Die Entstehung der Schrift

[118] 202. Die zuletzt besprochenen Denkmäler zeigen den Fortschritt von einer rein dekorativen Verwendung von Figuren und Szenen aus dem Leben, wie sie mit den Gefäßmalereien der vorhistorischen Zeit begonnen hat (§ 172), zu dem Versuch, durch die bildliche Darstellung zugleich einen ganzen Hergang symbolisch festzuhalten und die Kunde von demselben dem Beschauer zu übermitteln. Das sind die letzten Vorstufen der aegyptischen Schrift; und auch diese ist, da sie zur Zeit des Menes bereits voll entwickelt ist, unter der Herrschaft der Horusverehrer erfunden worden.

Der älteste Schriftkeim liegt in den Bildern und den strichartigen Symbolen, welche wir als Abzeichen der Schiffe, als Wappen der Gaue und Ortschaften, ferner als Amulette u.a. kennen gelernt haben; auch die mannigfachen Strichzeichen, die sich zu allen Zeiten auf den Gefäßscherben finden (§ 172 A.), werden wohl Eigentumsmarken sein. Gegen Ende der vorgeschichtlichen Zeit kommt dann der Gebrauch von Siegelcylindern auf, die mit Menschen- und Tierfiguren (darunter gelegentlich auch Mischwesen), Zweigen und Strichen bedeckt sind und auf dem weichen Ton abgerollt werden, mit dem man die Wein- und Ölkrüge usw. verschließt. Symbolische Zeichen sind auch die Abzeichen, Scepter, Kronen der Götter und Könige, ja die figürliche Darstellung der Gottheit überhaupt. Denn überall ist hier der dargestellte Gegenstand zugleich die Verkörperung einer Idee; und nur in dieser Symbolik besteht seine Bedeutung. Vollends deutlich wird das, wenn dem Gott oder König die Hieroglyphe des Lebens Die Entstehung der Schrift oder andere amulettartige Zeichen in die Hand gegeben werden. Aus solchen Anfängen sind dann die besprochenen Darstellungen der Schiefertafeln erwachsen: denn sie stellen ja nichts weniger dar, als eine Abbildung eines wirklichen Vorgangs, sondern ihre Bildzeichen müssen in Worte umgesetzt werden, wenn sie überhaupt einen Sinn erhalten [119] sollen. Sie gleichen den Schriftanfängen der Indianer. Derartige symbolische Darstellungen, die nicht Bilder wirklicher Vorgänge sind, sondern einen Gedanken zum Ausdruck bringen wollen, haben sich in Aegypten durch alle Zeiten zahlreich erhalten: so z.B. die Szene, wo der Pharao die Repräsentanten fremder Völker zu Boden schlägt, oder die Darstellung der Vereinigung der beiden Lande u.ä. Aber auch die Silbenzeichen der entwickelten Schrift sind daraus hervorgegangen. Man stellt ein Wort (oder einen Begriff) durch das Bild des Gegenstandes oder der Handlung dar, die es bezeichnet, z.B. gehen durch schreitende Beine Die Entstehung der Schrift, eine gewaltsame Handlung, den Begriff Kraft u.ä. durch einen schlagenden Mann Die Entstehung der Schrift; der Horusfalke bezeichnet Horus, aber auch »Gott« und »König« (§ 199); und man verwendet die Bilder auch für andere Worte, welche dieselben Laute enthalten, z.B. die Gans set auch für das Wort se »Sohn«, das Auge irt auch für ir »tun«, den Korb nebt auch für neb »Herr«, das Haus per auch für prj »herausgehen«. In den Städtehieroglyphen der Schiefertafeln finden wir die Anfänge dieser Wort- oder Silbenschrift in wappenartiger Form, ebenso in der Schreibung der ältesten Königsnamen.


Während früher der durchbohrte und an einem Bande getragene Siegelcylinder für Babylonien charakteristisch schien, zeigt sich jetzt, daß er in Aegypten mindestens eben so alt ist; die Siegel in Skarabaeusform kommen erst im Mittleren Reich allmählich auf. Im allgemeinen vgl. die große systematische Sammlung von NEWBERRY, Scarabs, 1906. Da das aegyptische Wort für Siegel, chtm, zwar von den Westsemiten angenommen, aber von dem babylonischen Wort (kunukku) völlig verschieden ist, ist auch für die Annahme einer Entlehnung kein Anlaß. Die ältesten Siegel mit bildlichen Darstellungen (z.B. PETRIE, Royal Tombs II 13, 94ff. 14, 101ff.) werden unter den ersten Königen allmählich durch Siegel mit Schriftzeichen verdrängt. – Darstellung der Bohrung eines Cylindersiegels (Dynastie 5): NEWBERRY, PSBA. 27, 286. – Die Entstehung der aegyptischen Schrift und die beiden entgegengesetzten Prinzipien, die in ihr verbunden sind, sind klar er kennbar geworden, seit uns einerseits in den Pyramideninschriften die älteste Form der im wesentlichen rein phonetischen Schreibweise, andrerseits [120] in den ältesten Denkmälern die älteste Gestalt der syllabisch-symbolischen, den Lautwert nur andeutenden, vorliegt. Zur Zeit des Menes ist das Schriftsystem bereits fertig.


