Geld hat der Bauer nicht, und doch braucht er es für jede Anschaffung und doppelt in Notjahren. Auch wird der Grundherr oft genug die Zahlung der Pachtsumme nicht mehr in Naturalien, sondern in Geld gefordert haben. So verfällt die Bauernschaft immer mehr in Schulden. Der zahlungsunfähige Schuldner verliert sein verpfändetes Grundstück oder seine Pachtung und wird zum Knecht. Da der Gläubiger Arbeitskräfte in Fülle hat, verkauft er ihn und seine Familie in die Fremde, um das Geld zu erhalten, das auch er notwendig braucht. Vergeblich sucht man den Wirkungen dieser Entwicklung zu begegnen; sie schreitet mit der Kultur von Ost nach West vor, von den Handelsstädten Ioniens und am Isthmos nach Attika und Argolis, nach Böotien und Arkadien756.

Im 7. Jahrhundert haben die Edelmetalle diejenige Form erhalten, in der sie von da an bis auf den heutigen Tag den Verkehr beherrschen. An der Grenze der griechischen und der orientalischen Welt, in Lydien, ist, wahrscheinlich unter den ersten Mermnaden, [507] die Münze erfunden worden. Ihr Wesen besteht darin, daß der Staat die Metallstücke nach den Einheiten des Gewichtsfußes ausprägt und garantiert und zum Gewähr dessen alsbald – nur die ältesten wohl von Gyges und Ardys geprägten Münzen haben noch keine Abzeichen – sein Wappen, wohl auch seinen Namen daraufsetzt. Dadurch wird das Metallstück dem Bereich der übrigen Waren enthoben; der Wertmesser ist in eine Form gebracht, die zugleich bequem und durch die Autorität des Staats gedeckt ist und daher allen Anforderungen des Verkehrs entspricht. Von Lydien aus hat sich die neue Erfindung rasch zu den griechischen Handelsstädten Kleinasiens und Europas, etwa seit dem Anfang des 6. Jahrhunderts auch nach Sizilien und Italien verbreitet; in den Orient ist sie erst später eingedrungen. Die ältesten kleinasiatischen Münzen sind aus lydischem Weißgold (ἤλεκτρον, oben S. 169) geprägt; bald folgen die Prägungen aus Gold und Silber. Bei der Prägung suchte man Münzeinheiten zu schaffen, die dem Wertverhältnis der Metalle zueinander entsprechen (Gold: Elektron: Silber = 131/3: 10: 1). Dazu kam die Verschiedenheit der Maßsysteme. So haben sich in Kleinasien zahlreiche miteinander konkurrierende Prägungen entwickelt757. Im europäischen Griechenland tritt uns die politische Gruppierung der Handelsstaaten auch in der Münzprägung entgegen758. Euböa folgt einem vielleicht über Samos vermittelten System, das den Fuß der kleinasiatischen Goldprägung (Stater von 8,4 g) auf das Silber überträgt. An Euböa haben sich nicht nur die chalkidischen Kolonien in Thrakien, sondern auch (aber mit Drittelung des Staters, oben S. 494f.) Korinth angeschlossen. Dagegen ist Ägina schon im 7. Jahrhundert von einer ältesten schwereren Münze zum Pheidonischen System (Stater von 12,4 g) übergegangen. Sein Silbergeld wird das herrschende Kurant im Peloponnes und in Attika, auf denselben Fuß prägen die Böoter und Phoker und zahlreiche Inseln (so Kreta); Korkyra bezeichnet seine Losreißung von Korinth durch den Übergang [508] zur äginetischen Währung, auch im Westen hat sie weithin Eingang gefunden. Nirgends tritt uns so greifbar wie hier die Machtstellung entgegen, welche Ägina im 6. Jahrhundert eingenommen hat.

