Die älteste Kultur im westlichen Kleinasien. Troja

[736] 491. Im westlichen Kleinasien reichen die durch Ausgrabungen erschlossenen Überreste menschlicher Ansiedlungen und ihrer Kultur in hohe Zeiten hinauf. Die wichtigste Stätte sind die Ruinen von Troja. Im Nordwesten Kleinasiens schiebt sich gegen Europa eine Halbinsel vor, die von der gegenüberliegenden Landzunge der thrakischen Chersones nur durch den schmalen Sund des Hellesponts getrennt ist. Diese Landschaft, beherrscht von dem hochaufragenden Idagebirge, das im Süden steil zum Meer abfällt, nach Norden dagegen zahlreiche Höhenzüge und Küstenflüsse entsendet, ist bewohnt von einer Völkerschaft, welche die Griechen in alter Zeit Troer und Dardaner nennen; später kommt dafür der Name Teukrer auf, ob im Zusammenhang mit den Völkerverschiebungen seit dem Ende des zweiten Jahrtausends, läßt sich nicht erkennen. Die ursprüngliche Bevölkerung scheint jedenfalls dem kleinasiatischen Stamm [736] anzugehören; auch bei ihr findet sich der Kult der Göttermutter und des Himmelsgottes vom Ida (Zeus) sowie der Orakelgott (Apollo), der überall an der Küste sei nen Sitz hat (§ 483); die Daktylen, die Riesen des Gebirgs, die das Eisen bereiten-in dieser Gestalt können sie erst spät, seit dem Anfang des ersten Jahrtausends, ausgebildet sein –, haben wir schon kennen gelernt (§ 486). Unter den Flüssen von Troas hat der Skamander die größte Bedeutung, da er unmittelbar am Eingang des Hellesponts mündet und in seinem Unterlauf eine breite und fruchtbare Ebene durchfließt. Vom Meer im Westen ist diese Ebene durch einen Höhenzug getrennt, auf ihrer Ostseite erhebt sich ein niedriges Plateau, das im Norden durch die Ebene des Simoeis begrenzt ist, der nahe dem Skamander ins Meer fällt. Vom Hellespont ist auch das Simoeistal noch durch eine Hügelkette getrennt. Da wo die beiden Ebenen sich zu einem weiten Blachfeld vereinigen, liegt am Rande des Plateaus, das hier nur etwa 15 m über die Ebene aufragt, eine halbe Meile vom Meer entfernt ein mächtiger Schutthügel, von den Türken Asarlyk »Trümmerstätte«, von den Europaeern entstellt Hissarlik genannt. Er bildete die Akropolis der hellenistisch-römischen Stadt Ilion (die neunte Schicht SCHLIEMANNS); unter dieser liegen eine über der anderen die Trümmer der älteren Ansiedlungen an dieser Stätte, die immer den natürlichen Mittelpunkt der Landschaft gebildet hat. Wiederholt ist der Hügel für neue, planmäßig angelegte Burgen neu applaniert worden. Oben, nur durch wenige dünne Schichten von der Griechenstadt getrennt, liegen die teilweise durch diese beseitigten Überreste der Pergamos von Troja, von der die homerischen Epen singen, am Rande umschlossen von gewaltigen Burgmauern im mykenischen Stil (sechste Schicht); etwa 5 m unter ihr die Trümmer einer weit älteren Burg (zweite Schicht, früher von SCHLIEMANN für die homerische Stadt gehalten), die mehrfach umgebaut ist und daher Jahrhunderte lang bestanden haben muß; und diese Burg liegt noch mehr als 5 m über den Resten der ältesten Ansiedlung auf dem gewachsenen Boden. Diese Folge der Schichten [737] gibt nicht nur eine relative Chronologie, sondern zugleich einen Anhalt zur Gewinnung absoluter Daten. Die homerische Pergamos kann nicht wohl später als rund 1500 v. Chr. gegründet und spätestens etwa um 1200 zerstört sein; somit müssen wir mit den Anfängen der »zweiten Stadt« bis in die erste Hälfte des dritten Jahrtausends hinaufgehen, und gelangen mit den ältesten Ansiedlungen jedenfalls beträchtlich ins vierte Jahrtausend hinein. Diese Ansätze werden bestätigt durch das, was sich über die parallele Entwicklung auf Kreta ermitteln läßt (§§ 508ff.). So reichen die ältesten Fundobjekte von Troja nicht nur weit über die ältesten Reste der syrisch-palaestinensischen Ortschaften, sondern vielleicht selbst noch über die ältesten bis jetzt bekannten Ruinen von Sinear hinaus; sie ermöglichen uns, an dieser Stätte die fortschreitende Entwicklung der Kultur etwa von der Zeit ab zu verfolgen, als im Niltal das Reich der Thiniten entstand.


