Die Welt der Phantasie. Spiel und Kunst

[167] 95. Das Gebiet der Kultur ist mit denjenigen Betätigungen seines Handelns und Denkens, durch die der Mensch zu dem Gegebenen Stellung nimmt und es seinen Zwecken dienstbar macht, noch nicht erschöpft. Daneben geht immer eine frei schaffende Tätigkeit einher, welche entweder ihre Objekte selbst erzeugt oder die ihr äußerlich gegebenen aus freiem inneren Antrieb eigenartig gestaltet: ihren Bereich bilden das Spiel und die Kunst, die Kraft, die sie schafft und ihnen die Erscheinungsform gibt, nennen wir die Phantasie. Man hat oft versucht, auch ihre Gebilde aus praktischen Anlässen abzuleiten und auf eine äußere Notwendigkeit zurückzuführen. Im Einzelfalle ist das vielfach zutreffend: gar manches Spiel ist nicht nur ein Abbild, sondern ein Rudiment einer religiösen oder politischen Handlung, die ehemals eine sehr ernsthafte Bedeutung hatte, gar manche Kunstform in Tanz, Gesang, Architektur ist aus solchen Bräuchen erwachsen, die ursprünglich eine reale Notwendigkeit in sich trugen und ein Mittel waren, die Mächte der Außenwelt zu beeinflussen und dem Menschen dienstbar zu machen. Aber der [167] Kern der Sache wird dadurch nicht getroffen. In Spiel und Kunst betätigt sich vielmehr ein angeborener Trieb des Menschen, der schon der Tierseele nicht fremd ist, aber in seiner Ausbildung ihn weit über die Tiere hinaushebt und ein ganz wesentliches Moment der Individualität ausmacht: der Trieb, sein innerstes Wesen in freier Schöpfungskraft zu betätigen, sich neben der realen Welt, an die er gebunden ist, aus eigener Kraft eine zweite Welt zu schaffen, in der er frei schalten kann. Die reale Welt gibt für diese schöpferische Tätigkeit das Vorbild; ihr Wesen ist die Nachahmung, und darauf beruht das Gesetz, die innere Notwendigkeit, welche auch die Gestalten der Phantasie beherrscht und ihnen die innere Form verleiht. Die mechanische Tätigkeit versucht diese innere Form zum Ausdruck zu bringen; wie weit das gelingt, hängt einerseits von der Entwicklung der Technik, der äußeren Mittel, andrerseits von der individuellen Gestaltungskraft des ausübenden Künstlers ab. Daher unterstehen alle Schöpfungen der Phantasie einer festen Regel, das Spiel so gut wie der Tanz oder das Lied oder ein Bau oder eine Zeichnung. Mit dem Moment, wo sie geschaffen werden, zunächst im Innern des Menschen, dann in der Darstellung des von der Phantasie Geschauten in der Materie, treten sie in die reale Welt ein und gewinnen dadurch ein selbständiges Dasein. Sie treten dem Schaffenden als Wesen mit eigenem Leben entgegen und zwingen ihn unter ihre Gesetze: aber dabei bleiben sie doch seine Geschöpfe, von seiner Willkür abhängig, und jederzeit kann er ihrem Dasein ein Ende machen, sie in ihr Nichts zurückwerfen, oder auch ihr inneres Gesetz durch einen Willkürakt durchbrechen. Aber dann wird sein Erzeugnis eine Mißgeburt, die keine Daseinsberechtigung, keine innere Wahrheit mehr besitzt, weil ihr die Grundbedingung der Nachahmung, die Übereinstimmung mit den Gesetzen des Wirklichen fehlt. Diese Gesetze sind freilich nicht die, welche in buntem Durcheinander die reale Welt tatsächlich beherrschen, sondern diejenigen, welche die Phantasie unter dem Einfluß der jeweiligen Weltanschauung [168] erschaut, nicht die Welt, wie sie ist, sondern wie sie der Idee nach sein soll: ihr Gesetz, die Übereinstimmung mit der idealen Wirklichkeit ist das Gesetz der Schönheit.

96. Wenn der Mensch einen Steinkrug, ein Gefäß von Ton oder Erz bildet, so wird seine Gestalt zunächst von den praktischen Zwecken, denen es dienen soll, und von den durch die Technik gegebenen materiellen Bedingungen bestimmt. Aber eben daraus erwächst die innere Form des Topfes, eine ideale Gestalt, die all diesen Anforderungen genügt, und die der Bildner mehr oder minder vollkommen zu verwirklichen sucht. Aber zugleich reizt diese schöpferische Tätigkeit die Phantasie zur Betätigung. Sie mag die verschiedene Färbung, welche der Ton durch das Brennen erhält, zur Erzeugung lebhafter Farben oder eines Farbenspiels verwenden, sie mag diese Technik vielleicht benutzen, um ein buntes Steingefäß in Ton nachzuahmen. Oder sie mag die großen kahlen Flächen benutzen, um Zeichnungen darauf einzuritzen oder mit Farbe darauf zu malen, vielleicht beliebige Striche, Kreuze, Reihen von Dreiecken oder Vierecken, oder Zeichnungen von Bäumen, Tieren, Menschen, die mit dem Topf in gar keiner Beziehung stehen: da ist er ihm nur ein Objekt wie eine Felswand oder ein Knochenstück, das er zu spielender Betätigung seines Gestaltungstriebes benutzt. Aber meist führt; die Idee des Kunstwerks die Phantasie in bestimmte Bahnen; die Gestalt des Gefäßes gibt den Anlaß, statt willkürlicher Striche vielmehr Kreise und Wellenlinien zu zeichnen, welche seiner Rundung folgen, die Dreiecke ihr entsprechend anzuordnen, die Fläche nach Mustern zu gliedern. Zugleich wirkt die Analogie anderer ähnlicher Gebilde ein, Kürbisflaschen geflochtener Körbe und Matten; ihre Gestalt sucht man an dem Gefäß nachzubilden. Aber der Topf erinnert auch an Wesen der Sinnenwelt: er hat einen Hals, einen Bauch, vielleicht auch einen Fuß, einen Ausguß, der dem Mund, einen Deckel, der dem Kopf, Henkel, die den Armen entsprechen: so läßt man in der Ornamentik diese Gliederung scharf hervortreten und verstärkt dadurch die [169] Analogie, man bildet in den Ornamenten den Schmuck nach, mit dem die Frauen sich behängen, man gibt dem Krug vielleicht Brüste und ein Geschlechtsglied, Augen und Ohren, oder man bildet ihn in Gestalt eines Tieres. Alle diese Momente wirken in der primitiven Ornamentik zusammen und erzeugen die bunte Formenfülle, die uns bei allen Völkern in den älteren Fundschichten entgegentritt. Bald diese, bald jene Idee bemächtigt sich der Phantasie, und wird bis ins Extrem verfolgt: so entstehen die vielen bizarren Gebilde, welche diese Kunst charakterisieren und bei denen oft der praktische Zweck des Gefäßes vollständig aus den Augen verloren und (z.B. bei seltsamen Verkoppelungen u.a.) geradezu geschädigt wird. Aber der Topf bleibt immer ein Topf, und seiner inneren Form entspricht immer nur ein Gebilde, bei dem seine Idee die dominierende Stellung behauptet und das Ornament und die Analogie mit anderen Objekten ihr untergeordnet bleibt. Wo dieser Gesichtspunkt festgehalten wird, sei es nun, daß lediglich die Form des Gefäßes in vollendeter Weise geschaffen wird, ohne äußeren Schmuck, sei es, daß dieser, im geometrischen Stil oder im Pflanzenornament, die Flächen gliedert oder belebt, sei es, daß in diesen Flächen Räume ausgespart werden, die selbständige Gemälde aufnehmen können, ohne daß die innere Einheit des Ganzen dadurch gestört wird, da ist, wenn Technik und künstlerisches Vermögen den Anforderungen genügen, etwas Vollendetes geschaffen, das den Gesetzen der Schönheit entspricht. Bei einem Volk, das diese Stufe erreicht hat, wie bei den Aegyptern und den Griechen, ist der künstlerische Sinn erwacht und zu einer selbständigen Macht geworden, welche die unschönen, weil innerlich unwahren, Schöpfungen der gestaltenden Phantasie unterdrückt und eine fortschreitende, höheren Idealen zustrebende Entwicklung ermöglicht.

97. Was hier an einem Beispiel erläutert ist (vgl. auch § 121), gilt von allen Betätigungen der Phantasie in Spiel und Kunst, vom Tanz, von der Musik, von Gesang und Dichtkunst, von der Nachahmung wirklicher Vorgänge in dramatischen [170] Darstellungen, den ernsthaften (die sich früh im Anschluß an religiöse Feste entwickeln) wie den Possen. Das Gleiche gilt auch von der Schmückung des menschlichen Körpers, sei es durch Bemalung und Tätowierung, sei es durch äußeren Schmuck, der vor allem von den Frauen seit den ältesten Zeiten getragen wird; aber auch von der Namengebung, die, so sehr sie in der weiteren Entwicklung zu einem äußerlichen Akt wird, bei dem jede innere Beziehung zwischen dem Namen und seinem Träger verschwindet, ursprünglich immer eine bedeutungsvolle Betätigung der schaffenden Phantasie ist, ferner von der Gestaltung des Stammabzeichens (Totems) und vielem anderen. Aber wenn die Phantasie spontan schafft, so wird sie doch immer durch einen außer ihrem Bereich liegenden Anlaß zur Wirksamkeit aufgerufen, sei es die Geburt eines Kindes oder seine Einführung in den Kreis der Erwachsenen, sei es die Aufgabe, ein Werkzeug oder einen Bau auszuführen, sei es ein Gottesfest, sei es das Hervorbrechen einer Stimmung des Gemüts in Tanz und Lied, sei es auch nur das Bedürfnis nach Beschäftigung im Spiel. Und was sie schafft, gewinnt dadurch nicht nur innerlich ein selbständiges Leben, das seinen eigenen Gesetzen folgt, sondern auch äußerlich ein selbständiges Dasein: von dem Moment an, wo es geschaffen ist, untersteht es zugleich den Gesetzen der Erscheinungswelt. Das gilt schon vom Spiel, oft genug mit verhängnisvollster Wirkung, noch mehr aber von den Schöpfungen der Kunst, mögen sie nun der materiellen Welt angehören, oder lediglich als geistige Mächte fortleben, wie die Dichtung oder der Name. Fortan wirken sie auf den Menschen ein wie jedes von der Natur geschaffene Wesen; er kann sie vernichten wie diese, aber bis dahin muß er mit ihnen ebenso rechnen wie mit diesen. Daher gelten alle Vorstellungen des Menschen von den Außenwesen und den in ihnen wirksamen Mächten auch für diese seine eigenen Geschöpfe. Der Name und das Lied, der Tanz und die Musik gewinnen magische Kraft und können Zauberzwecken dienen, das Stammeszeichen (Totem), die Skulptur und die Zeichnung, [171] ja gelegentlich selbst das Gefäß und die Waffe, besitzen ein selbständiges Leben; auch sie können der Sitz eines Geistes oder eines Gottes werden, dem der Mensch nur mit Scheu nahen darf. Aber auch umgekehrt gestaltet sich diese ganze Welt nach den Eingebungen der Phantasie: sie gibt den Geistern und den Göttern die Gestalt, in der sie erscheinen, sie gestaltet die Mythen aus und erhebt zufällige Gebilde zu individuellen Wesen, die dauernd im Liede oder in der dichterisch gestalteten Erzählung fortleben, sie gibt dem Zauber und dem Ritual die Form, in der sie wirken und in die Tradition eingehen. Fortwährend fließen die beiden Gebiete in einander; bald gibt die Phantasie, bald der reale Vorgang den ersten Anlaß, in der Regel wirken beide zusammen. So treten alle Schöpfungen der Phantasie in die innigste Verbindung mit dem religiösen Moment, welches Weltanschauung und Kultur beherrscht; wie sie dessen Gestaltung bestimmen, so stehen sie auch in ihren spontanen Schöpfungen unter seinem Einfluß und ordnen sich dem von ihm gebildeten System unter.

98. Auch hier kann es nicht unsere Aufgabe sein, die Entwicklung der Kunst ins einzelne zu verfolgen oder auch nur ihre Hauptformen übersichtlich vorzuführen: das würde nicht weniger bedeuten als ein vollständiges System der Ästhetik auf geschichtlicher Grundlage. In dem allgemeinen Gang der Geschichte der Literatur und der bildenden Kunst herrschen dieselben Faktoren, welche den Gang der Kulturentwicklung überhaupt bestimmen. Auch in ihnen bildet sich eine Tradition, die zur Ausbildung technischer Regeln und normativer Anschauungen führt; auch hier wird, was einmal geschaffen ist, das Vorbild und Muster, dessen Bann sich alle folgenden Generationen fügen sollen. Auch hier erhebt sich dagegen die individuelle Auffassung und der Rechtsanspruch auf freie Gestaltung, auf Verkörperung der persönlichen Anschauungen und Empfindungen; und auch hier erwächst aus diesen Tendenzen, sowie sie sich durchzusetzen beginnen, eine neue Schule und ein neuer Regelzwang, der allgemeine Anerkennung fordert und jede abweichende Bestrebung zu unterdrücken [172] sucht. Auf diesem Gegensatz und diesem Ringen, das, wenn es etwas leisten soll, jederzeit die volle Hingabe der Einzelpersönlichkeit fordert, beruht auch hier der innere Wert der Schöpfungen und der Fortschritt künstlerischer Entwicklung. Über ihnen steht nur ein Moment, die innere Form des Kunstwerks, deren Gestalt durch das Grundgesetz der inneren Wahrheit der Nachahmung, das Prinzip der Schönheit, bestimmt ist. Durch die gestaltende Tätigkeit des Künstlers soll sie sich aus der Idee, der geistigen Konzeption, in ein Gebilde der realen Welt umsetzen. Die Einzelgestaltung ist unendlich mannigfach und nicht in feste Regeln zu zwängen; aber wenn sich der Trieb der Individualität über dies Grundprinzip hinwegsetzt, hebt er die Kunst selbst, trotz aller äußeren Technik, ebenso auf, wie wenn er auf wissenschaftlichem Gebiet die Unterordnung unter die Gesetze des Denkens aufgeben und die Übereinstimmung der Erkenntnis mit den Gegenständen der wirklichen Welt als nicht erforderlich betrachten sollte.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 71965, Bd. 1/1, S. 167-173.
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