Das Zauberwesen

[93] 48. Das Wissen um die in der Außenwelt wirkenden Mächte und die Riten, durch die sie dem menschlichen Willen und seinen Zwecken dienstbar gemacht werden können, ist nur den wenigen gegeben, die durch eine innere Intuition diese Dinge zu erfassen vermögen. Zum Teil sind es wirklich Grübler, in denen der Trieb zum Nachdenken über die Welt und ihre inneren Zusammenhänge früh erwacht ist; zum Teil Besessene, Visionäre und Verrückte, deren unberechenbares und allem menschlichen Tun widersprechendes Verhalten, deren halb sinnlose, halb tiefsinnige Aussprüche als geheimnisvolle Weisheit und Offenbarung der Geister erscheinen; zu nicht geringem Teil kluge Leute, die aus der Unwissenheit und dem Aberglauben der andern ein Gewerbe machen. Sie stehen in unmittelbarer Verbindung mit der Geisterwelt: die Geister erscheinen ihnen sichtbar oder raunen ihnen zu, und sie besitzen die Kraft, die Geister in ihren Dienst zu zwingen. Auch mag ein Geist in ihren Körper fahren, ihrem inneren Blick die Geheimnisse enthüllen [93] und aus ihnen reden. So können sie die Winke deuten, welche in Träumen und äußeren Vorzeichen die Geister den Menschen geben; sie können Orakel und Weisungen für die Zukunft erteilen, sie kennen die Mittel, durch die die Geister gebannt und gezwungen werden, dem Menschen zu Willen zu sein, ihm reiche Jagd, Fruchtbarkeit seiner Herden oder seiner Felder, Beendigung der Dürre und nährenden Regen, Besiegung der Feinde, Bekämpfung von Krankheiten, Abwehr des Todes zu verschaffen. Sie wissen auch über Dinge Auskunft zu geben, welche dem Auge der gewöhnlichen Sterblichen verborgen sind (§ 16): wer ein Schmuckstück oder ein Haustier gestohlen, wer durch Zauber, durch Verbindung mit Geistern einem Stammgenossen oder gar dem Häuptling Krankheit und Tod gesendet, wer dem Stamm Unheil und Niederlage gebracht hat, aber auch, was der wahre Tatbestand ist in einem Rechtsstreit und was das richtige Recht, das der Entscheidung zu Grunde gelegt werden muß. So kann keine vom mythischen Denken beherrschte Gemeinschaft und kein Einzelner dieser Mittelspersonen entbehren: in den mannigfachsten Formen treffen wir sie bei allen Völkern, als Zauberer, Medizinmänner, Fetischpriester, Seher, Propheten, Orakelverkünder – wir wollen sie unter dem Terminus Zauberer zusammenfassen –, teils Männer, teils Frauen, teils von der Gesamtheit des Verbandes anerkannt und oft mit Ehren, Geschenken und Besitz überhäuft, teils auf eigene Hand ihren Beruf ausübend, und daher von der Menge scheel angesehen und nicht selten verfolgt, oft gerade von denen, die in der Not am ersten bei ihnen Hilfe suchen. Sie bilden das erste Sondergewerbe, den ersten Berufsstand, den die Menschheit kennt, eben weil für die Ausübung ihrer Tätigkeit eine besondere Veranlagung und ein erworbenes Wissen die unentbehrliche Voraussetzung bildet (§ 32). Freilich ist es ein gefährlicher Beruf, den sie üben; denn weil sie im Besitz des Wissens sind, müssen sie auch leisten können, was man von ihnen verlangt, und wenn sie das nicht tun, wenn ihre Voraussagen nicht eintreffen oder ihre Zaubermittel nicht zum Ziele führen, ist ihr böser[94] Wille daran schuld und sie fallen der gerechten Strafe anheim. Dem steht der reiche Gewinn und die gewaltige Macht über die Menschen gegenüber, die der Beruf verheißt, und bei manchen unzweifelhaft ein innerer Trieb, ein aus der Eigenart des Individuums erwachsener Zwang, diesen Beruf zu ergreifen. In der Regel ist der Beruf erblich; aber neben den eigenen Söhnen finden die Zauberer andere, die sich ihnen anschließen und bei ihnen in die Lehre gehen, darunter nicht selten vertraute, für den Beruf geschickte Knechte, die ihre Erben werden. Sie sind im Besitz einer festen Tradition, die sie weitergeben und vermehren und die die Summe alles Wissens enthält, das der Stamm in seiner Entwicklung erworben hat. Darin besteht die kulturelle Bedeutung dieses Elements. Es übt, materiell wie geistig, einen furchtbaren Druck aus auf den Stamm und auf jede ihm zugehörige Persönlichkeit, und hemmt jede freie Entwicklung, da diese notwendig zu einem Bruch mit den alten Traditionen und den dominierenden mythischen Anschauungen führen muß; aber es umschließt und bewahrt auch alles, was ein primitiver Stamm von geistigem Leben besitzt. Die Anfänge des menschlichen Nachdenkens, so unbeholfen seine Äußerungen sind, werden in diesen Kreisen entwickelt und gepflegt, die ersten stammelnden Versuche, von den Einzelerscheinungen zu einem zusammenfassenden Weltbilde zu gelangen, und ebenso die Anfänge derjenigen Errungenschaften, durch welche die materiellen und sozialen Zustände der Menschen zur Kultur gesteigert werden, der Heilkunst und anderer nützlicher Künste, des Rechts und der Sitte – freilich immer gehemmt und in Banden gehalten durch die Wucht der traditionellen Vorstellungen, in denen die Zauberer leben und auf denen ihre Machtstellung beruht.


Auf die Einzelgestaltung der mythischen Vorstellungen und des Zaubers einzugehen, würde weit über die uns gestellte Aufgabe hinausgehen. Nur vor dem weitverbreiteten Fehlschluß sei gewarnt, als müsse ein Vorgang, der als magisch, als Wirkung eines Geistes gefaßt werden kann, darum auch immer, wo er vorkommt, als solcher gefaßt werden. [95] Vielmehr hat die unbefangene Auffassung, welche sich entweder um die Frage nach Ursache und Wirkung überhaupt nicht kümmert oder diese lediglich in den handelnden Menschen sucht oder einen äußeren Vorgang als gegeben und selbstverständlich hinnimmt, daneben immer einen sehr weiten Spielraum. Wenn z.B. das Mahl als magische, durch die Kraft des Bluts hergestellte Kommunion zwischen den Speisenden und der Gottheit, und ebenso der Geschlechtsakt oft genug als magische oder selbst als sakrale Handlung aufgefaßt und daher eventuell als solche gefordert wird, als Wirkung einer in den Menschen eingedrungenen dämonischen, schöpferischen Kraft, so folgt daraus durchaus nicht, daß nun im realen Leben jede Mahlzeit oder jeder Beischlaf so betrachtet worden wäre. [An diesem Grundfehler krankt auch der sonst viele richtige Bemerkungen enthaltende Aufsatz von BETHE über die dorische Knabenliebe, Rhein. Mus. 62, 438ff. Die Homosexualität ist bei Menschen und Tieren überall verbreitet; die von BETHE arg überschätzten magischen Vorstellungen, die damit etwa verbunden sein mögen, sind durchaus sekundär, nicht etwa die Wurzel des Vorgangs.] Ebenso können durchweg ganz entgegengesetzte Auffassungen desselben Vorgangs nebeneinander bestehen, z.B. neben der sakralen Auffassung des Geschlechtsakts die Auffassung als Befleckung, die eine Reinigung erfordert, um wieder mit heiligen Dingen in Berührung zu treten. Es ist verkehrt, in solchen Fällen nach einer höheren einheitlichen Idee zu suchen.


49. In dem Umfang des Einflusses, den das Zauberwesen gewinnt, unterscheiden sich nicht nur die Völker, sondern oft innerhalb derselben die einzelnen Stämme sehr stark voneinander. Ganz fehlen die Zauberer nirgends, wie sie denn mit dem mythischen Denken notwendig gegeben sind. Aber wie die Gebilde dieses mythischen Denkens trotz aller Übereinstimmung in den Grundzügen doch in ihrer Einzelgestaltung außerordentlich verschieden sind und wie darin die Naturanlage der einzelnen Stämme zu Tage tritt, so verhält es sich auch mit der Machtstellung der Zauberer. Sehr viele Stämme sind völlig ihrer Herrschaft anheimgefallen; und damit ist ihnen, mögen sie sonst noch so gut veranlagt, noch so männlich und selbstbewußt sein (wie manche Indianerstämme und auch manche afrikanische Stämme), hoffnungslos jede Aussicht auf Erreichung einer höheren Kulturstufe, jede Möglichkeit eines Fortschritts abgeschnitten, es sei denn, daß es einer von außen hereingetragenen höherstehenden [96] Kultur gelingen sollte, den Bann nicht nur äußerlich, sondern auch im inneren Bewußtsein zu brechen. Andere Stämme dagegen vermögen den geistigen Druck des Zaubererstandes nicht zu ertragen; so wahrt sich die Gemeinde, wahren sich vor allem die Häuptlinge, die Ältesten und Geschlechtshäupter die Selbständigkeit und Freiheit der Entschließung. Hier wendet man sich an die Zauberer nur in Notfällen oder weist ihnen bestimmte festbegrenzte Wirkungskreise zu (z.B. die Deutung und Sühnung anerkannter Vorzeichen, wie der Vogelzeichen oder auch der Opferzeichen, und die Hilfe in schweren Notlagen, wo es sich um die Existenz des ganzen Stammes handelt), während man bei allen gewöhnlichen Vorkommnissen auf die eigene Kraft vertraut und der Hilfe der Geister nicht bedarf. Hier behauptet dann auch die staatliche Macht ihre volle Autorität, und die Ratschläge der Zauberer sind lediglich Gutachten, die man befolgen kann oder auch nicht; die Verwendung ihrer Mittel zu