Die Troer werden von den Späteren vielfach mit Kreta in Verbindung gebracht, vor allem wohl wegen des bei beiden vorkommenden Idagebirges; daher werden die Daktylen oft nach Kreta gesetzt (wo es kein Metall gibt) und umgekehrt die Kureten nach Troas, Dardanos soll aus Kreta eingewandert sein u.ä. Ebenso werfen die späteren Griechen, von den Tragikern an, Troer und Phryger durcheinander, während der homerische Aphroditehymnus v. 113 ausdrücklich hervorhebt, daß die Sprache beider verschieden ist. Später ist eben das phrygische Element hier vorherrschend geworden, namentlich am Hellespont, wo sich die Bebryken (vgl. § 486 A.) ansiedelten (diesen gehört der hier und in dem gleichfalls ursprünglich bebrykischen Bithynien heimische Kult des Priapos an [bei den Bithynern: Arrian fr. 32. Lucian de saltat. 21; daher der bithynische Monat Περιέπιος = Mai/Juni], eines Gottes der Fruchtbarkeit der Felder und Weinberge, der in Bithynien zugleich als Kriegsgott mit Waffentänzen verehrt wird, von Arrian als zeugender Sonnengott gedeutet). In der späteren Sage kommt das Eindringen der Phryger (Askanier) darin zum Ausdruck, daß Aeneas einen Sohn Askanios erhält (in der Ilias N 792f. B 862 ist Askanios einer der Führer der Phryger aus Askanien). – Kleinasiatische Namen in Troas: KRETSCHMER, Einleitung 188; auch Pergamos (das bekanntlich in Teuthranien und im westlichen Kreta [§ 522 A.] wiederkehrt) ist vielleicht ein kleinasiatisches Appellativum »Burg«, mit dem durch die ganze Halbinsel verbreiteten Suffix –αμος (G. MEYER, Karier, Beitr. z. Kunde der indog. Spr. X S. 182). – Die Teukrer kommen in der Literatur zuerst bei Kallinos vor (Strabo XIII I, 48), [738] als Einwanderer aus Kreta, die sich zuerst im Süden der Landschaft, bei Hamaxitos, angesiedelt haben sollen [andere leiten sie aus Attika ab]; ob dem eine geschichtliche Tatsache zu Grunde liegt oder ob es lediglich Kombination ist, läßt sich nicht entscheiden. Die Ilias kennt ihren Eponymos, den Schützen Teukros, als Bastardbruder des Aias; er steht auf seiten der Griechen, aber die spätere Sage [die Il. Θ 283ff. schwerlich schon vorausgesetzt wird] macht ihn zum Sohn einer von Telamon erbeuteten Tochter des Troerkönigs Laomedon, Hesione [der »Asiatin«?, nach den Ἠσιονεῖς bei Sardes, Kallinos bei Strabo XIII 4, 8]; ist darin angedeutet, daß die Teukrer ein den Griechen verbündeter Stamm waren, der erobernd in Troas eingedrungen ist? Weiter ist Teukros der Gründer von Salamis auf Cypern. Nun wissen wir, daß die Teukrer sich in der Stadt Gergithes oder Gergis [jedenfalls in der Nähe von Troja gelegen, wahrscheinlich identisch mit den Ruinen auf dem Ballykdagh oberhalb Bunarbaschi, über dem Skamanderdurchbruch, die LECHEVALIER für Troja hielt] noch im 5. Jahrhundert erhalten hatten (Herod. V 122. VII 43; daher die zu Anfang des 2. Jahrhunderts von Hegesianax unter dem Namen eines uralten Gergithiers Kephalon verfaßte authentische Geschichte der Troer). Auch sonst kam der Name in dieser Gegend vor: Gergithion bei Lampsakos, Gergitha an den Kaikosquellen und bei Kyme (Strabo XIII 1, 19. 70; vgl. Klearch bei Athen. VI 256 c). In Salamis auf Cypern aber bezeichnete der Name Gerginer die Spione und Schmeichler der Tyrannen: Klearch v. Soli bei Athen. VI 255f., der sie mit den troischen Gergithen in Verbindung bringt. Außerdem findet sich Γέργιϑες als Name des Demos von Milet in der Sage bei Heraklides pont. Athen. XII 524 a. Hier liegen Zusammenhänge vor, die wir nicht aufklären können, die aber eine überseeische Einwanderung der Teukrer und eines teukrischen Stammes der Gergithen wahrscheinlich machen. [Anders KRETSCH MER, Einl. 190; darin, daß die Priester von Olbe in Kilikien (§ 482) sich abwechselnd Aias und Teukros nennen, sucht er jedenfalls mit Unrecht einen historisch-ethnographischen Zusammenhang; das ist nichts als eine der beliebten Kombinationen der hellenistischen Zeit.]-Über die wahrscheinlich gleichfalls zugewanderten Leleger im Süden von Troas s. § 506. – Lage von Troja: Im Altertum ist der Anspruch der griechischen Stadt Ilion, an der Stelle des alten Troja zu liegen, von Hestiaea von Alexandria Troas (Strabo XIII 1, 36) und vor allem von Demetrios von Skepsis (um 165 v. Chr.) bestritten worden, dem Strabo folgt; sie verlegen das homerische Troja weiter landeinwärts nach der Ἰλιέων κώμη. In neuerer Zeit hat, als die Landschaft erst in den ersten Umrissen wieder bekannt zu werden begann, LECHEVALIER (1787) geglaubt, das alte Troja auf dem Ballykdagh bei Bunarbaschi, zwei Meilen vom Meer auf steiler Höhe, wiederzufinden; und selten hat wohl ein Einfall eines flüchtigen Reisenden so viel Erfolg [739] gehabt wie diese Behauptung. Ihr zu Liebe ist in zahllosen Abhandlungen immer wieder der Versuch gemacht worden, die Topographie der Troas auf den Kopf zu stellen; selbst nachdem SCHLIEMANN die Überreste der älteren Ansiedlungen unter der Akropolis des späteren Ilion, dem Hügel Hisarlik (richtig Asarlik) aufgedeckt hatte, galt es doch wenigstens in Deutschland noch lange für »wissenschaftlich«, die Frage als eine offene zu betrachten und den Namen Troja zu vermeiden. Die »kritische« Anschauung lief dann in reine Skepsis aus: HERCHER hat in seinen vielgepriesenen »homerischen Aufsätzen« (neue Ausgabe 1881) behauptet, daß den Dichtern der Ilias alle wirkliche Anschauung der Troas abgehe. Er hat auch den Simoeis für eine Erfindung erklärt; damit beweist er und wer ihm nachspricht nur den Doktrinarismus, der es für überflüssig hält, die Tatsachen kennen zu lernen. Denn die Simoeisebene existiert ebenso gut wie die Skamanderebene; gerade wenn der Simoeis nicht in der Ilias vorkäme, müßte man eine mangelhafte Lokalkenntnis der Dichter folgern. – In Wirklichkeit zeigt die Ilias durchweg eine überraschende topographische Kenntnis wie von der ganzen griechischen Welt, so auch von der Troas, und speziell der Dichter der Bücher ΥΦΧ hat ein so lebendiges und detailliertes Bild der Landschaft vor Augen, daß er notwendig da gewesen sein muß (daher auch der Stammbaum der Troer Υ 215ff. und das lebhafte Interesse für Aeneas und seine Nachkommen Υ 298ff.), was ja bei einem fahrenden Sänger nichts Wunderbares ist. Die Angaben der Ilias wie die Beschreibungen bei Strabo und Plinius setzen durchweg die gegenwärtige Konfiguration der Troas voraus (auch in Bezug auf den Lauf des Skamander am Westrande der Ebene [die entgegengesetzte Annahme DÖRPFELDS, Troja und Ilion S. 612ff. wird von ROBERT, Hermes 42, 95ff. mit Recht bekämpft]); die im Altertum (Herodot II 10. Strabo XIII 1, 36) wie in der Neuzeit häufig ausgesprochene Behauptung, es hätten, namentlich durch Anschwemmungen, Veränderungen stattgefunden, ist unbegründet. – Bekanntlich hat SCHLIEMANN das Troja Homers bei all seinen Grabungen nie gefunden, da er es in weit tieferen Schichten (in der »zweiten Stadt«) suchte und daher bei seinen Grabungen die Überreste der höheren Schichten zerstörte. Überdies lag der Hauptteil der Ruinen der homerischen Stadt beträchtlich weiter am Rande des Schutthügels, als SCHLIEMANN sie gesucht hatte; denn an der Nordseite war die Burgmauer derselben schon im Altertum abgetragen (die Steine waren von Archaeanax von Mitylene zum Bau der Mauer von Sigeon verwendet worden, Strabo XIII 1, 38). Erst nach SCHLIEMANNS Tode hat DÖRPFELD 1893 im Süden und Osten die großen Mauern und Bauten der mykenischen Epoche gefunden. Dadurch hat sich die Auffassung und Chronologie der Rui nen ganz wesentlich verschoben. Für die Wissenschaft hat sich das unmethodische Vorgehen SCHLIEMANNS, direkt bis auf den Urboden zu [740] gehen, als höchst segensreich erwiesen; bei einer systematischen Ausgrabung wären die älteren Schichten, welche der Hügel birgt, und damit diejenige Kultur, welche wir als die eigentlich »trojanische« bezeichnen, schwerlich jemals aufgedeckt worden. – Die Ergebnisse der 24jährigen Ausgrabungen sind von DÖRPFELD, Troja und Ilion 1902 [unter Mitwirkung zahlreicher Gelehrter; die Geschichte ist von BRÜCKNER, die Keramik von HUBERT SCHMIDT, die übrigen Funde von A. GÖTZE bearbeitet] zusammenfassend behandelt; dazu HUB. SCHMIDT, H. Schliemanns Sammlung troj. Altert. 1902 (Katalog der Sammlung des Berliner Mus.). Von den älteren Publikationen haben vor allem SCHLIEMANN, Ilios 1881 und Troja 1884 noch immer Bedeutung.


492. Von der ältesten Ansiedlung ist nur ein kleines Stück aufgedeckt, Trümmer von Befestigungen und Hausmauern aus kleinen durch Erdmörtel verbundenen Feldsteinen; die dünnen Hausmauern waren auf der Innenseite mit einem Tonbewurf verputzt. Von dem Hausrat sind vor allem zahlreiche Scherben von Tongefäßen erhalten, Schalen, zum Teil mit senkrecht durchbohrten Ansätzen, an denen sie aufgehängt wurden, Krüge, Näpfe, Becher u.a., auch aufgestülpte Deckel. Sie sind alle mit der Hand gearbeitet, mit einer fein geschlämmten Tonschicht überzogen und geglättet, und dann heller oder dunkler gebrannt; neben dem vorherrschenden schmutzigen Grau wird gelegentlich auch ein glänzendes Rot erreicht. Als Ornamente finden sich eingeritzte lineare Verzierungen in mannigfachen Variationen; gelegentlich sind parallele Zickzacklinien auch mit einem weißen Farbstoff aufgemalt. Dazu kommen dann Hämmer und Keulenknöpfe aus Stein, Nadeln aus Knochen u.ä.; ob auch einige dünne Messerklingen aus Kupfer dieser Ansiedlung angehören, ist dagegen sehr unsicher. Ihrem Charakter nach gehört sie jedenfalls durchaus der Steinzeit an, und ihre Kultur ist der vieler anderer neolithischer Fundstätten gleichartig; im allgemeinen erscheint sie bereits etwas weiter fortgeschritten, als die der ältesten bekannten Schichten der palaestinensischen Ortschaften (§ 356).