Aus dem Reichtum an Herden und Land ist die herrschende Stellung des Adels erwachsen. Noch steht sein Besitz auch in den Handelsstädten unangetastet. Aber er hat die frühere Bedeutung verloren; der Ertrag des Bodens tritt zurück gegenüber dem weit reicheren Gewinn, den Handel und Industrie abwerfen (vgl. für Milet Herod. V 29). In Ionien, auf Euböa, in Korinth und Megara leitet der Adel die Kolonisation, er steht an der Spitze der kommerziellen Unternehmungen. Die Aristokratie der Grundbesitzer verwandelt sich in eine Kaufmannsaristokratie (vgl. o. S. 334.). Nicht selten muß sie auch die zu Reichtum gelangten bürgerlichen Kaufleute als gleichberechtigt anerkennen. Dann entsteht eine Verfassung, die wir (nach Aristot. eth. nicom. 8, 12) als Timokratie zu bezeichnen pflegen: die Ausübung der politischen Rechte wird an einen bestimmten Vermögenssatz angeknüpft, auch wohl, wie in der Solonischen Verfassung, klassenweise abgestuft. Ferner wird die ererbte Verachtung des Handwerks in Fabrikstädten wie Korinth zu einer Absurdität (Herod. II 167 ἥκιστα δὲ Κορίνϑιοι ὄνονται τοὺς χειροτέχνας, vgl. u. S. 575). Aber auch in den Kontinentalstaaten macht sich die Einwirkung der neuen Verhältnisse fühlbar. Mochte man in Ackerbaustaaten wie Sparta oder z.B. Thespiä (Herakl. pol. 43) streng an dem Grundsatz der patriarchalischen Zeit festhalten, daß Handwerk und Gewerbe den freien Mann entehren, so wollen doch auch hier die Grundherren ihr Getreide, ihren Wein, ihr Öl absetzen, fremde Produkte und Erzeugnisse der Industrie dafür einhandeln. Die alte Einfachheit schwindet, die Ansprüche an das Leben wachsen. In Sparta überläßt die regierende Bürgerschaft später wenigstens den Handelsbetrieb und die Warenfabrikation ausschließlich den Periöken in den untertänigen Küstenstädten; aber die Einwirkung der Fremde, die Berührung mit der kleinasiatischen Kultur zeigt sich auch hier überall in der reicheren Gestaltung des Lebens, in Dichtung und Kunst, in den Festen; auch Sparta hat an der Kolonisation teilgenommen. Das gleiche gilt von Argos, von Kreta, ja von Athen, Böotien, [509] Thessalien. Überall entwickelt sich eine Industrie und mit ihr ein Handwerkerstand, die Geldwirtschaft mit ihren Folgen und selbst die Kaufsklaven finden Eingang auch in reine Ackerbaustaaten.

So werden die Grundlagen der mittelalterlichen Staatsordnung untergraben. Die Adelsherrschaft ist nicht mehr der naturgemäße Ausdruck der bestehenden Verhältnisse, die Interessen der Regierenden und der Regierten decken sich nicht mehr. Die alte Ordnung des Lebens, des Rechts, der Blutsverbände wird sinnlos und zur hemmenden Fessel, der Einzelne bleibt nicht mehr mit Notwendigkeit in dem Kreise, in dem er geboren ist. Jeder gestaltet sich sein Schicksal selbst, das Individuum emanzipiert sich sozial, geistig, politisch; wem in der Heimat das Glück nicht blüht, der sucht es in der Fremde. Geldgeschäfte und Zinsnehmen gelten als unsittlich, ihre verhängnisvolle Wirkung empfindet jeder, aber entbehren kann sie niemand, und den Gewinn, den sie bringen, verschmäht auch der konservativste Adlige nicht. Χρήματα, χρήματ᾽ ἀνήρ, »das Vermögen macht den Mann«, ist das Schlagwort der Zeit – es ist sehr bezeichnend, daß es einem Spartaner (Alkäos fr. 101 Diehl) oder Argiver (Pindar Isthm. 2, 15) in den Mund gelegt wird. Zwischen den Adel und die Bauernschaft treten die neuen Stände der Gewerbetreibenden und der Kaufleute mit ihrem Anhang von Handwerkern, Krämern, Schiffern, und zwischen ihnen steht der Abenteurer, der wie Archilochos von Thasos überall vergeblich sein Glück versucht und nun die Last der Armut und der Abhängigkeit doppelt empfindet. Die Städte wachsen, die Bauern ziehen hinein, um hier ihr Brot besser zu verdienen als draußen auf dem Lande, Fremde, die in der Heimat kein Glück hatten oder in den Parteikämpfen fliehen mußten, lassen sich in ihnen nieder. Sie alle bekämpfen das Adelsregiment. Die Landbevölkerung strebt nach Befreiung von dem unerträglichen ökonomischen Druck, die reichgewordenen Bürger nach Teilnahme am Regiment, die Nachkommen der Zugewanderten, welche an Zahl die Altbürger oft überragen mögen, nach Gleichberechtigung mit der erbgesessenen Bürgerschaft. Alle diese Elemente werden unter dem Namen des »Demos« zusammengefaßt, wie zur Zeit der Französischen Revolution unter dem des »tiers état«. Sowenig wie dieser bildet der [510] griechische »Demos« seiner Lebensstellung und seinen politischen und sozialen Zielen nach eine Einheit; nur der Gegensatz gegen die »Besten« hält die verschiedenartigen Bestandteile zusammen.

Doch auch von innen heraus wird die Adelsherrschaft an ihren Wurzeln untergraben. Im Stadtstaat hat der Adel seine volle Macht entwickelt; seit der Absorption des Königtums herrscht er unumschränkt. Aber zu noch größerer Macht erhebt sich über ihm die Idee des Staats. Die Übersiedlung des Adligen in die Stadt raubt ihm einen Teil der unabhängigen Existenz, in der er völlig auf sich selber ruhte. Die Durchführung des Stadtfriedens, die Entwicklung des Rechtslebens, die Ausbildung des Beamtentums, die fortwährende Erweiterung der staatlichen Funktionen sind ebenso viele Beschränkungen der ungebundenen Freiheit des Einzelnen. Dazu kommt, daß der Adel mit dem Sturz des Königtums den Rückhalt an einer über den Parteien stehenden souveränen Gewalt verloren hat. So ohnmächtig die Volksversammlung zunächst ist, sie ist doch die letzte Instanz im Staate und jetzt die alleinige Trägerin der Souveränität. Der Hader der Faktionen, welcher jede Aristokratie zerreißt, öffnet ihr die Bahn, an ihre Entscheidung wird appelliert. Die materielle Erstarkung des Bürgertums seit dem 7. Jahrhundert emanzipiert es auch politisch von der Übermacht des Adels. Dazu kommt das Mißregiment, in welches die Aristokratie nur zu leicht ausartet, die Ausbeutung der Privilegien im eigenen Interesse, die parteiische Rechtspflege, die rücksichtslose Verfolgung des eigenen Vorteils. Gerade in den Staaten, welche im kommerziellen Leben zurücktreten, kommen diese Tendenzen am energischsten zum Ausdruck; hier fehlt die Übermacht, welche das große Vermögen dem reichen Kaufherrn gewährt. An Versuchen, die alte Stellung zu behaupten, fehlt es nicht; aber vielfach hat offenbar der bessere Teil des Adels die Entwicklung unterstützt. Je mehr in ihm das stolze Selbstgefühl der heimatlichen Gemeinde sich verkörperte, desto mehr mußte er streben, sie in die neuen Bahnen hinüberzuleiten, die ihr einen ganz anderen Aufschwung versprachen. Daß die alten Zustände unhaltbar geworden waren, empfand er, auch wenn er es nicht klar erkannte; er konnte nur gewinnen, wenn er sich an die Spitze der [511] neuen Bewegung stellte. So erhebt sich immer mächtiger die Idee der bürgerlichen Ordnung, welche die Privilegien des Adels und seine gesonderte Lebensführung beschränkt und die Gleichheit aller vor dem Gesetz fordert. Die Verschiebung der militärischen Organisation (u. S. 513) vollendet diese Entwicklung. Einst hatte die Masse der adligen »Könige« das gottentsprossene Königtum absorbiert. Jetzt entwickelt sich aus den Grundlagen des Adelsstaats der allumfassende Begriff des Bürgertums (ἀστοί, später πολῖται), dem der privilegierte Stand unterliegt.

So beginnt im 7. Jahrhundert überall in Griechenland die Zeit der Ständekämpfe. Weithin macht sich eine tiefe Unzufriedenheit mit dem Bestehenden geltend. Zwischen den alten Anschauungen, wie sie das Epos bewahrt, und dem modernen Leben öffnet sich eine weite Kluft. Die Anhänger des Alten klagen, daß die schlichte Zucht, die ritterliche Art der »Edlen und Tüchtigen« nichts mehr gelte, daß der verarmte Adlige sein Ansehen verliert, während der reiche Emporkömmling zu Einfluß gelangt, auch wenn er krumme Wege wandelt und Unrecht und Bedrückung übt. Dem gegenüber stehen die Ansprüche des Demos. Sein Streben geht zunächst weniger auf eine radikale Umwälzung des Bestehenden als auf Beseitigung der drückendsten Mißstände und Erweiterung der Privilegien, auf einen Ausgleich der Stände; auch die »Schlechten« wollen das volle Bürgerrecht gewinnen und zu »Guten« werden (Theognis 57). Der griechische Staat behält daher immer einen aristokratischen Charakter. Das neue Idealbild des Bürgers entlehnt seine wesentlichen Züge dem alten Staatsgedanken: Waffendienst und Teilnahme am Staatsleben sind nicht nur ein Recht, sondern vor allem eine Pflicht, sie sind der eigentliche Beruf wie früher des Adligen so jetzt jedes Vollbürgers.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 503-512.
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