privaten Zwecken wird nach Kräften unterdrückt und von der Sitte geringschätzig geachtet. Hier kann bei den Zauberern, Sehern, Propheten das magische Wesen so sehr in den Hintergrund treten, daß sie uns fast ausschließlich als Pfleger einer primitiven Kultur und Bewahrer der höchsten Ideen eines Volkes erscheinen und zu ehrwürdigen Gestalten werden. Bei solchen Stämmen ist eine freie Entwicklung, ein geistiger Fortschritt möglich, der auf die Höhen der Kultur führt. Es liegt gar kein Grund für die weitverbreitete Annahme vor, daß diese Völker, die zu Kulturvölkern erwachsen sind, in ihrer Vorzeit jemals auf der Kulturstufe der Nordamerikaner oder der Neger (oder gar auf der der Mexikaner) gestanden haben müßten, mögen sich bei ihnen auch noch so viele Rudimente mythischer Vorstellungen und Einrichtungen finden, die den Zuständen dieser Stämme völlig gleichartig sind. Denn das entscheidende wäre der Nachweis, daß diese Zustände und Anschauungen allmächtig und alleinherrschend gewesen wären; und dieser Nachweis ist nicht nur nicht zu führen, sondern die Entwicklung, die bei ihnen eingetreten [97] ist, beweist das Gegenteil: sie zeigt, daß neben den Momenten, welche jene anderen Völker dauernd auf einem bestimmten, barbarischen Stadium der Entwicklung festgehalten haben, in diesen späteren Kulturvölkern von Anfang an, soweit wir hinaufzusehen vermögen, andere Momente enthalten waren, welche das Vorwärtsschreiten möglich machten. Wohl aber zeigt sich (davon wird § 66ff. noch weiter zu reden sein), daß gerade in den Anfängen eines Kulturfortschritts die im Zauberwesen beschlossenen Mächte und Vorstellungen steigende Bedeutung gewinnen können – so ist, um hier nur Beispiele aus weit fortgeschrittenen Entwicklungsstadien anzuführen, bei den Israeliten die wenigstens in der Theorie allmächtige Stellung des lewitischen Priesters weit jünger als die sehr bescheidene und dienende der alten Priester und Seher, und bei den Griechen ist die Opferschau und die dadurch gesteigerte Bedeutung des μάντις und vollends das Orakelwesen erst in nachhomerischer Zeit aufgekommen –; dann kommt es darauf an, ob sie zu dominierender Stellung gelangen wie bei den Mexikanern, und dann die vollendete Barbarei erzeugen, oder ob sie überwunden werden, wie bei den Kulturvölkern.


Die in neuester Zeit aufgekommene Richtung, welche in der Religion der Mexikaner und ähnlicher Völker einen Schlüssel für das Verständnis primitiver Religion und der Religionsentwicklung der Völker des Altertums sucht, kann ich nur als einen unheilvollen Mißgriff betrachten, der z.B. auch auf BETHES Arbeit über die dorische Knabenliebe (§ 48 A.) auf S. 461ff. sehr verhängnisvoll eingewirkt hat: solche Anschauungen sind extreme Verirrungen des mythischen Denkens, die in die wildeste Barbarei hineingeführt haben, nicht naturnotwendige und ursprüngliche Vorstellungen. In dieser Richtung wird überhaupt gegenwärtig von der vergleichenden Ethnologie und Religionsgeschichte mit erstaunlicher Naivität vorgegangen; wenn die wissenschaftliche Entwicklung gesund bleibt, wird die Reaktion nicht ausbleiben, und diese jetzt als sichere Ergebnisse der Wissenschaft verkündeten Lehren werden versinken wie das Matriarchat, die »vergleichende« Mythologie, die Ableitung der Religion aus Totemismus und Totenkult oder die »babylonische Weltanschauung«; man wird dann zeitweilig an ihnen sogar das verwerfen, was davon richtig ist. Sind vollends die für die mexikanischen Anschauungen und Riten gegebenen solaren und astralen Deutungen richtig, [98] was ich nicht beurteilen kann (problematisch genug erscheinen sie mir), so beweist das erst recht, daß wir es hier mit ganz jungen Gebilden zu tun haben.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 93-99.
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