Die der »ersten Stadt« angehörigen Fundobjekte sind erst von HUBERT SCHMIDT, GÖTZE und ihren Mitarbeitern sicher ausgesondert und charakterisiert worden; in SCHLIEMANNS Werken sind sie mit Gegenständen [741] untermischt, die erst den folgenden Schichten, bis zur sechsten, angehören. Über Parallelen mit anderen neolithischen Funden, namentlich aus Makedonien, den Donauländern, dem Aegaeischen Meer s. HUB. SCHMIDT, Troja, Mykene, Ungarn, Z. f. Ethnol. 1904, speziell S. 646ff.; Keramik der maked. Tumuli ib. 1905, 91ff.


493. Ein wesentlich anderes Bild zeigt die Ansiedlung, welche, durch eine Schicht von Schutt und Erde von der ersten getrennt, gegen die Mitte des dritten Jahrtausends über ihr angelegt wurde. Ähnlich wie z.B. bei den Tempelbauten in Sinear wurde der Boden künstlich erhöht und geebnet, und auf demselben eine kleine Burg erbaut. Ihre Mauern ruhen auf einem stark geböschten Fundament von kleinen Feldsteinen, das den ganzen Hügel umzieht. Darauf erhob sich die eigentliche Mauer aus großen rechteckigen Luftziegeln, zwischen denen Holzbalken eingelegt waren. Große, von langen Mauern eingeschlossene Torwege führen in das Innere der Burg; mehrfach ist die Mauer durch turmartige Vorsprünge verstärkt. Diese Festung ist zweimal umgebaut und nach Süden zu etwas erweitert worden; dabei hat man auch die Tore verlegt. Zu dem einen Tor der dritten Anlage führt ein mit großen Steinplatten gepflasterter Rampenweg hinauf. Auch sonst sind hier technische Fortschritte erkennbar: die Böschung des Steinfundaments wird geringer, die langen Torwege werden durch einen breiten Torbau mit doppeltem Verschluß ersetzt. Mithin hat die Burg dieser zweiten Schicht, unter wechselnden Schicksalen, Jahrhunderte lang bestanden, bis sie durch eine große Katastrophe im Feuer zu Grunde ging, vermutlich also eindringenden Feinden erlag. Ihre Dimensionen sind freilich außerordentlich klein; der Umfang des Mauerrings beträgt kaum 400 m. Sie kann also immer nur eine Zufluchtstätte im Kriege und der Sitz des Herrschers und seines Hofs gewesen sein, während die Bevölkerung auf dem Lande in offenen Ortschaften gewohnt haben wird. Von den Innenbauten sind nur die des letzten Umbaus genauer erkennbar. Im Zentrum liegt in einem großen Hof, zu dem ein Torweg Eintritt gewährt, das Herrenhaus, bestehend aus einem großen [742] Saal mit dem Herd in der Mitte, und einer Vorhalle. Mehrere kleinere Gebäude gleicher Art lagen daneben; von andern sind nur einige kleine, durchweg rechteckige Zimmer erhalten. Alle diese Bauten sind aus großen, sorgfältig geschnittenen Luftziegeln aufgeführt, mit Steinfundamenten und steinernen Türschwellen; in die Wände sind schichtweise Längsbalken eingelassen, die Türpfosten und die freistehenden Ecken der Wände (die Anten) mit Holzbalken verkleidet, die auf Steinsockeln ruhen. Säulen finden sich nicht, vielmehr ruhten die Dachbalken auf den Wänden; den Fußboden bildete ein Lehmestrich.

494. In den Jahrhunderten, in denen diese Burg besiedelt war, hat sich die trojanische Kultur wie in den Bauten so auch im Hausrat wesentlich reicher gestaltet. Zu Anfang finden sich noch dieselben primitiven Tonscherben, wie in der ältesten Ansiedlung; dann aber kommt die Töpferscheibe und der Brennofen auf, und mit ihnen zugleich eine sorgfältigere Technik, eine gleichmäßige Färbung und ein weit größerer Reichtum der Gefäßformen. Die verschiedenartigsten Gestaltungen kommen vor, wie sie neben dem praktischen Bedürfnis die primitive Phantasie (§ 96) er zeugt: Kannen mit schnabelförmigem Ausguß, dreifüßige Kochtöpfe, Krüge mit unförmigem Bauch und langem Hals, verkoppelte Gefäße, Trinkbecher mit zwei gewaltigen Henkeln, ferner seltsam gestaltete Deckel u.ä. Besonders beliebt ist es, dem Gefäß menschliche Gestalt zu geben, mit Nase und Augen, gelegentlich auch mit Ohren, Brustwarzen, Nabel, mit zwei Armansätzen und einem Schopf auf dem Deckel. Solche Gesichtsurnen hat die primitive Industrie auch sonst bei den verschiedenartigsten Völkern erzeugt, bei Negerstämmen und in Mexiko und Peru so gut wie in Deutschland und Italien; für die trojanische Kultur sind sie besonders charakteristisch. Daneben stehen, wenngleich viel seltener, Gefäße in Tiergestalt. Sehr oft fehlt jede weitere Ornamentik; sonst hat sich die eingeritzte lineare Dekoration der ältesten Zeit vielfach in eine rohe Nachbildung von Bändern und Gehängen umgewandelt, wie sie sich bei prähistorischen [743] Gefäßen in vielen Gebieten findet. Vereinzelt kommen auch Nachbildungen von Bäumen und Zweigen vor. Am reichsten tritt uns die Dekoration auf den unzähligen durchbohrten Tonkugeln entgegen, die als Spinnwirtel dienten; hier finden sich neben den linearen Verzierungen (darunter oft Hakenkreuzen) auch Sonnen, Bäume, Hirsche, Hunde, Menschen, aber immer dem linearen Dekorationsprinzip untergeordnet, so daß der Leib nur durch einen Strich angedeutet wird, ohne jede Breitenausdehnung. Die eingeritzten Linien sind, wie bei der gleichartigen und gleichzeitigen Dekoration neolithischer Gefäße in Europa (§ 533), meist mit weißer Masse ausgefüllt; Malerei kommt nur ganz vereinzelt vor. – Nicht minder hat sich die Steintechnik entwickelt. In großer Zahl haben sich trefflich polierte Äxte und Hämmer aus hartem Stein gefunden; und vier große, in der Mitte, wo das Schaftloch sitzt, reich mit Buckeln und linearen Ornamenten verzierte Axthämmer aus dunkelgrünem Stein oder aus Blaustein zeigen, wie weit die Kunstfertigkeit und das Stilgefühl vorgeschritten war. Die Ornamentik steht hier offenbar schon unter dem Einfluß des Metallstils. Diese Äxte sind, zusammen mit Kristalllinsen, Nägeln und Perlen von Gold und Silber, Fayenceperlen u.a. in einem Gebäude an der Stadtmauer gefunden worden, und waren wohl sicher die zum Abzeichen seiner Würde gewordene Waffe des Herrschers; an das Beil des kleinasiatischen Donnergottes dagegen wird man nicht denken dürfen, da dies ganz andere Formen zeigt. Mit dem Kunstgefühl, das sich hier wie in den goldenen Schmucksachen (§ 495) kundgibt, steht nicht in Widerspruch, daß die zahlreichen brettförmigen Steinfiguren (Idole), die wohl sicher Fetische oder Amulette darstellen, einen ganz rohen Eindruck machen: nur ganz notdürftig sind ihre äußeren Umrisse der menschlichen Gestalt angeähnelt, außerdem nicht selten Augen, Nase und Halskette linear eingeritzt. Das ist nicht Unvermögen, sondern Absicht: der Gedanke, wirklich die menschliche Gestalt nachzuahmen, liegt dieser Epoche und ihrer Kunstübung noch ganz fern; man will die Ähnlichkeit lediglich andeuten, wie bei den Gesichtsurnen [744] und den Zeichnungen der Spinnwirtel, und so ordnet sich die Gestaltung durchaus dem die Kunst beherrschenden linearen Prinzip unter.

495. Inzwischen ist auch das Metall aufgekommen, Gold und Silber zum Schmuck, mit einer starken Beimischung von Zinn versetztes Kupfer (Bronze) für Waffen und Hausrat. Dolche, Lanzenspitzen, Messer-darunter zahlreiche Rasiermesser –, dünne schmale Axtklingen, Sägen, Meißel, Nägel aus Bronze haben sich in großer Zahl gefunden, ferner bronzene Kessel, Schalen u.ä. Vielfach haben sich auch Gußformen von Stein erhalten. Man erkennt, wie die alte Steinkultur allmählich durch die Bronzekultur zurückgedrängt wird: die trojanische Kultur der zweiten Stadt ist recht eigentlich eine Mischung aus beiden Elementen, ähnlich der aegyptischen der Thinitenzeit. Älter als das Aufkommen der Bronze ist vermutlich, wie in Aegypten und sonst, die Bearbeitung der Edelmetalle, zunächst zum Schmuck, dann auch für prächtige Waffen und Prunkgefäße; auch in Barrenform wurden sie bewahrt. Gold wurde in der Landschaft selbst in dem Bergwerk von Astyra bei Abydos gewonnen (Strabo XIII 1, 23. XIV 5, 28), mag aber auch durch den Handel z.B. aus Lydien bezogen sein; woher das stark vertretene Silber stammt-vielfach im Elektron mit Gold gemischt, wie auch sonst in Kleinasien –, ist hier wie überall ebenso unbekannt, wie die Heimat des in der Bronze dem Kupfer beigemischten Zinns. Daneben finden sich Stabknäufe aus Bergkristall, Perlen und Ketten aus Blaustein, Karneol, auch Fayence (§ 499). Auch die großen Axthämmer (§ 494) gehören hierher. Der Reichtum an Edelmetallen und anderen Kostbarkeiten tritt uns anschaulich in mehreren großen Schatzfunden entgegen; zum Teil waren sie in Tongefäße verpackt oder auch in den Häusern vermauert. Es sind die Schätze der Fürsten und ihrer Frauen, zugleich der sichtbare Ausdruck ihrer Macht und ihres Glanzes und ein unentbehrliches Mittel, Anhänger zu werben und Dienste zu belohnen. Mehrfach finden sich Becher, Schalen, Krüge aus Silber, Elektron und Gold, durchweg in einfachen aber [745] gefälligen Formen ohne weitere Verzierung; eine reiche Ornamentik zeigen dagegen die Diademe und Halsbänder, die Haarnadeln, die Ohrringe mit langen Gehängen aus Goldblech, die Armringe u.ä. Hier begegnet uns neben der Rosette die Spirale, die sich aus dem Ausziehen des Goldes in lange dünne Drähte, die aufgerollt werden, entwickelt hat (vgl. § 512 A.); aus solchen Drähten sind auch die zahlreichen Locken- und Ohrringe gearbeitet. Eine Eigentümlichkeit der troischen Ornamentik ist, damit kleine Nachbildungen von Vasen zu verbinden; sie finden sich als Köpfe von Nadeln teils allein, teils zwischen Spiralen; einmal steht auch eine ganze Reihe auf dem mit Spiralen verzierten Griff einer großen Haarnadel. Auch ein stilisierter goldener Adler hat sich gefunden.


Die Behauptung SCHLIEMANNS, daß die Funde der »zweiten Stadt« aus reinem Kupfer, höchstens mit sehr geringem Zinngehalt, beständen, ist nach GÖTZE (Troja und Ilion 366f.) irrtümlich; sie bestehen aus echter Bronze mit 8-11% Zinnbeimischung.


496. Auf einigen Spinnwirteln finden sich Reihen von Zeichen, die aus willkürlichen Kombinationen von Strichen bestehen und den Eindruck von Schrift machen. Es ist indessen sehr fraglich, ob den Trojanern der zweiten Stadt wirklich Kenntnis und Übung der Schrift zuzuschreiben ist, und ob es sich hier nicht doch nur um Launen phantastischer Dekoration handelt, angeregt vielleicht dadurch, daß man gelegentlich Schriftzeichen der Kulturländer gesehen hatte; denn ähnliche Zeichen, die sich auf dem Hals von Krügen finden, sind offenbar keine Schrift, sondern nur eingeritzte rohe Ornamente. Noch wesentlicher scheint, daß zwei Cylinder aus Feldspat und einer aus Ton keine Schrift zeigen, sondern nur Rosetten und baumartige Strichmuster, und daß die gelegentlich vorkommenden Tonkegel, die gleichfalls als Siegel dienten, lediglich mit willkürlich zusammengestellten Strichen bedeckt sind, die sehr wohl als Eigentumsmarke verwendbar waren, aber sicher nicht Schriftzeichen sind. Nahe verwandt sind die strichartigen [746] Abzeichen auf manchem der älteren kretischen Siegel (§ 510). Unmöglich ist es allerdings nicht, daß einige dieser Figuren auf den Spinnwirteln doch schon eine bestimmte Bedeutung hatten und Wörter oder Namen bezeichneten; diese Schriftansätze mögen dann mit den Schriftanfängen auf Kreta und weiter vielleicht mit der chetitischen Kursive und auch mit der cyprischen Schrift zusammenhängen. Doch ist darüber gegenwärtig noch nichts Sicheres zu ermitteln.


Über die Schriftzeichen s. SAYCE bei SCHLIEMANN, Ilios S. 766ff. [die Abbildungen sind nicht immer genau]. Die Spinnwirtel: HUBERT SCHMIDT, Schliemanns Sammlung troj. Alt. S. 218 und Taf. VI. Gefäßschalen ib. S. 121. Cylinder ib. S. 303 no. 8868. 8869; SCHLIEMANN, Ilios S. 463f., ebenda die kegelförmigen Siegel [gleichartig vereinzelt auch in Ta'anak: SELLIN, Tell Ta'annek (§ 471 A.) S. 73 no. 98, neben den viel häufigeren Skarabäen]. Nicht hierher gehören die an eine Senkrechte angesetzten parallelen Striche auf manchen Vasen (Katalog S. 90 no. 2027ff.), die vielleicht Maßangaben sind.


497. Als charakteristische Eigenart der troischen Landschaft erscheinen im griechischen Epos wie gegenwärtig die hochaufgeschütteten Grabhügel, teils am Rande des Meeres, teils auf den Höhen, welche die Ebene rings umschließen. Von der Sage werden sie zum Teil als Gräber alter Heroen (Ilos, Aisyetes, Myrine), andere als Gräber im Kampfe gefallener griechischer Helden (Achilleus, Patroklos, Antilochos, Aias, ebenso auf der thrakischen Chersones Protesilaos und Hekabe) bezeichnet; sie ragen also jedenfalls in sehr alte Zeit hinauf, wenn auch die Sitte sich später immer noch erhalten hat. Sie sind durchweg nur sehr ungenügend untersucht; aber wenn die in mehreren von ihnen gefundenen Scherben und Mauerreste zeigen, daß sie der mykenischen oder auch erst der griechischen Zeit angehören, so stammen andere nach Ausweis der Scherben (wenn auch seltsame lokale Variationen vorkommen) aus der Zeit der ersten und zweiten Stadt; einer dieser Hügel, Chanaitepe bei Thymbra, ist Jahrtausende lang von der ältesten bis in die griechische und römische Zeit hinein als Grabstätte benutzt worden. – Gleichartige Grabhügel [747] finden sich, wie überall auf Erden, so auch in Makedonien und Thrakien und besonders zahlreich an der Westküste Kleinasiens im Kaikos- und Hermostal, wo sie in den großen Grabhügeln der lydischen Könige ihre Fortsetzung finden, ferner in den Ebenen Phrygiens. Dem gegenüber ist im Nordosten Kleinasiens, vor allem in Paphlagonien und Kappadokien, dann auch in Phrygien, die in den Felsen gehauene Grabkammer herrschend geworden, die etwa seit dem Beginn des ersten Jahrtausends eine eigenartige architektonische und plastische Dekoration entwickelt hat. Daran schließt dann weiter das freistehende Felsengrab an, das seine höchste Ausbildung in Lykien erhalten hat.


Über die Grabhügel von Troas s. SCHLIEMANN, Ilios S. 721ff. 782ff. (FR. CALVERT, Über den Chanaitepe). Troja S. 271ff. WINNEFELD in Troja und Ilion S. 540ff. Zahlreiche Tumuli in Phrygien: A. KÖRTE, MAI. 24, 6 (gegen G. HIRSCHFELD, Paphlag. Felsengräber, Abh. Berl. Ak. 1885 S. 30).


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 81965, Bd. 1/2, S. 736-748.
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