Die Kultur des Alten Reichs. Die Kunst

[211] 255. Die fünfte Dynastie ist die eigentliche Blütezeit des Alten Reichs. Immer von neuem erfüllt die Betrachtung der Grabreliefs und Tempelskulpturen mit staunender Bewunderung über die gewaltige, von den späteren Epochen kaum irgendwie übertroffene Kulturhöhe, welche das Niltal gegen die Mitte des dritten Jahrtausends v. Chr. erreicht hat. Alle ihre Schöpfungen zeigen, wie sicher man sich fühlt in behaglichem[211] Genuß; eben diese Empfindung ist es, welche den Sonnenkult dieser Zeit erzeugt hat und seine Gestaltung beherrscht. Die Grundformen sind wie im Staatsleben so auch in den bildenden Künsten zu Ende der dritten und zu Anfang der vierten Dynastie festgelegt worden; die Einzelgestaltung zeigt von Generation zu Generation einen stetigen Fortschritt wie des Könnens so des Stilgefühls bis zu der freien, ja oft raffinierten Empfindung in den Schöpfungen der fünften Dynastie.


Zur Entwicklung der aegyptischen Kunst vgl. außer den Werken von ERMAN, PERROT und CHIPIEZ, und zahlreichen Arbeiten von MASPERO auch die gute Skizze von H. SCHNEIDER (§ 158 A.) S. 58ff., sowie R. KAUTZSCH, Die bildende Kunst und das Jenseits, 1905. Zahlreiche Denkmäler, namentlich Statuen, in vortrefflicher Reproduktion bei v. BISSING-BRUCKMANN, Denkm. aeg. Skulpturen. Die Statuen von Kairo s. in BORCHARDTS Katalog. Ferner SPIEGELBERG, Gesch. der aeg. Kunst, 1903.


256. In der Architektur ist die vierte Dynastie noch ganz beherrscht von der Massenwirkung der gewaltigen Dimensionen, welche in den Pyramiden von Gize die höchste, von keinem Volke wieder in gleichem Umfang erstrebte oder erreichte Schöpfung aufzuweisen hat. Die sorgfältigste Technik in der Bearbeitung und Fügung der Steinblöcke dient hier den einfachsten Formen. Auch in den Tempeln und Portalbauten herrschen dieselben schlichten Formen. Aber durch die großen Dimensionen, durch die gewaltigen monolithen Pfeiler und Deckbalken, durch die Farbenwirkung des dunklen, sorgfältig polierten Granits und der hellen Fußböden von Alabaster erreicht sie auch hier eine mächtige Wirkung, die durch die Schmucklosigkeit der Bauteile nur noch gesteigert wird. Ornament und Profilierung fehlen völlig, desgleichen Gemälde oder Reliefs an den Wänden, die doch in den Mastabas dieser Zeit schon reich entwickelt sind; dagegen stehen vor den Wänden zahlreiche Statuen des Königs von feinster Arbeit, und im Tempel des Mykerinos außerdem eine Serie freistehender Hochreliefs, die den König zwischen der großen Göttin Ḥatḥor und den als Gottheiten personifizierten Gauen Aegyptens [212] darstellen. – Zu dem allen bilden trotz des gleichen Grundplans die Portale und Totentempel der fünften Dynastie den stärksten Kontrast. Hier ist überall eine architektonische Gliederung der Bauteile durchgeführt: das Gesims ist mit einer kräftig ausladenden Hohlkehle geschmückt, die Pfeiler sind zwar noch granitene Monolithe, aber sie werden als Pflanzen-zusammengebundene Papyrusstauden, Palmen, auch Lotusstauden mit offener Blüte-gestaltet und sind dadurch zu Säulen geworden; daneben werden auch Holzsäulen verwandt. Vom Dach des Tempels fließt das Regenwasser zwischen den Klauen liegender Löwen ab. Die Wände der Hallen und Korridore sind mit bunten Reliefs geschmückt. Ebenso lösen sich die massiven Bauten der alten Mastabas allmählich auf in eine Reihe von Zimmern und Sälen, deren Wände das irdische Leben in seinem ganzen bunten Reichtum widerspiegeln. – Gegen Ende der fünften Dynastie werden dann im mittleren Aegypten die Felsengräber herrschend, bei denen die Kammern der Mastabas mit ihrem Schmuck in den Fels hineingearbeitet werden.


