Schluß

[767] Jahrhundertelang hat die griechische Nation sich ungehindert entfalten können. Ununterbrochen wächst das Gebiet, das sie besetzt, immer zahlreicher werden die Kolonien, die sie entsendet; alle Küsten des Mittelmeers sucht sie in ihren Bereich zu ziehen. Stets freier und mannigfacher gestaltet sich während dessen das politische Leben, in dem die ungehinderte Zersplitterung nur um so mehr frische Kräfte weckt, immer reicher und selbständiger wird die griechische Kultur. Da erstehen ihr um die Mitte des 6. Jahrhunderts zu beiden Seiten mächtige Gegner; der Orient, der sich dem Vordringen der Griechen gegenüber so lange passiv [767] verhalten hatte, greift jetzt aktiv in ihre Schicksale ein. Im Westen entsteht die geschlossene karthagische Macht, eng verbündet mit den in Italien vordringenden Etruskern, im Osten das Perserreich, das den ganzen Orient zu einem Weltreich vereinigt. Rasch mehren sich mit den Berührungspunkten die Gegensätze, die Interessen verschlingen sich, das Schwergewicht der Verhältnisse treibt weiter von Verhandlung und Abwehr zum Angriff; ein gewaltiger Konflikt wird unvermeidlich. Er wird zum Kampf um die Existenz der griechischen Nation; die Frage drängt zur Entscheidung, ob sie sich inmitten der großen orientalischen Reiche und Kulturen in Ost und West selbständig in ihrer Eigenart behaupten kann. Gleichzeitig haben sich innerhalb der griechischen Welt die Verhältnisse verschoben. Die ehemals führenden Gemeinden, die Ionier, Euböa, die Chalkidier im Westen sinken von ihrer Höhe herab, auch die Isthmosstaaten und Argos können sich in ihrer alten Macht nicht behaupten. Neue, kräftig vorwärtsdringende Staaten übernehmen die Führung, Sparta, Athen, das geloisch-syrakusanische Reich. Alle drei streben, über ihre Grenzen hinaus zu größeren politischen Gestaltungen zu gelangen, Sparta in Form eines Bundes, dessen Leitung es übernimmt, der sizilische Staat durch Eroberung und Verschmelzung der kleineren Gemeinden zu einem monarchischen Einheitsstaat, Attika teils durch Einverleibung oder Unterwerfung der Nachbargebiete, teils durch Aufteilung der unterworfenen überseeischen Gebiete unter seine Bürger. Es muß sich zeigen, ob diese Staaten stark genug sind, um dem Ansturm von außen zu widerstehen und dadurch auch die führende Stellung innerhalb der Nation zu behaupten. Zugleich aber muß der Ausgang des äußeren Kampfes die Lösung bringen für die geistige Bewegung, welche die Nation ergriffen hat; von ihm hängt die Entscheidung ab, ob in der griechischen Welt eine theologisch gefärbte Kultur entstehen soll wie im Orient oder ob sich hier eine neue ganz andersartige Kultur auf dem Grunde freiester geistiger Bewegung erheben wird, wie sie die Welt bisher noch nicht gesehen hat.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3.
Lizenz:
Kategorien: