Entdeckungen der Phokäer. Adria und Spina. Tartessos. Massalia

[633] In derselben Zeit erfährt das Gebiet des griechischen Handels und der griechischen Kolonisation noch einmal eine große Erweiterung. Sie ist fast ausschließlich das Werk Phokäas. Je weniger sich das Gebiet der nördlichsten Ionierstadt durch Fruchtbarkeit auszeichnete, desto energischer hat sie sich seit dem 7. Jahrhundert dem Handel und der Schiffahrt zugewendet913. Bald hat sie die meisten der alten Kaufmannsstädte überflügelt – die weite Verbreitung ihrer Elektronprägung, die sich noch lange nach dem [633] Falle der Stadt im Kurs behauptete, legt dafür ein sprechendes Zeugnis ab. Die Phokäer sind nicht auf Verdrängung ihrer Konkurrenten aus den schon bestehenden Handelsverbindungen, sondern auf die Erschließung neuer Absatzgebiete ausgegangen. »Die Phokäer«, erzählt Herodot I 163, »haben zuerst von den Griechen weite Seefahrten unternommen; sie sind es, die das Gebiet von Adria und das Tyrsenerland und Iberien und das Land Tartessos entdeckt haben; sie führten aber ihre Fahrten mit Pentekonteren aus, nicht mit runden Kauffahrteischiffen«. Die unwirtlichen und stürmischen Küsten des Adriatischen oder Ionischen Meeres sind nur sehr langsam den Griechen erschlossen worden; die ältesten Berührungen mit den Venetern (o. S. 492) wurden wohl auf dem Landweg vermittelt. Größere Bedeutung hatte die Polandschaft. Hier lagen im Podelta die Städte Spina und Hatria (Adria)914, jene am südlichsten Poarm, diese an einem Wasserlauf zwischen Po und Etsch915. Beide Städte waren wahrscheinlich ursprünglich umbrisch (o. S. 463), aber jetzt vielleicht schon von den Etruskern besetzt, die durch einen Kanal Adria mit dem Po verbanden und gegen die Überschwemmungsfluten sicherten (Plin. III 120). Allerdings betrachtet Hellanikos (um 400) Adria offenbar nicht als etruskische Stadt, wenn er die Pelasger aus Thessalien nach dem Fluß von Spina ziehen und dann nach Cortona hinübergehen und »von hier aus das jetzt Etrurien genannte Land besiedeln läßt« (Dion. Hal. I 28). Seit dem 6. Jahrhundert treten beide Städte in regen, zunächst durch Phokäa vermittelten Verkehr mit der griechischen Welt. Spina sendet Weihgeschenke nach Delphi und erbaut hier ein eigenes Schatzhaus916; in den Gräbern von [634] Adria finden sich etwa seit der Mitte des Jahrhunderts vereinzelt attische Vasen. Nach Adria benennen die Griechen die ganze Landschaft mit Einschluß des Venetergebiets (ὁ Ἀδρίης, Herod. IV 33. V 9)917 und dann auch das Ionische Meer. Auch nach Norden über die Alpen erstreckten sich die Handelsverbindungen der beiden Städte. Sie wurden ein Endpunkt des bis an die Ostsee reichenden Tauschhandels, der den Bernstein an die Küsten des Mittelmeers brachte; in dem Fluß von Spina (o. S. 465,2) erkannten die Griechen daher den Eridanos, den Bernsteinfluß der Phaethon-und Argonautensage918.

Weit folgenreicher noch war die Erschließung des Westmeers. Sie gibt uns Anlaß, auf die Verhältnisse des westlichen Europas, das jetzt langsam in das historische Leben eingeführt wird, einen Blick zu werfen919.

Das Bergland des oberen Apennin und der Seealpen westlich von den Etruskern war, wie früher schon erwähnt wurde (o. S. 455), die Heimat der Ligurer; noch jenseits der Rhone, im heutigen Languedoc, saßen ligurische Stämme, so die Elisyker920. Hier berührten [635] sie sich mit den baskischen oder spanischen Stämmen, deren Gebiet sich ehemals weit ins südliche Frankreich bis an die Garonne und die Cevennen ausdehnte. Daher schwanken hier die alten Berichte; manche rechnen das Land bis zur Rhone zu Iberien, andere dehnen die Ligurer bis an die Pyrenäen aus921. Am korrektesten wird die Auffassung sein, welche um die Mitte des 4. Jahrhunderts der »Periplus« des Skylax gibt, daß zwischen Pyrenäen und Rhone Iberer und Ligurer vermischt wohnen. Daß die zahlreichen baskischen Völkerschaften der Pyrenäenhalbinsel ethnographisch und sprachlich eine Einheit bildeten, haben die Griechen erst allmählich erkannt922. Zunächst faßten sie lediglich die Stämme der Ostküste etwa vom Cap de la Nao nordwärts unter dem Namen der »Ebrostämme« (Iberer) zusammen. Erst später wird dieser Name auf die Völker im Süden und Westen der Halbinsel übertragen, nachweisbar zuerst von Herodoros von Heraklea (gegen 400 v. Chr.), der in seinem Werk über die Züge des Herakles die Stämme Südspaniens bestimmt als Zweige einer einzigen Nation, des Ἰβηρικὸν γένος, bezeichnete923. In Südspanien [636] saßen zwei große Völker, im Gebiet der Sierra Nevada und weiter an der Ostküste bis etwa zum Segura hin [vgl. Bd. II 2, 104] die Mastiener oder Massiener (Bd. II 2, 95), in der Guadalquivirebene die Tartessier924 (Bd. II 2, 96). Dazu kommen kleinere Küstenstämme, wie die Igleten (zwischen Guadiana und Guadalquivir), Cilbicener und Selbyssiner (etwa zwischen Cadix und Gibraltar). Westlich vom Guadiana in Algarve wohnten die Kyneten925; die Stämme Portugals und des inneren Spaniens werden [637] von der ältesten Geographie unter dem Namen der Kempser zusammengefaßt926.

Zwischen diese Stämme haben sich von Norden her die Kelten eingeschoben. Ihre Heimat werden wir in dem Gebiet zu beiden Seiten des Rheins zu suchen haben. Ihre Ausbreitung über den Westen Europas dürfte erst etwa ins 6. Jahrhundert fallen. Damals scheinen sie die Ligurer von den Küsten des Kanals verdrängt zu haben (Bd. I, 810. 812. 886) und sind dann von hier nach den britischen Inseln hinübergegangen, die schon beim Beginn der Geschichte ihre keltischen Namen tragen (Avien 111f.). Aber ans Mittelmeer das Rhonetal abwärts sind sie erst seit etwa 400 v. Chr. vorgedrungen; noch Ephoros und Skylax kennen sie hier nicht. Beträchtlich früher ist ein großer Keltenschwarm nach Südwesten über die Pyrenäen gezogen und hat jenseits des Ebro den ganzen Rand des kastilischen Hochlands, das Quellgebiet des Douro und Tajo, besetzt. Mit der Heimat haben diese »Kelten in Spanien« (Keltiberer) alle Verbindung verloren. Dagegen sind einzelne ihrer Stämme bis an den Ozean vorgedrungen, sowohl an die Nordwestspitze Spaniens, wie den Guadiana abwärts, wo sie sich zwischen Kyneten und Tartessier einschoben. Hier kennt sie um 430 Herodot als ein Volk des fernsten Westens, jenseits der Säulen des Herakles; er denkt sich bei ihnen, bei der Stadt Pyrene, die Donau entspringen (II 33. IV 49). Das ist die erste sichere Erwähnung der Kelten in der Geschichte. Sie können damals erst kurze Zeit hier gesessen haben, denn noch mehrere Dezennien später erwähnen andere griechische Berichte die Kelten an der Küste nicht. Immerhin aber wird man ihr erstes Auftreten im Zentrum der spanischen Halbinsel spätestens ins 6. Jahrhundert setzen müssen927.

