Älteste Entwicklung des Totendienstes

[122] 204. Auch die Ausbildung des Totendienstes in der Gestalt, die dann für die weiteren dreieinhalb Jahrtausende der aegyptischen Kulturgeschichte maßgebend geblieben ist, geht in ihren Wurzeln in die Zeit der Horusverehrer zurück. Wir haben die alten Formen der Totenbestattung früher (§ 170) [122] kennen gelernt. Mit ihr waren zweifellos schon bestimmte Anschauungen verbunden von dem Geisterleben im Jenseits unter der Herrschaft des »Ersten der im Westen Lebenden«, des hundegestaltigen Chonti-amentiu, so von dem schönen Gefilde Jaru, auf dem die Toten ihr irdisches Leben weiter fortsetzen, die Felder mit hundertfältiger Ernte bestellen, die Wasserstraßen befahren, auf schattigen Wegen wandeln. Daneben wirken die Seele (bai) und der Geist (ka) an der Stätte des Grabes; sie wünschen wieder in den Körper zu fahren, den Besitz der Glieder und der auseinandergefallenen Knochen wieder zu erlangen, zu essen, zu trinken und sich zu vergnügen, und auf Erden herumzuschweifen mit der Freiheit des Geistes, »Gestalten anzunehmen, welche er will«. Auch an magischen Formeln bei der Bestattung kann es nicht gefehlt haben. In gewaltig gesteigertem Maße machen sich diese Anschauungen bei dem Herrscher geltend, zumal seitdem sich so entwickelte Staaten gebildet haben, wie die der Horusverehrer. Wie der König selbst bei Lebzeiten ein Gott auf Erden ist, und zwar der Lichtgott Horus, so kann er auch nach dem Tode das Schicksal der Sterblichen nicht teilen; sondern er geht selbst zu den Göttern in den Lichthimmel ein als einer von ihnen-haben sie ihn doch gezeugt und beschirmt und werden ihn auch in Zukunft nicht verlassen. Die Himmelspforten werden ihm geöffnet, und er erscheint am Nachthimmel als ein Stern unter den Sternen, womöglich unter den »Unvergänglichen«, den Circumpolarsternen, die nie untergehen (§ 226); oder er tritt ein in die Sonnenbarke des Rê' und fährt in ihr tagtäglich über den Himmelsozean. Freilich mögen ihm in dem dunklen Reich des Todes und der Nacht Gefahren aller Art drohen von den Unholden und Gespenstern und von neidischen Göttern; und so muß er dagegen ausgerüstet werden mit Zaubermitteln aller Art, Amuletten, magischen Formeln und Riten, die ihm Gewalt über alle Götter geben. Diese Formeln knüpfen überall an die Göttermythen an und ergehen sich im übrigen in immer erneuten Ausmalungen der Geisterwelt und ihrer Geheimnisse.

