Das Reich Mitani und die Arier. Andere Staaten in Mesopotamien

[671] 465. Samsiadad III. (?) und sein Reich stehen bis jetzt für uns ganz isoliert da; von seinen Nachfolgern bis ins fünfzehnte Jahrhundert hinein besitzen wir keinerlei Kunde, und selbst die Herrscherfolge ist erst etwa vom Beginn des sechzehnten bekannt. Diese große Lücke in dem Denkmälermaterial mag durch den Zusammenbruch der Macht Assurs und vielleicht selbst durch eine Fremdherrschaft herbeigeführt sein. Denn von Dauer kann die unter Samsiadad gewonnene Machtstellung nicht gewesen sein; vielmehr sind die von ihm unterworfenen chetitisch-kleinasiatischen Stämme in Mesopotamien alsbald aufs neue zur Macht gelangt; im sechzehnten und fünfzehnten Jahrhundert finden wir hier ein Reich Mitani, dessen Bevölkerung nach Sprache, Religion und Eigennamen den Chetitern verwandt ist. Das Kernland ihres Reichs bildet die Landschaft zwischen Euphrat und Belichos, das spätere Osroene; bei den Westsemiten und danach bei den Aegyptern heißt es daher Naharain »des Land am Strom (Euphrat)«, Παραποταμία. Die Babylonier nennen es meist Chanigalbat; das ist die vollere Form von Chana oder Chani, dem Namen der Landschaft an der Chaborasmündung, in der sich die Chetiter festgesetzt hatten (§ 454, vgl. ). Diesen scheint es Samsiadad von Assur entrissen zu haben; dann aber ist es zum Mitanireich gekommen. Bei den Babyloniern und Assyrern wird der Name auf das gesamte Gebiet dieses Reichs ausgedehnt und umfaßt daher auch die Gebirgslandschaft am Durchbruch des Euphrat durch die Taurusketten und deren Hinterland bis nach Melitene (Milidia) hinauf. – [671] Über dies Mitanireich herrscht nun aber eine Dynastie, die nach Ausweis ihrer Eigennamen arischen Ursprungs ist und die arischen Hauptgötter verehrt (§ 590). Ihr Volk und Reich wird in den Urkunden mit dem Namen Charri, d.i. Ârja, bezeichnet (§ 454 A.), ihre Mannen heißen marianni, eine Weiterbildung des Wortes marja, das in den vedischen Hymnen den jungen Krieger und Helden und auch den Bräutigam bezeichnet. Offenbar sind also arische Scharen unter ihren Häuptlingen ins Land eingebrochen (oder vielleicht zuerst als Söldner herangezogen); sie müssen die assyrische Macht gebrochen und dadurch der einheimischen Mitanibevölkerung noch einmal Luft verschafft haben. Auch über den Euphrat in die syrischen Lande sind sie gezogen; im fünfzehnten Jahrhundert treffen wir hier zahlreiche arische Dynasten (§ 468), die ursprünglich einmal Vasallen des Mitanireichs gewesen sein mögen.


Die Mitanisprache kennen wir aus den Amarnabriefen, vgl. JENSEN, Z. Ass. V. VI. XIV. SAYCE und BRÜNNOW, ib. V. MESSERSCHMIDT, Mitanistudien, Mitt. Vorderas. Ges. 1899; sie ist mit dem Chetitischen (Arzawa) verwandt, und ihr Hauptgott Tešub findet sich auch bei den Chetitern; ebenso ist die Göttin Chipa beiden gemeinsam. BORK, Die Mitanisprache, Mitt. Vorderas. Ges. 1909, sucht mit wenig überzeugenden Gründen eine Verwandtschaft des Elamitischen und Mitani nachzuweisen und hält beide für kaukasische Sprachen. – Chanigalbat als Bezeichnung des Reichs Mitani (das die Aegypter Naharain nennen) in den Amarnabriefen 1 (W. Kn.), 38; 15 (W. Kn.), 22. 26; 18 W. (20 Kn.), 17; 21 W. (29 Kn.), 49; in 256 W. (255 Kn.), 10. 20 Chanagalbat geschrieben, in einer Urkunde aus Nippur, welche Mitaninamen enthält (§ 454 A.), bei CLAY, Bab. Exped. XV p. 3 u. 25, 4 Chaligalbatû, vgl. auch den flüchtigen Chanigalbataeer Agabtacha, den König Kaštiliaš II. mit Land beschenkt: Délég. en Perse II (él.-sém. I) p. 95. In der Inschrift Salmanassars I. Keilschrifttexte aus Assur no. 13 wechselt im Text und in den Varianten Chanigalbat mit Chani (col. 2, Zl. 18 u. 20). – Über die Arier in Mitani und die marianna (bei den Aegyptern geschrieben marina) s. WINCKLER, Oriental. Lit.-Z. XIII 291ff. Möglich ist, daß das aramaeische Wort mâr »Herr« und weiter der Eigenname des späteren Hauptgottes von Gaza Marna (»unser Herr«) davon entlehnt sind.


466. Genauere Kunde vom Mitanireich haben wir erst seit dem fünfzehnten Jahrhundert, der Zeit der aegyptischen [672] Eroberungen und des Vordringens der Chetiter. So läßt sich ein anschauliches Bild der politischen Kämpfe der vorhergehenden Jahrhunderte und der Völkerbewegungen, welche die Arier nach Mesopotamien und Syrien führten, nicht gewinnen, und z.B. nicht sagen, ob Assur selbst zeitweilig dem Mitanireich untertan gewesen ist. Offenbar aber hat es neben den Hauptmächten wie vor alters zahlreiche kleinere Fürstentümer gegeben, die jeder größeren Macht, die sich bildete, untertan werden mußten, dann aber zeitweilig auch zu selbständiger Bedeutung gelangen konnten. Wenn die zahlreichen Schutthügel einmal aufgedeckt sind, welche die Ortschaften Nordsyriens und des nordwestlichen Mesopotamiens bedecken, werden wir darüber Genaueres erfahren. Bis jetzt sind nur wenige derartige Stätten untersucht worden. Die Skulpturen der Ruinen des »Palastes des Mušeš-ninib des Priesters (šangu)« in dem Hügel von 'Arbân am unteren Chaboras zeigen im wesentlichen bereits den späteren assyrischen Stil, der in Assur unter Assurnaṣirpal (884-860) einsetzt; es war ein Mißgriff, wenn ich, weil sich in den Ruinen mehrfach Skarabäen des Thutmosis III. und Amenophis III. gefunden haben, den Palast in deren Zeit setzen wollte; auch die Schriftzeichen sprechen für eine jüngere Epoche. In weit ältere Zeit hinauf reichen dagegen die ganz primitiven Reliefs von dem südlichen Tor der Stadt Sam'al (jetzt Sendjirli) in Nordsyrien am Amanos nebst den ganz rohen Löwen der Türlaibungen, die sich hier und beim inneren Burgtor erhalten haben. Sie gehören zweifellos dem chetitischen Kulturkreise an, zeigen aber einen so primitiv-barbarischen Stil-nur die ältesten sumerischen Skulpturen sind ihnen vergleichbar –, daß wir sie wohl als Vorstufen der Kunst des Chetiterreichs von Boghazkiöi zu betrachten und daher in die Zeit des ersten Auftretens der chetitischen Stämme, d.h. in die erste Hälfte des zweiten Jahrtausends zu setzen haben. Das gleiche scheint von den zahlreichen ganz archaischen Reliefplatten zu gelten, die in die Außenmauer eines jüngeren Palastes im Tell Ḥalâf bei Râs al 'ain, dem alten Resaina, nahe der Chaborasquelle, [673] eingebaut sind, aber aus einer weit älteren Anlage stammen.


Daß die Ruinen von 'Arbân (LAYARD, Niniveh und Babylon 275ff. vgl. 235) jünger sein müssen, als ich angenommen hatte, hat v. BISSING, Beitr. z. Gesch. d. assyr. Skulptur, Abh. Bayr. Ak. 26, 1912, S. 12ff. gezeigt. Dagegen sind die alten Reliefs von Sendjirli (v. LUSCHAN, Ausgrabungen in Sendjirli Heft III, S. 203ff. und Taf. 34-36 nebst dem Löwen Taf. 46) von denjenigen Skulpturen der Burg, die der Zeit etwa von 1000 bis in die Assyrerzeit angehören, offenbar durch einen weiten Abstand getrennt. – Ruinen des Tell Ḥalâf bei Râs el 'ain: v. OPPENHEIM, Z. Ges. f. Erdkunde 36, 1901, 88ff., sowie: Der Tell Halaf und die verschleierte Göttin, in: Der Alte Orient X, 1908. v. OPPENHEIM setzt jetzt seine Ausgrabungen mit großem Erfolg fort.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 671-674.
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