Die Priesterschaft und das Ritual

[123] 63. Die Möglichkeit, mit einer Gottheit in Verbindung zu treten, ist für jedes Mitglied des sie verehrenden Verbandes vorhanden. Bei vielen Völkern ist es daher durchaus die Regel, daß der Einzelne, namentlich soweit er eine sozial selbständige Stellung einnimmt, und vor allem der Hausvater ihnen selbst Opfer darbringt und sie um Hilfe und Segen bittet. Aber allerdings gehört dazu eine genaue Kenntnis ihrer Eigenart, der Formen, in denen man ihnen nahen und sie anrufen darf, der Opfer, die sie erfordern, der Zeichen, durch die sie ihren Willen offenbaren. Die Anfänge des Rituals sind mit dem Kultus von selbst gegeben; je mehr sich mit wachsender Kultur eine feste Tradition herausbildet, je mehr man auf den Verlauf und Erfolg jedes religiösen Aktes achtet und ihn als ein Praecedens betrachtet, aus dem man erkennen kann, in welchen Formen die Gottheit verehrt sein will, desto mannigfacher und komplizierter pflegt es sich zu gestalten. Hier gewinnt dann auch das Zauberwesen, der magische Zwang, den man auf den göttlichen Geist ausüben kann, einen Tummelplatz in der Religion. Ganz fehlt es nirgends; aber bei manchen Völkern wird es in engen Schranken gehalten, weil in den religiösen Vorstellungen die Idee der Regel durchaus dominiert, der Glaube an eine feste Ordnung der Welt durch den Willen der Götter, die dem Menschen zum Segen gereicht und den göttlichen Launen ebenso Schranken setzt wie der menschlichen Willkür. Bei anderen Völkern dagegen überwuchert es die Religion und das Ritual so vollständig, daß die Götter und ihr Kult sich von den Geistern (Dämonen) und den Zauberformeln nur dadurch unterscheiden, daß sie dauernde Persönlichkeiten von bestimmter [123] Eigenart sind, deren Ritual daher auch fest geordnet ist und sich im Kultus, namentlich bei den an den Kreislauf der Naturerscheinungen und des Jahres anknüpfenden großen Festen, immer von neuem wiederholt.

64. Die Ausbildung des Rituals schafft das Bedürfnis nach Persönlichkeiten, Männern und Frauen, welche dasselbe genau kennen und seine Beobachtung und Pflege zu ihrem Lebensberuf machen. So entsteht ein Priesterstand. Der Priester berührt sich mit dem Zauberer dadurch, daß er im Besitz des Wissens sein muß, und daß seine Aktion sich auf die übersinnlichen Wesen der Geisterwelt bezieht; aber er unterscheidet sich von ihnen wie der Gott, dem er dient, vom Dämon. Er ist ein anerkanntes, dauernd mit bestimmten Aufgaben betrautes Organ des Verbandes, so wie der Gott eine von diesem anerkannte dauernde Macht ist; seine Funktionen sind fest geordnet und werden im Auftrage des Verbandes ausgeübt. Wo die Zaubervorstellungen die Religion überwuchern, fließt die Stellung der Priester und der Zauberer in einander; wo sie zurückgedrängt werden, sind beide scharf geschieden, ja oft wird das Zauberwesen als illegitim und verderbenbringend energisch verfolgt und unterdrückt (§ 49), während der Priester eine hochgeachtete Stellung innerhalb der Gemeinde einnimmt. – In jedem Priestertum liegt die Tendenz, sich zu einem abgesonderten, womöglich erblichen Stande zusammenzuschließen und innerhalb der Gemeinde die führende Stellung zu erringen. Aber ursprünglich sind sie nur Diener der Gemeinde, die von ihren Organen (vor allem dem König oder den Beamten) und ebenso von jedem Hausvater, der ein legitimes Opfer darbringen will, als Werkzeuge benutzt und dafür durch Geschenke, durch Anteil an der Opfermahlzeit u.a. belohnt werden. In solchen Fällen stehen sie den vollberechtigten Mitgliedern des Verbandes keineswegs gleich, sondern gehören zu den abhängigen Leuten, die für andere arbeiten, wie die Handwerker: bei den Israeliten z.B. gelten sie als Beisassen und haben keinen Grundbesitz. Wie weit es ihnen dann gelingt, zu einer geschlossenen, [124] erblichen Kaste zu werden, die jeden anderen von der Vollziehung sakraler Funktionen ausschließt (wie die Brahmanen bei den Indern, die Magier bei den Persern, die Kohens bei den Juden), und ihre Herrschaftsgelüste durchzusetzen, hängt von der geschichtlichen Entwicklung des Volkes ab. Bei anderen Völkern ist umgekehrt das Wissen und die Fähigkeit zum Priestertum Gemeinbesitz des herrschenden Standes oder bestimmter vornehmer Familien, die im Besitz einer altererbten religiösen Tradition sind, so bei den Aegyptern und zum Teil bei den Griechen; auch bei den Israeliten kommt ähnliches vor, wenn David seine Söhne zu Priestern macht. Das kann dann entweder dazu führen, daß sich innerhalb des Volkes eine obere Schicht bildet, die mit ihrer sozialen Stellung und ihrem weltlichen Beruf die angeborene Befähigung zur Ausübung priesterlicher Funktionen verbindet, wie in Aegypten, oder es kann auch die Entstehung eines geschlossenen Priesterstandes überhaupt unmöglich machen, so in Griechenland und Rom.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 123-125.
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