203. Auf diese Art hätten die Aegypter zu einer reinen Wortschrift nach Art der chinesischen gelangen können; in der Tat ist der Schritt nicht groß von den Darstellungen der Schiefertafeln zu den Aufzeichnungen der Jahrtafeln des Menes und seiner Nachfolger (§ 206), auf denen die Worte auch nur zum Teil geschrieben sind und das meiste durch symbolische Zeichen angedeutet ist. Untermischt mit wirklichen Schriftzeichen lebt diese Art, nicht den vollen Wortlaut der Sätze, sondern nur den Hauptgedanken durch Zeichen auszudrücken, weiter in der abgekürzten Hieroglyphenschrift, welche z.B. in den Chroniknotizen des Steins von Palermo verwendet wird, und in den Beischriften der Tempel- und Grabreliefs, in Titulaturen, in den Opferformeln der Gräber u.a. sich bis in die späteste Zeit erhalten hat. – Aber die eigentliche Schrift der Aegypter ist auf diesem Wege nicht entstanden. Sie beruht vielmehr auf einer der größten und folgenreichsten Entdeckungen, die den Menschen überhaupt gelungen ist, auf der Erkenntnis, daß alle menschliche Rede aus der Kombination einer kleinen Zahl von Lauten besteht, und daß es daher genügt, für jeden von diesen ein bestimmtes Zeichen festzustellen, um jedes Wort und jeden Satz schreiben zu können. Freilich nur für das Gerippe der Worte, die Konsonanten, die im Aegyptischen wie im Semitischen die eigentlichen Träger der Bedeutung des Wortes sind, hat man Zeichen festgesetzt, im ganzen 24-die Bilder dafür sind zum Teil Worte, die nur einen Konsonanten enthalten, zum Teil wohl ziemlich willkürlich gewählt –, während der Leser die Vokale, in denen vorwiegend die grammatische Form zum Ausdruck kommt, aus dem Zusammenhang ergänzen muß11. – Mit diesen Zeichen kann jedes Wort geschrieben [121] werden. Aber diese alphabetische Schrift ist niemals rein angewandt worden. Für manche Worte und Silben hat man vielmehr entweder daneben oder auch ausschließlich andere Zeichen verwendet, die größere Lautkomplexe bezeichnen, und ebenso zur Verdeutlichung Lesezeichen (Determinative) hinter die Wörter gesetzt, welche entweder ihren Gegenstand bildlich darstellen oder wenigstens die Begriffskategorie angeben, zu der sie gehören. Diese Ideogramme, die bei abgekürzter Schreibweise auch an Stelle der phonetischen Zeichen treten können, sind aus der vorher besprochenen symbolischen Schreibweise hervorgegangen, ebenso die meisten Silbenzeichen. Allmählich sind sie auch in die Buchschrift in immer stärkerem Umfang eingedrungen, weil sie das Verständnis ganz wesentlich erleichterten. – Auf hartem Material, Holz, Elfenbein, Stein, Siegeln, werden die Bildzeichen immer beibehalten und häufig künstlerisch sorgfältig ausgeführt. Für die Bedürfnisse des täglichen Lebens dagegen, beim Schreiben auf Leder, Ton und namentlich auf Papyrus (auch bei flüchtig eingeritzten oder aufgemalten Inschriften auf Gefäßen u.ä.) hat sich eine Cursive gebildet, bei der die Bildzeichen durch abkürzende Striche angedeutet werden; sie wird als hieratische Schrift bezeichnet.


Cursivschrift mit Tinte findet sich schon auf den Scherben Royal Tombs I 10. Bet Khallaf pl. 28. Ähnlich sind z.B. die Gefäßscherben des Ka (§ 211 A.) Royal Tombs II 13. Abydos I 1-3.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 118-122.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Papinianus

Papinianus

Am Hofe des kaiserlichen Brüder Caracalla und Geta dient der angesehene Jurist Papinian als Reichshofmeister. Im Streit um die Macht tötet ein Bruder den anderen und verlangt von Papinian die Rechtfertigung seines Mordes, doch dieser beugt weder das Recht noch sich selbst und stirbt schließlich den Märtyrertod.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon