Individuum und Staat. Die politischen Theorien. Isokrates' Panegyrikos

[352] Als das ausschlaggebende Moment im menschlichen Leben hatte sich in der fortschreitenden Entwicklung, so schien es, die [352] mächtige Persönlichkeit erwiesen. Allgemein ist ihre Bedeutung jetzt anerkannt. In Athen wird um den toten Alkibiades nicht minder lebhaft gekämpft als ehemals um den lebenden: ob er ein Genie gewesen sei oder ein gemeiner Verbrecher, ob Athen mit Recht oder zu seinem Verderben ihn von sich gestoßen habe, wird in zahlreichen Abhandlungen leidenschaftlich behandelt. Die Erfolge des Lysander, des Dionys, des Agesilaos, des Konon und Euagoras bringen immer aufs neue zum Bewußtsein, was ein Mann zu leisten vermag, wenn er den Moment richtig zu ergreifen versteht. Beim Tode des Euagoras stellte Isokrates die Forderung, daß die Schriftsteller der Gegenwart das Lob eines bedeutenden Mannes nicht mehr den Dichtern überlassen dürften. Sein biographischer Nekrolog ist freilich schwach genug ausgefallen (o. S. 191, 1). Aber er hat zahlreiche Nachfolger gefunden; als ein Jahrzehnt später Xenophons Sohn Gryllos bei Mantinea gefallen war (u. S. 456), erschienen »unzählige Lobschriften und Nekrologe« auf den braven jungen Mann605. In der Geschichtsschreibung tritt, im Gegensatz zu Thukydides' zurückhaltender Art, das persönliche Element immer stärker hervor. Philistos' Geschichte Siziliens setzte sich in ihrem zweiten Teil notwendig um in eine Biographie des Dionys, der auch die üblichen Vorzeichen und Wunder bei seiner Geburt nicht fehlten (o. S. 73, 2). Xenophon, der Reaktionär, hat nicht nur in der Anabasis dem Kyros und den griechischen Heerführern eine ausführliche Charakteristik gewidmet und von seinen eigenen persönlichen Erlebnissen sehr eingehend berichtet und nach Agesilaos' Tode dessen Biographie geschrieben; sondern auch in seiner Griechischen Geschichte bricht immer wieder der Trieb hervor, charakteristische Einzelheiten und Anekdoten mitzuteilen, die nur für die Persönlichkeit, nicht aber für den Gang der politischen Ereignisse Bedeutung haben, so sehr der Schriftsteller [353] sich bewußt ist, daß er sich damit über die Gesetze des historischen Stils hinwegsetzt, die er von Thukydides übernommen hat606. Geradezu bahnbrechend aber ist der sokratische Dialog geworden. Vor allem Plato ist das unübertroffene Muster individueller Charakteristik: immer aufs neue stellt er in seinen Dialogen die Persönlichkeit des großen Lehrers uns vor Augen, wie sie leibt und lebt, und um ihn gruppieren sich in gleich unverwüstlicher Frische die großen Sophisten und all die Gestalten der attischen Gesellschaft, in deren Mitte er gewirkt hat. Auch in der bildenden Kunst wird der Trieb zu charakterisieren vorherrschend (o. S. 318f.); und erst jetzt erhält das Porträt individuelle Züge (Bd. IV 1, 816.). Wie in der Praxis nimmt in der Theorie die Persönlichkeit ihr volles und alleiniges Recht unumwunden in Anspruch: die mächtige Persönlichkeit kennt nur sich selbst, sie hat das Recht, zu herrschen und das Leben in vollen Zügen auszukosten. Die Moral ist nur für die Masse der Dummen und Schwachen, für die Knechtesseelen, nicht für die Herrscher. Diese »Herrenmoral« NIETZSCHES, deren Programm Plato aus dem Munde des Kallikles im Gorgias mit Meisterstrichen