Über die aegyptischen Säulenformen s. BORCHARDT, Die aegypt. Pflanzensäule, 1897; dazu WILCKEN, ÄZ. 39, 66ff. BORCHARDT, ÄZ. 40, 36ff.; ferner PUCHSTEIN, Die ionische Säule, 1907. – Über die Entwicklung der Grabbauten s. LEPSIUS, Denkm., Text I 225ff.; Felsengräber finden sich in Gize schon in Dynastie 4. – Von der Profanarchitektur, speziell den Königspalästen aus Holz und Nilziegeln, können wir aus den Sarkophagen und den Portalen der Scheintüren in den Gräbern einigermaßen ein Bild gewinnen (vgl. PERROT und CHIPIEZ, Kunst im Altertum I, deutsch von PIETSCHMANN, S. 119. 462. ERMAN, Aegypten 244ff.). Seit Anfang des Mittleren Reichs treten dann die zahlreichen Hausmodelle in den Gräbern hinzu. Für die gewöhnlichen, gleichfalls nicht aus Stein erbauten Tempel gewähren die gelegentlich vorkommenden Hieroglyphenzeichen (z.B. MARIETTE, Mast. A 2 beim Sêth von Oxyrynchos) nur ein sehr unzulängliches Bild.


257. Der statuarischen Plastik ist die Aufgabe gestellt, Abbilder des Königs und seiner Magnaten für die Grabkammer zu schaffen, die als Ersatz des abgestorbenen Körpers dienen und in denen die Seele oder der Geist des Verstorbenen eine [213] Behausung finden kann. Daher ist eine feierliche und würdevolle Haltung ebenso vorgeschrieben, wie die Porträtähnlichkeit der Gesichtszüge; und beides ist das charakteristische Erbteil aller aegyptischen Statuen geblieben. In den Anfängen aus der Zeit Snofrus herrscht vielfach noch die Unbeholfenheit der vorhergehenden Epoche (§ 218), ein Ringen mit dem Material, vor allem, wenn es aus hartem Gestein (Granit u.ä.) besteht, wie bei der Statue des Meten, wo die Gesichtszüge trotz aller Ähnlichkeit eine große Plumpheit zeigen und der Rumpf wie die Glieder völlig mißlungen und zum Teil nur roh angedeutet sind. Aber daneben stehen, noch kein Menschenalter jünger, aus dem leichter zu bearbeitenden Kalkstein schon so lebensvolle und bei aller Konventionalität der Haltung lebenswarme Gestalten wie Ra'ḥotep und seine Gemahlin Nofret aus Medum. In der Kleinkunst stellt sich die Elfenbeinstatuette des Cheops (§ 234) mit ihren scharfgeschnittenen, lebensvollen und energischen Gesichtszügen den besten Werken der Thinitenzeit ebenbürtig zur Seite. Daneben werden für den König zum ersten Male große Werke der Rundplastik geschaffen; und hier zeigt sich zugleich ein gewaltiger Fortschritt. Die großen Künstler, die für den Hof arbeiteten, sind jetzt auch des härtesten Materials Herr geworden, trotzdem sie es nur mit Stein und Sand und gehärtetem Kupfer bearbeiten konnten. So ist dem Meister der überlebensgroßen sitzenden Dioritstatue des Chephren, dessen Haube der Horusfalke mit seinen Flügeln bedeckt, trotz der konventionellen Steifheit der Haltung ein Werk ersten Ranges gelungen, und auch die anderen Statuen sind zum Teil vortrefflich gearbeitet. Besonders lebensvoll ist der bei den letzten Ausgrabungen gefundene Vorderkopf des Königs von Diorit, der das Porträt des gealterten Herrschers vortrefflich wiedergibt. Die stark vortretenden Backenknochen, die dicke Nase, der breite Mund und vor allem der Ausdruck der Augen rufen den Eindruck einer gewissen gutmütigen Beschränktheit hervor, die dem Gotte auf Erden wohl eigen gewesen sein mag. Gleichen Kunstwert haben zwei jetzt in Boston befindliche [214] Köpfe des Mykerinos, von denen der eine den König in jugendlichen Jahren, der andere gealtert darstellt. Daran reihen sich die Gruppen in Hochrelief mit den Gaugottheiten (§ 256), auf denen die Porträtähnlichkeit des Königs gleichfalls unverkennbar ist. Allmählich kommt dann, was für den Hof geleistet wird, auch den Magnaten zu gute; und hier kann der Künstler um so freier arbeiten, da als Material nicht harter Stein, sondern Kalkstein oder Holz benutzt wird; auch erreichen diese Statuen niemals die Lebensgröße. Hier beginnt denn auch eine größere Lebendigkeit der Haltung: neben den traditionellen sitzenden Figuren werden schreitende sehr gewöhnlich, wobei dem vorgesetzten linken Bein die vorwärtsdrängende linke Schulter folgt; oder der Beamte wird als Schreiber dargestellt, mit untergeschlagenen Beinen niederhockend, auf den Knieen die Papyrusrolle. Die Meisterwerke dieser Plastik-neben denen natürlich viele minderwertige stehen-finden sich in den Mastabas der fünften Dynastie, wo uns in den Gestalten des Schêch el Beled, des Schreibers des Louvre, eines Schreibers in Kairo, und so mancher ihnen nahekommender Kunstwerke die alten Aegypter in voller Natürlichkeit und Lebensfrische entgegentreten. Ihnen reiht sich aus der sechsten Dynastie ein Meisterwerk primitiver Metalltechnik an, die aus getriebenen und vernieteten Kupferplatten geschaffenen Statuen des Pepi I. und seines Sohnes in Hierakonpolis (pl. 50-56). Der Eindruck vollen Lebens wird bei diesen Werken dadurch wesentlich erhöht, daß die Augen aus weißem Gestein, mit schwarzer Pupille, eingesetzt sind und in hellem Glanz dem Beschauer entgegenleuchten. Auch der Körper ist meist richtig wiedergegeben, selbst der schwierige Übergang vom Brustkasten zum unteren Rumpf. Fehlerhafte Einzelheiten, wie z.B., daß beistehenden Figuren das vorgesetzte Bein zu groß ist, beruhen auf der Eigenart des aegyptischen Stils. Störender macht diese sich bei den häufigen Gruppen von Ehepaaren bemerkbar, wo die Frau in steifer Haltung neben dem Manne sitzt oder steht und ihm doch den Arm um die entferntere Schulter legt, der daher [215] unnatürlich verzerrt und viel zu lang wird; derartige Probleme hat die aegyptische Kunst nie ernsthaft zu lösen versucht, sondern die Gebrechen der Darstellung als selbstverständlich hingenommen oder vielmehr überhaupt nicht empfunden, ebenso wie beim Relief. – Vollen Naturalismus zeigt die Statue eines Hofzwergs, ebenso die Figuren von Dienern, Arbeitern, mahlenden und backenden Frauen, die dem Toten mit ins Grab gegeben werden.


Die Frage, ob das Alte Reich eiserne Werkzeuge gekannt hat, ist viel umstritten. Bekannt ist Eisen (aeg. bi') schon in den Pyramidentexten, und Eisenstücke sind mehrfach gefunden, s. OLSHAUSEN, Z. f. Ethnol. 1907, 369ff., so im Mauerwerk der großen Pyramide von VYSE, in Abydos zusammen mit Bronzegefäßen der 6. Dynastie von PETRIE (s. HALL in der Zeitschrift Man III, 1903; KING and HALL, Egypt and Western Asia in the light of recent discoveries 112ff.; Kugeln aus Eisenoxyd aus alter Zeit: WAINWRIGHT, Rev. arch. 4 sér. XIX 1912, 257. Eiserne Speerspitze aus der 12. Dynastie in Wadi ḥalfa: MACIVER und WOOLEY, Buhan, 1911, p. 211 und pl. 88); aber es ist weiches Eisen, das ja, wie v. LUSCHAN betont hat, in Afrika weit verbreitet ist. Eiserne Werkzeuge, mit denen man hartes Gestein bearbeiten konnte, haben die Aegypter des Alten und Mittleren Reichs nicht besessen. Dagegen verstanden sie das Kupfer zu härten und haben, wie die Abbil dungen zeigen, die Steine mit kupfernen Werkzeugen behauen. Die feinere Arbeit wurde dann mit Schleifsteinen und Sand ausgeführt.


258. Wenn die Plastik seit dem Beginn der vierten Dynastie in kürzestem Zeitraum zu gewaltiger, bei jedem neuen Fund von neuem überraschender Höhe fortgeschritten ist, so hat gleichzeitig die Ausschmückung der Gräber der vornehmen Beamten, die unter Snofru beginnt, der Kunst ganz neue Aufgaben gestellt. Für den Schmuck der Wände sind die maßgebenden Normen sowohl in der Auswahl der dargestellten Szenen wie in der Behandlung der Figuren gleich damals in allem wesentlichen festgelegt worden, in Fortbildung der Grundsätze, die schon seit dem zweiten König der ersten Dynastie zur Herrschaft gelangt sind (§ 216). Nach wie vorherrscht in der Zeichnung des Menschen das Streben, die einzelnen Teile möglichst deutlich und vollständig in der für sie maßgebenden Ansicht darzustellen; daher wird die Gesamtfigur [216] aus einer sorglosen Verbindung dieser Teile aufgebaut. Daraus haben sich viele traditionelle Regeln entwickelt, die in einem unverbrüchlichen Kanon der Proportionen zusammengefaßt sind, der vom Schüler gelernt und schematisch jeder Zeichnung zugrunde gelegt wird. Das gleiche gilt von anderen komplizierten Gegenständen, z.B. dem Opfertisch mit den darauf liegenden Speisen und Palmblättern, den für den Dienst der Toten herbeigetragenen Geräten und Truhen (ebenso später bei Gebäuden). Daneben beginnt aber der Versuch, dem überlieferten Schema durch Umdeutung zu einer Dreiviertelansicht Einheitlichkeit zu geben, so vor allem bei fliegenden Vögeln durch die verschiedene Behandlung der Flügelansätze, aber auch beim Menschen durch die Stellung des Nabels. Dagegen fehlt jeder Versuch, zu einer perspektivischen Ansicht zu gelangen. Die Tiefenwirkung des Raums kommt nicht zum Bewußtsein oder vielmehr, sie im Bilde zu geben, würde der wirklichen Gestalt der Gegenstände, die man darstellen will, widersprechen und somit die Wahrheit verfälschen. Daher stehen denn alle Figuren nebeneinander auf derselben Grundlinie, auch wenn ihre Umrisse sich kreuzen: so die beiden Füße des Menschen, oder die Schnitter und das Getreide, die Knechte und die Esel, die sie beladen, oder die Speicher, in die sie die Korngarben werfen, selbst die sich drängenden Herden von Rindern, Eseln, Gänsen, obwohl ihre vorderen parallelen Umrisse in einer Schrägansicht von vorn gezeichnet sind. Lassen sich mehrere Gruppen nicht mehr auf dieselbe Grundlinie bringen, z.B. mehrere von Jägern gehaltene Koppeln von Hunden oder zwei Käfige von Löwen, so werden sie einfach übereinander gestellt, jede mit ihrer eigenen Grundlinie; und in derselben Weise werden die größeren Szenen übereinander gereiht. Im Detail herrscht dabei sehr viel sorgfältige Beobachtung, vor allem in den Tierszenen; aber eine in lebendiger Bewegung begriffene menschliche Gestalt richtig zu zeichnen hat den Aegyptern nie gelingen wollen. Hier haben die Künstler offenbar niemals nach einem lebenden Modell gearbeitet, sondern sich die Stellung [217] in naivster Weise konstruiert. Daher bietet die Aufgabe, einen Menschen im Profil zu zeichnen, unlösbare Schwierigkeiten: man vermag sich von der Grundform der menschlichen Gestalt mit gleichen Schultern nicht zu trennen, und wenn man es doch versucht, entstehen oft die seltsamsten Verzerrungen. So wird bei einem im Profil gezeichneten Arbeiter oder Bauern der Brustkasten sehr oft einfach zusammengeklappt, so daß beide Arme an derselben Stelle des Körpers angesetzt sind; oder die hintere Schulter wird zusammenhangslos in den Körper hineingezeichnet, während unmittelbar daneben eine richtigere Zeichnung wenigstens versucht ist. Dieser Schwierigkeiten sind die Aegypter niemals völlig Herr geworden; was ihren Schöpfungen dennoch einen großen Reiz verleiht, ist das liebevolle Eingehen auf alle Einzelheiten des Lebens. Hier zeigt sich wieder ein gewaltiger Fortschritt von den Anfängen unter Snofru und Cheops (vor allem in den Mastabas von Medum und Gize) bis zu dem Höhepunkt in den Mastabas des Ti und vor allem des Ptaḥḥotep in Sakkara und den verwandten Gräbern sowie in den Jahreszeitenreliefs des Sonnentempels des Neweserrê'; und dieser Fortschritt hängt offenbar wieder damit zusammen, daß mit dem Beginn der fünften Dynastie die Wanddekoration durch reliefartige Gemälde auch in die Königsbauten eingeführt und damit von oben gefördert wird. In jenen älteren Darstellungen herrscht noch eine steife, schematisierende Behandlung, die wirkliches Leben fast völlig vermissen läßt; in den Bildern der fünften Dynastie schauen wir voll Behagens in die bunte Mannigfaltigkeit eines reich bewegten Treibens, das vielfach sowohl in den Tierszenen wie in der Darstellung der Knechte, der Bauern und des Schiffervolks mit glücklichem Humor behandelt ist. In dem Kriegsbild von Dešâše (§ 253) und den Reliefs des Saḥurê' tritt dann ein ganz neuer Gegenstand in den Kreis der friedlichen Szenen. Sobald es sich dagegen um vornehme Personen, den Grabesherrn und seine Gattin oder gar den Pharao handelt, verlangt die Etikette eine feierliche Würde, die das hergebrachte Schema streng festhält. Die Steifheit [218] dieser Figuren wird dadurch noch erhöht, daß sie im größten Maßstabe, alle anderen etwa um das Sechsfache überragend, dargestellt werden müssen. Für die Gesamtwirkung der Komposition sind sie freilich von großer Bedeutung: die ideelle Einheit, welche all die aneinander gereihten und übereinander gestellten Einzelszenen verknüpft, kommt dadurch zum Ausdruck, daß der in riesiger Gestalt vor ihnen stehende Grabesherr ihnen zuschaut oder, in den Reliefs des Sonnentempels, die Gottheiten der Jahreszeiten sie vorführen. – Der äußeren Form nach sind die meisten dieser Wanddarstellungen Reliefs; aber wenn wir sie als solche bezeichnen, tragen wir damit einen Begriff in diese Darstellungen hinein, der ihnen völlig fremd ist. Mit den wirklichen Reliefs, bei denen die Figuren sich lebendig aus dem Hintergrund loslösen, wie denen aus dem Tempel des Mykerinos, haben sie nichts gemein; vielmehr wird die Tiefenwirkung mit vollem Bewußtsein von ihnen abgelehnt. Auf den alten Schiefertafeln, vor allem der mit dem Königsstier (§ 201), herrscht noch ein ziemlich hohes Relief mit körperlicher Behandlung der Figuren, wie es die babylonische Kunst beibehalten und weiter ausgebildet hat. In Aegypten dagegen wird es schon auf der Tafel Narmers durch ein flaches Relief ersetzt, und daran hat die ganze folgende Zeit festgehalten; die Wirkung, die man beabsichtigt, ist durchaus zeichnerisch. Natürlich waren alle Reliefs durchweg polychrom. Ob aber eine Szene wie in der reinen Flächenmalerei, die in dieser Zeit nur in beschränktem Umfang angewandt wird, nur in satten Farben ohne Abtönung dargestellt ist-denn eine Schattierung durch Farben kennt die aegyptische Malerei so wenig wie die ältere griechische bis auf den »Schattenmaler« Apollodoros –, oder ob die Farbenwirkung dadurch verstärkt wird, daß die Umrisse erhöht oder vertieft und die Muskulatur oder z.B. die Federn der Vögel plastisch ausgeführt sind und dadurch Licht und Schatten in das Gemälde gebracht wird, ist nebensächlich: es bleiben immer Gemälde. Daher ist die Wirkung da am größten, wo das Relief ganz flach gehalten und die Muskulatur in [219] feinsten Andeutungen modelliert ist, wie bei den Figuren der von dem Königslöwen niedergeworfenen Völker am Aufweg zur Pyramide des Neweserrê'.


Über die von Relief und Malerei beobachteten Satzungen s. außer den Kunstgeschichten vor allem ERMAN, Aegypten 530ff. Eine tiefere Einsicht in Wesen und Entwicklung der aegyptischen Kunst verdanke ich H. SCHÄFER, der seine tiefgreifenden Untersuchungen demnächst veröffentlichen wird; eine grundlegende Frage hat er inzwischen in dem Aufsatz »Scheinbild oder Wirklichkeitsbild?« ÄZ. 48, 134ff. behandelt. – Besonders seltsame Versuche der Profilzeichnung aus der 5. Dynastie z.B. bei MADSEN, ÄZ. 42, 65f. – Über den Kanon der Proportionen ist grundlegend LEPSIUS, Denkmäler, Text I 233ff. Ferner EDGAR, Rec. 27, 137ff. – Mit dem Ende des Alten Reichs tritt das für die aegyptische Kunst charakteristische versenkte Relief (relief en creux) auf, mit dem die Malerei tatsächlich den vollen Sieg über das Relief erringt. – In den Wandbildern der Königsbauten besteht ein großer Unterschied zwischen den stereotypen, in ihren Grundformen schon unter der 1. Dynastie festgelegten Szenen (Seṭfest, Tempelgründung, Vorführung der Gefangenen durch die Götter u.ä.) und der der 5. Dynastie angehörigen Konzeption des Weltbildes in den Jahreszeitenreliefs. Diese berühren sich aufs engste mit den Darstellungen des Ptaḥḥotepgrabes.