[638] Bereits früher (Bd. II 2, 90.) ist von dem Erscheinen der Phöniker an der Straße von Gibraltar und von der Handelsblüte von Tartessos ausführlich die Rede gewesen. Von den Griechen soll zuerst der Samier Kolaios nach Tartessos gelangt sein (o. S. 492). Dann folgten gegen Ende des 7. Jahrhunderts die phokäischen Kaufleute. Sie fanden die beste Aufnahme; den Tartessiern mußten die Konkurrenten der Phöniker natürlich willkommen sein. Vielleicht sind einige der späteren massaliotischen Ansiedlungen in Spanien schon von Phokäa gegründet, so Mainake an der Mastienerküste, die Vorgängerin Malakas928. Hier haben sich Tartessier und Griechen nebeneinander niedergelassen, die Phokäer auf dem Festlande, jene auf einer Insel vor dem Hafen. Auch noch weiter nach Osten bis zur Stadt Herna in der Nähe des Cap de la Nao (terminus Tartessiorum, Avien 463) haben die Tartessier Ansiedlungen gegründet (Avien 421). Die Phokäer zogen aus dem tartessischen Handel reichen Gewinn – die Mauer ihrer Heimat soll aus einem Ge schenk des Königs von Tartessos erbaut sein – und erzählten daheim Wunderdinge von dem reichen Lande; schon Anakreon kennt seinen König Arganthonios, der hundertundfünfzig Jahre lang auf dem Thron saß929. Der Eindruck der Kunde von den Entdeckungen war ein gewaltiger: man glaubte das Ende der Welt erreicht zu haben, den die Erde umschließenden Strom Okeanos, von dem Sage und Dichtung erzählten. »Über Gadeira nach Westen führt keine Straße hinaus«, sagt noch Pindar (Nem. 4, 112). In einer kleinen Insel bei Gades [639] erkannte man das Eiland Erytheia930, von dem Herakles die Rinder des Geryones raubte, drüben auf der afrikanischen Küste liegt der Garten der Hesperiden, dort trägt Atlas den Himmel, draußen im Ozean sind die Inseln der Seligen. Die Felsen, welche die Meerenge einschließen, das »Tor von Gades« (Pindar fr. 256 bei Strabo III 5, 5), hat Herakles errichtet als Grenzpfähle der Erde.

Wie Tartessos sind alle Küsten des »sardischen« Meeres – in diesem Namen spricht sich die zentrale Stellung aus, welche Sardinien als Verbindungsglied für die Fahrten im Westmeer einnahm – durch die Phokäer erschlossen worden. Mit den Etruskern, den Ligurern, dem Ebrogebiet knüpften sie Beziehungen an; Sardinien und Korsika, auf dem sie um 565 in der Mitte der Ostküste die Stadt Alalia gründeten (Herod. I 165), sind durch sie in den Gesichtskreis der Ionier getreten931. Am wichtigsten aber wurde die Kolonie Massalia, welche sie um 600 v. Chr. an der Ligurerküste auf einer Landzunge mit vortrefflichem Hafen wenige Meilen östlich von der Rhonemündung gründeten932. Die Eingeborenen, der ligurische Stamm der Salyer (Salluvier), nahmen auch hier die Fremden freundlich auf: nach der Legende erwählte sich die Tochter des Landeskönigs Nanos den gelandeten phokäischen Gast zum Gemahl. Massalia ist rasch aufgeblüht und war, nachdem es Zuzug vom Mutterlande erhalten hatte (u. S. 655), imstande, zahlreiche Kolonien im Ligurerland und an der spanischen Küste zu gründen933. Folgenreicher noch war die Eröffnung[640] des Handelswegs längs der Rhone ins Innere des Kontinents. Massalia ist einer der Endpunkte des Bernsteinhandels geworden; auch die Rhone hat man daher wie den Po für den Eridanos gehalten.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 41965, Bd. 3, S. 633-641.
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