[123] 205. Mit diesen Anschauungen verbindet sich die Einwirkung der Gestalt, welche inzwischen die Osirissage angenommen hat (§ 193f.). Der tote Gott von Busiris war jetzt längst zu einem mächtigen König der Urzeit geworden, von dessen wunderbaren Schicksalen nebst dem geheimnisvollen Segen, den er aus seinem Grabe spendet, man bei den Festen erzählt, an denen sie zur Darstellung gebracht werden. Wie er der Tücke des Sêth erlegen ist und in das Reich des Todes hat hinabsteigen müssen, so ergeht es auch seinem Nachfolger, dem irdischen Könige. Aber sein Sohn Horus-den er nach einer Form der Sage erst als Toter, aus dem Sarge heraus, von Isis gezeugt hat-hat seine Feinde überwältigt, mit Thouts Hilfe seiner Sache den Sieg gewonnen, seine zerstückelte Leiche zusammengesetzt und durch Zauber wieder lebendig gemacht; und jetzt herrscht Osiris, gerechtfertigt und triumphierend, nicht nur im Geisterreich-daher wird er später mit Chonti-amentiu identifiziert –, sondern wirkt auch von neuem auf Erden, wenn auch als toter Gott in Mumiengestalt; und alljährlich wird in Busiris die Säule aufgerichtet, die sein Rückgrat darstellt und der Welt und der irdischen Ordnung ewiges Bestehen verheißt. So wird es auch dem verstorbenen König ergehen, wenn man nur die an Osiris vollzogenen Bräuche und Formeln kennt und sie auf ihn anwendet; auch er wird über alle Feinde und Gefahren triumphieren und im Geisterreich ein seliges ewiges Dasein führen. So wird der tote König als »dieser Osiris« angeredet und in der Zauberformel gewissermaßen den Göttern als der wahre Osiris untergeschoben. Diese Vorstellungen mischen sich mit den vorhin besprochenen über sein Eindringen in die Sternenwelt und haben in der Folgezeit diese völlig durchdrungen. Aus ihnen sind die Zaubertexte und das Ritual entstanden, mit denen die Leiche des verstorbenen Königs behandelt wird-weil sie uns in den Pyramiden des Unas und mehrerer Könige der sechsten Dynastie erhalten sind, nennen wir sie »Pyramidentexte« –, und die dann später auch auf die gewöhnlichen Sterblichen übertragen und durch für diese passende [124] Formeln weiter ergänzt worden sind. Ob das schon zur Zeit der Horusverehrer vorgekommen ist, ist sehr fraglich; sicher dagegen, daß mindestens die ersten Ansätze dieser Texte in eine weit vor Menes liegende Zeit zurückreichen. Zu beachten ist, daß in ihrer Mythen- und Götterwelt die unteraegyptischen Anschauungen und Kulte ganz wesentlich dominieren; so wird die Einseitigkeit unserer Kunde, die sonst fast ausschließlich auf oberaegyptischen Denkmälern beruht, durch sie wenigstens einigermaßen korrigiert.


Die Pyramidentexte (entdeckt seit 1880, publiziert und übersetzt von MASPERO, Rec. III ff. = Les inscriptions des Pyramides de Sakkara, 1894; seitdem sind einzelne Abschnitte vielfach namentlich von ERMAN und SETHE behandelt, dem wir jetzt eine neue kritische Ausgabe verdanken) haben in die lange Vorgeschichte des aegyptischen Totendienstes einen Einblick gewährt und gezeigt, daß die Osirislehre keineswegs ihren Ausgangspunkt, sondern nur eine der verschiedenen Gestaltungen dieser Ideen bildet, die allmählich alle anderen und zum Teil älteren überwuchert hat. Sie ragen zum Teil in sehr alte Zeit, bis zu den Horusverehrern, hinauf (§ 198 A.), während andere weit jünger und erst unter den Memphiten entstanden sind (vgl. z.B. ERMAN, ÄZ. 29, 39). Aber die zu Grunde liegenden Anschauungen dürfen wir unbedenklich schon für die Zeit der Horusverehrer verwenden. Manche Texte, z.B. der über den gerechten Toten, ERMAN, ÄZ. 31, 75 [vgl. »nicht hat er den König geschmäht«, ebenso die Erwähnung des »Stadtgotts« des Toten] passen für einen König gar nicht, obwohl sie in Königsgräbern stehen; ein großer Teil der Kapitel dagegen ist ausschließlich für den König verfaßt; und da die Ausrüstung der Leiche mit Amuletten usw. ebenso ursprünglich nur für den König paßt (H. SCHÄFER, ÄZ. 43, 66), ist die Ansicht SETHES, gegen die ich mich lange ge sträubt habe, zweifellos richtig, daß diese Texte und die in ihnen vertretenen Anschauungen ursprünglich lediglich für den König bestimmt sind, namentlich auch seine Gleichsetzung mit dem seligen König Osiris, aber ebenso sein Erscheinen als Stern, und daß sie erst später zunächst auf die vom Herrscher begünstigten Magnaten, dann auf das übrige Volk übertragen sind. – Zur Vermengung der Osiristexte mit anderen, denen die osirianischen Anschauungen ursprünglich völlig fremd waren, vgl. z.B. ERMAN, Die Sprüche von der Himmelsgöttin, in den Aegyptiaca S. 16ff.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 122-126.
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