259. Zu diesen Schöpfungen kommen die Arbeiten der schon unter den Thiniten reich entwickelten Kleinkunst, des Schmucks, des Hausrats. Es ist begreiflich, daß bei solchen Leistungen die Künstler mit stolzem Bewußtsein erfüllt waren; gewiß sind sie von den Königen und Magnaten, in deren Dienste sie traten, reich belohnt worden. So finden wir denn auch wenigstens bei den Grabreliefs gar nicht selten, daß der Künstler sich genannt hat, indem er sein Bild und seinen Namen in die dargestellte Szene einfügte; so Ne'anchptaḥ, der Meister des Ptaḥḥotepgrabes (§ 257), der sich am Schuß einer mit Szenen aus dem Treiben der Bauern und Fischer bedeckten Wand selbst dargestellt hat, wie er nach vollbrachter Arbeit behaglich im Kahn sitzend sich an dem Mahl gütlich tut, das als sein Lohn vor ihm aufgetischt ist, und gerade aus dem großen Kruge, den ein Bursche hält, einen kräftigen Schluck nimmt. Der Künstler des Grabes des Mereruka in Sakkara hat sich abgebildet, wie er auf der Staffelei [220] die Bilder der Jahreszeiten malt-sein Name ist leider zerstört –, und ähnlich mancher andere. Es ist der erste Fall, wo das Bewußtsein der schöpferischen Individualität erwacht; und in Aegypten ist, so weit unsere Kenntnis reicht (denn in der Literatur kommen Autornamen nicht vor), die bildende Kunst, und später daneben die Architektur, das einzige Gebiet geblieben, wo der Meister, der etwas geleistet hat, was andere nicht zu schaffen vermögen, voll Stolz seinen Namen nennt. – Durchweg aber bleibt die Entwicklung der Kunstblüte beschränkt auf Memphis, den Sitz des Hofs und des Ptaḥ, der daher der Künstlergott geworden ist (§ 247). Auch als seit der Mitte der fünften Dynastie künstlerisch ausgestattete Gräber in anderen Teilen Aegyptens entstanden, sind sie offenbar von Künstlern, die aus Memphis verschrieben wurden, geschmückt worden. Daher hat die Kunst hier nirgends Wurzel geschlagen, sondern verschwindet in der Provinz, sobald das Reich zerfällt. Überhaupt ist die Kunst in Aegypten immer in voller Abhängigkeit von der politischen Entwicklung geblieben: nur die Gunst eines wohlhabenden und große Aufgaben stellenden Hofes hat bedeutende Künstler zu erzeugen vermocht.


Die im Text genannten Künstler hat ERMAN, ÄZ. 31, 97ff. 38, 107 scharfsinnig aus den Darstellungen erkannt. Die Namen des Malers und des Architekten finden sich z.B. auch in dem Grabe eines Sohnes Chephrens SETHE, Urk. des A. R. 16 (LD. II 12 c); im Grabe des Ra'ḥotep dagegen (SETHE, S. 7 = MARIETTE, Mon. div. 17. PETRIE Medum 34), wo die Unvergänglichkeit der Gemälde gerühmt wird, ist der Künstler noch nicht genannt.


260. Mit der Kultur müssen auch die technischen Wissenschaften und Fertigkeiten über die unter den Thiniten gewonnenen Kenntnisse (§ 226) weit hinaus gelangt sein. Zur Bewegung der Steinmassen wie zur Vermessung der Felder und zur Verrechnung der Einkünfte und Ausgaben bedurfte man elementarer mathematischer Kenntnisse, zur Abmessung der genau orientierten Grundrisse, die unter fest geregeltem Ritual vollzogen wurde, astronomischen Wissens. Die Medizin [221] wird, dem Ansehen der Ärzte am Königshof entsprechend, ihr empirisches Material ständig vermehrt haben. Aber erhalten ist uns von der traditionellen Literatur, die zum Handwerkszeug der einzelnen Berufe gehörte-darunter auch die »Weisheit« der Zauberer, von denen das Volk sich damals wie später erzählte und die man ohne Zweifel auch jetzt in zahlreichen Lebenslagen zu Rate zog –, so wenig etwas, wie von den Gesetzbüchern oder dem religiösen Ritual oder den Liedern und der Musik dieser Zeit; nur von einem theologischen Traktat besitzen wir ein Bruchstück (§ 272). Die moralischen und Anstandsregeln, welche die Folgezeit auf weise Vezire des Alten Reichs zurückführte, sind schon erwähnt worden (§ 248).


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 211-223.
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