ausgeführt hat und die in dem erfolgreichen Usurpator, dem Tyrannen, ihr höchstes Ideal sieht, schrankenlose Sinnenlust bei niedrigen Naturen, unbegrenzte Macht bei höher strebenden, das ist das Ideal, welches unzählige Menschen dieser Zeit unwiderstehlich anlockt; in einer uns erhaltenen Diskussion mit Archytas von Tarent vertritt es Polyarchos607, ein Höfling des Dionys, unter Berufung auf seinen Herrn und den Perserkönig, welche das höchste Glück gewonnen haben, das dem Menschen erreichbar ist. Die hedonistische Moral Aristipps verkündet im Grunde dasselbe Programm, nur in abgeschwächter Gestalt: den Gefahren sich auszusetzen, welche das [354] Streben ins Ungemessene bringt, im politischen Leben wie im Sinnengenuß, hat keinen Sinn, man wird dann die unvermeidlichen Rückschläge nur um so schwerer empfinden. Nur das Gegenbild dazu ist die Moral Demokrits sowohl wie die des Kynismus: sie stellen höhere Forderungen und erkennen die Verbindlichkeit des Sittengesetzes unumschränkt an; aber ihr Ziel ist nur der Einzelne und sein Glück, nicht die Gesamtheit. Diese Systeme führen in ihrer letzten Konsequenz wie das Aristipps zur Loslösung des Einzelnen vom Staat und zum Kosmopolitismus, dort in einem behaglichen Genußleben, hier in Weltflucht. Plato hat wie Sokrates die individualistische Auffassung, mag sie im moralischen Gewande erscheinen oder die Moral negieren, als unwahr verworfen: denn nur in der Gemeinschaft, d.h. im Staat, kann der Mensch existieren und seine Lebensaufgabe erfüllen. Wie der Mensch durch richtige Erziehung so geleitet werden kann, daß er in dem Nutzen der Gesamtheit zugleich seinen eigenen wahren Nutzen erkennt, so daß individuelle und soziale Moral zusammenfallen, das ist das große Problem, mit dem Plato ringt.

Den Individuen gegenüber steht der Staat, der sie dem Zwange des Rechts unterwirft, das sie alle nur als Glieder der Gesamtheit anerkennt. Er befindet sich jetzt in einer schweren Krise. Die wirtschaftlichen und politischen Gegensätze haben seine innere Einheit zerrissen und seine Gestalt ununterbrochen den heftigsten Schwankungen ausgesetzt; der Individualismus aber will die Staatsidee überhaupt aufheben, sei es, daß er den konkreten Staat seinen egoistischen Zwecken zu unterwerfen strebt, sei es, daß er sich ganz von ihm zurückzieht und fordert, daß er ihn unbehelligt seine Wege gehen lasse. Mit der inneren Zersetzung verbindet sich die äußere Krisis, welche nicht wenige Staaten verschlingt und die übrigen fast alle zur Ohnmacht und Abhängigkeit von fremder Gewalt verurteilt. So erhebt sich die Frage, ob sich nicht eine Staatsform finden läßt, welche aus dem Elend der Gegenwart herausführt und aufs neue dauerhafte, geordnete, glückliche Zustände schaffen kann. Aus der Notlage der Zeit heraus ist die politische Theorie der Griechen geboren, selbst, ohne es zu wissen, der deutlichste Beweis für die Zersetzung des alten [355] Staatsbegriffs: denn sie betrachtet die Staatsordnung nicht mehr als etwas Naturwüchsiges und Gegebenes, sondern als ein Kunstpordukt, welches beliebig lediglich nach dem Willen des Gesetzgebers so oder so gestaltet werden kann; sie will die Normen aufstellen, nach denen dieses Menschenwerk am zweckmäßigsten eingerichtet wird. Der einzige Staat, der sich dauernd bewährt hat, ist der spartanische608; wo alles ringsum zusammenstürzt, steht er allein unerschüttert durch Jahrhunderte, in festen, wie es scheint, unabänderlichen Ordnungen. So ist es natürlich, daß die Theorie zunächst in ihm die Norm stellt und Hand in Hand geht mit der politischen Reaktion, welche Sparta durchführt. Überdies legt Sparta, wie die Theorie fordert, das Hauptgewicht auf die Erziehung; Lykurgos, wie die Legende ihn bildet, hat bereits erkannt, daß nur durch sie die Schöpfung des wahren Bürgers, der sich freiwillig dem Gesetz unterordnet, und damit die allein wahre Freiheit zu erreichen ist, und so hat er verwirklicht, was die Gegenwart erstreben muß und trotz aller Bemühungen doch nicht erreichen kann. So erscheint denn eine Schrift über die spartanische Staatsordnung nach der anderen609. Daß sie in ihrer gegenwärtigen Gestalt dem Ideal nicht mehr vollständig entspricht, muß man allerdings anerkennen: die Kämpfe, die im Inneren des Staates um seine richtige Gestaltung geführt werden, setzen sich fort in der theoretischen Diskussion. König Pausanias fordert Beseitigung der Neuerungen, welche den Staat verderbt haben, und Rückkehr zu den Weisungen der Orakel, welche Lykurg aus dem Munde der Pythia erhalten hat (o. S. 29); Thibron, der gewandte Schüler Lysanders (o. S. 185f. 253), stellt die militärische Erziehung Spartas als die unerschütterliche Grundlage seiner Herrschaft dar; Xenophon entwirft, als Spartas Macht bereits ins Wanken kam (um 375), ein Idealbild seiner Erziehung und seiner militärischen Ordnungen, wenn er auch zugeben muß, daß die Gegenwart von ihnen abgewichen ist. In anderen Schriften wurde erörtert, ob die Beschränkung [356] des Königtums durch die volkstümliche Gewalt der Ephoren ursprünglich und ob sie ein Segen oder ein Verderb gewesen sei, wie die ursprüngliche Gleichheit des Besitzes entstanden und wie sie wiederherzustellen sei, und daneben untersucht, ob Lykurg seine Satzungen mit Hilfe Apollos selbständig gefunden oder ob er sie aus anderen Staaten entlehnt habe, aus Kreta oder aus Ägypten, wo ähnliche Einrichtungen bestehen. Die Theoretiker suchen noch vollkommenere Gestaltungen zu ersinnen; aber auch Platos bester Staat ist nur eine Verbesserung des lykurgischen Staats, welche die Einrichtungen Spartas überall rücksichtslos bis ins letzte Extrem durchführt, die scharfe Sonderung der drei Stände, der regierenden Philosophen (= Könige und Geronten), des lediglich dem Kriegerberuf lebenden, aber nicht durch Erwerb befleckten Wehrstandes (= spartiatische Vollbürger) und des politisch rechtlosen Nährstandes der Bauern und Gewerbetreibenden (= Heloten und Periöken); ebenso die Gütergemeinschaft und die herdenmäßige Erziehung der Jugend durch den Staat, nicht durch die Familie, was Plato zu voller Aufhebung der Familie und zur Weibergemeinschaft mit einer vom Staat geregelten geschlechtlichen Zuchtwahl steigert. Der spartanische Staat ist nach Plato die beste der verfehlten Staatsformen (o. S. 348); und auch Antisthenes erkennt an, daß der spartanische Staat allen anderen weit überlegen ist und sich zu Athen verhält »wie eine Männerversammlung zu den Weibern im Frauengemach«; die Spartaner sind ihm die Pädagogen von Hellas, die übrigen Staaten die Kinder, die sich gegen den Lehrmeister auflehnen610.

Aber der Erfolg, so stark er die Gestaltung der Theorie beeinflußt hat, ist keineswegs das Entscheidende gewesen. Vielmehr, da die moderne, individualistische, zersetzende Tendenz ihr Ideal erreicht entweder in der Herrschaft eines einzelnen oder einiger weniger, welche die gesetzliche Ordnung zu ihren Gunsten durchbrechen (Tyrannis und Oligarchie), oder in der Herrschaft des Pöbels und der Demagogen, welche sich ebenso unbedenklich [357] über Recht und Gesetz hinwegsetzen, um den Staat auszubeuten, so muß die Theorie, welche nur diejenige Staatsordnung anerkennen kann, die allein das Wohl der Gesamtheit erstrebt, mag die Gewalt in den Händen eines einzelnen oder einer wahren Aristokratie liegen, notwendig einen reaktionären Charakter tragen. Sie möchte die Zustände der Vorzeit wiederherstellen, die im Gegensatz zu dem Elend der Gegenwart in den glänzendsten Farben erschien. So führt sie wie die politische Reaktion zunächst den Kampf des Agrarstaats gegen die moderne kapitalistische Entwicklung, welche in den Städten die volle Herrschaft gewonnen hat, mag die Form der Verfassung sein, welche sie wolle. Darin aber steckt der innere Widerspruch, der allen diesen Bestrebungen anhaftet und sie sämtlich von vornherein zum Scheitern verurteilt hat. Denn wie die Praxis der Reaktion ist auch ihre Theorie, ohne es zu ahnen, vollständig durchsetzt vom modernen Leben und von den Anschauungen des Kapitalismus. Platos Staat ist tatsächlich nichts weniger als der alte naturwüchsige Agrarstaat mit seinen patriarchalischen Ordnungen; sondern er hat die moderne, städtische Kultur zur Voraussetzung. Die Bedeutung des in der gemeinen Praxis freilich unentbehrlichen Erwerbslebens erkennt er für den Staat überhaupt nicht an, und von dem modernen kapitalistischen Betrieb will er nichts wissen; trotzdem sieht er auf das Leben der Bauern und Handwerker voll Verachtung herab, weil es ungebildet und sklavisch ist. Seine Philosophen und Krieger sind in Wahrheit nichts anderes als die gebildeten Menschen aus der Stadt, welche von ihren Einkünften, d.h. von ihren Zinsen leben und deshalb herrschen und das Leben genießen können, ohne zu arbeiten, ganz so wie die Oligarchen, die jetzt in den Städten die Herrschaft haben – nur daß bei Plato das Ideal der geistige, bei diesen der materielle Genuß ist. Darum ist jeder seiner Staatsentwürfe, mag er auch in der gemilderten Form der »Gesetze« auftreten, notwendig utopisch; darum trägt er, trotz aller Begeisterung seines Schöpfers, im letzten Grunde die Züge greisenhafter Erstarrung, die alles peinlich reglementiert und ein frisches, innerlich bewegtes Leben nicht mehr ertragen kann: der ägyptische Kastenstaat – wir würden sagen der chinesische Staat – kommt seinem Ideale am nächsten.

[358] Die Theorie hält die richtige Lösung der Verfassungsfrage für die Aufgabe des Staats; wenn Plato oder einer seiner Gesinnungsgenossen die Macht in Händen hat, wird er alle Kräfte daransetzen, sie zu erfüllen. Aber Selbstzweck ist ihm die Macht nicht; der Idealstaat ist der alte Kleinstaat und darf nur der Kleinstaat sein, denn jede Herrschaft über andere ist Unrecht und Entartung. In der Entwicklung zur Seeherrschaft und damit zur Großmacht lag der Fluch Athens; dadurch ist es innerlich korrumpiert und äußerlich zugrunde gegangen. Die ganze bisherige Entwicklung Griechenlands, auf der seine Größe beruht, wird schlechthin verurteilt. Die »Untätigkeit nach außen« (ἀπραγμοσύνη), die Thukydides verspottet und für den wahren Staat für unmöglich erklärt, der Verzicht auf jede Macht und auf jede äußere Politik, außer soweit sie zur Abwehr feindlicher Angriffe nötig ist, das ist das Ideal dieser Theorie. Wer dagegen im praktischen Leben steht und weiß, daß der Staatsmann ununterbrochen folgenschwere Entschlüsse zu fassen hat, von denen nur zu oft die Existenz des Staates abhängt, der erkennt, daß es sich in Wahrheit gerade umgekehrt verhält, daß die Macht das eigentliche Wesen des Staates ist und daß eine den gegebenen Verhältnissen richtig angepaßte Verfassung nur eins der Mittel ist, seine Macht zu entwickeln und zu mehren. Die äußere Politik ist der Nerv des Staates, nicht die innere. Die Zeiten waren längst vorbei, wo die Staaten noch im wesentlichen isoliert nebeneinander standen wie auf abgelegenen Inseln und nur gelegentlich einmal in einen Konflikt miteinander gerieten, in dem sie sich meist das Gleichgewicht halten konnten, weil ihre materiellen Kräfte noch fast gleich waren. Je weiter die Kultur fortschreitet, desto größer und desto ungleichartiger werden die Verhältnisse, und desto mehr wird das Leben des Staats ein fortwährendes Ringen um die Behauptung und Mehrung seiner Macht. Hier liegt der Schwerpunkt jeder praktischen Politik, die der Nation helfen soll, und nicht in den Verfassungsfragen. Allerdings um sich behaupten zu können namentlich gegen die widerstrebenden Elemente in seinem Inneren, bedarf der Staat einer Autorität, die groß genug ist, daß all seine Angehörigen sich ihr fügen und das Staatswohl über das Interesse der Person und [359] der Partei stellen. Diese gefestigte Stellung des eigenen Staats ist der Gegenwart fast völlig verlorengegangen, aber weit weniger, weil die Verfassungen schlecht waren, als weil die Staaten machtlos geworden sind: die mächtigsten Staaten, Sparta und Athen, haben sich auch nach innen als die stärksten erwiesen, und in Athen sind die Revolutionen erst ausgebrochen, als die Macht des Staates zusammenbrach. Wie eine solche Macht von neuem geschaffen werden kann, wie es möglich ist, »über Willige zu herrschen« (ἐϑελόντων ἄρχειν), das ist das Problem, dem Xenophon zeitlebens nachgehangen hat; die tatkräftige, im richtigen Handeln bewährte Persönlichkeit ist sein Ideal, nicht der intelligente und daher tugendhafte Theoretiker, dessen politische Wirksamkeit nach außen immer nur negativ sein kann. Als auch die Macht Spartas darniedersinkt, sucht er die Lösung in der Bildung einer festgefügten und siegreichen Militärmacht und einem genialen Heerführer und Organisator; am Ende seines langen Lebens hat er die Schöpfung eines mächtigen Militärstaats aus den unbedeutendsten Anfängen in einem didaktischen Roman methodisch darzulegen versucht, zu dessen Helden er den Gründer des großen, auch in seinem Verfall noch allen Erschütterungen standhaltenden persischen Weltreichs wählte. Das ist das notwendige Endergebnis der griechischen Verfassungsentwicklung: wo alles zusammenbricht, bleibt als einzige Rettung die absolute Militärmonarchie, wie sie Dionys von Sizilien, der verabscheute Despot, aufgerichtet hat. Auch Plato hat das anerkennen müssen, indem er immer bestimmter all seine Hoffnungen nicht mehr auf einen freien Verband intelligenter und uneigennütziger Männer setzt, sondern auf einen aufgeklärten Despoten, der die Ideen des Gesetzgebers annimmt und seinen Untertanen aufzwingt und so eine gesetzmäßige Ordnung herstellt. An der Erwartung, daß so doch noch einmal sein Ideal sich werde erfüllen lassen, hat er festgehalten, auch als der Versuch, es durch Dionys II. und dann durch Dio zu erreichen, vollständig gescheitert war.

Auch für Isokrates und seine praktische Politik stehen die Verfassungsfragen in zweiter Linie. Er kann einem absoluten Monarchen, wie Nikokles von Salamis, ebensogut Ratschläge [360] erteilen wie Sparta und der athenischen Demokratie, und fanatische Oligarchen und Spartanerfreunde, wie z.B. Theopompos von Chios, sind ebensogut unter seinen Schülern wie Prinzen und Demokraten. Was er bekämpft, ist die verblendete Selbstsucht, welche das wahre Interesse des herrschenden Politikers nicht minder verkennt als das seines Staats; beides ist auch ihm untrennbar verbunden. Bei vernünftiger Handhabung des Regiments dagegen läßt sich unter jeder Verfassung Nützliches erreichen. Aber Isokrates kennt ein höheres Ziel als das Gedeihen des Einzelstaats: die Not von ganz Hellas, die innere Verwüstung, die Auslieferung der asiatischen Griechen an die Barbaren, die ziellose Politik der Gegenwart, die sich in kleinlicher Selbstsucht und nutzlosem Hader verzehrt, wo die größten Aufgaben gestellt sind und die Hellenen die Weltherrschaft erringen könnten, wenn sie nur einig wären – das sind die Sorgen, die ihm am Herzen liegen. Hier will er helfen, da er es nicht als handelnder Staatsmann kann, so als Ratgeber und Mahner durch die Macht seines Worts. Je länger er diesen Fragen nachhängt, desto mehr hat er die Bedeutung der Macht für die Ausführung seines Programms anerkannt, und der Reihe nach hat er sich an jede griechische Macht gewandt, mochte sie sonst beschaffen sein, wie sie wollte. Zunächst aber setzte er seine Hoffnung auf die Wiederherstellung der Machtverhältnisse der Vergangenheit, die ein Jahrhundert zuvor im Perserkriege sich so herrlich bewährt hatten. Sparta hat seine großen Verdienste; wenn es seine Macht gegenwärtig in eigennützigster Weise mißbraucht, so kann doch kein Mensch daran denken, sie ihm zu entreißen und dadurch Griechenland noch schwächer zu machen, als es jetzt schon ist. Aber die Zwingherrschaft, die es ausübt, ist allerdings unerträglich und die Ohnmacht Athens das schwerste Unglück von Hellas. Die Seemacht Athens und damit den alten Dualismus wiederherzustellen, soll die nächste Aufgabe der nationalen Politik sein; wenn dann beide Staaten sich einigen und das Kommando teilen, Sparta zu Lande, Athen zur See, dann kann auch die Zeit der Perserkriege wiederkehren und die dringende nationale Aufgabe der Befreiung der asiatischen Hellenen und der Eroberung der westlichen Provinzen des Perserreichs [361] wieder aufgenommen werden. – Das sind die Gedanken, die Isokrates in der ersten seiner großen politischen Broschüren, dem Panegyrikos611, im Sommer 380 der Nation vorgelegt hat, formell anknüpfend an eine Festrede, die etwa ein Menschenalter zuvor (wahrscheinlich 408) Gorgias in Olympia gehalten und in der er zur Beilegung des Bruderkriegs und zum Kampf gegen die Barbaren gemahnt hatte. Das gebildete Publikum von Hellas für den Gedanken einer Wiederherstellung der athenischen Herrschaft zur See, in verbesserter Gestalt, unter Abstellung aller Beschwerden, zu gewinnen, ist die nächste Aufgabe der Schrift; deshalb werden die Vorwürfe der Gegner widerlegt, Athens Vorgehen entschuldigt, seine großen politischen und kulturellen Leistungen in glänzenden Farben gezeichnet, während die Führung der Herrschaft durch Sparta, wenn auch in schonender Form, im schlimmsten Lichte erscheint. Sehr geschickt versteht der Verfasser, die Schuld an dem letzten Kriege und der gegenwärtigen Lage, der Oberherrschaft des Perserkönigs, allein Sparta aufzubürden, während doch tatsächlich Athen und seine Genossen sich im Bunde mit Persien gegen Sparta [362] erhoben haben, als dies den Nationalkrieg gegen Persien führte. Die Schrift hat eine gewaltige Wirkung ausgeübt; sie erhob Isokrates mit einem Schlage zu dem ersten der lebenden Publizisten. Ohne Zweifel ist sie im Einverständnis mit den maßgebenden Staatsmännern Athens geschrieben, vor allem wohl mit Isokrates' Schüler und Freund Timotheos, dem Sohne Konons, der sich berufen fühlte, das Werk seines Vaters fortzusetzen und der leitende Staatsmann des neuen Reichs zu werden. Sie enthält die Ankündigung, daß Athen, durch die Friedensjahre gestärkt, die erste Gelegenheit zu dem Versuch der Wiederaufrichtung seiner Seeherrschaft benutzen werde. Das bedeutete einen neuen Krieg gegen Sparta; denn der Illusion, daß Sparta sich durch Isokrates' schön abgerundete Perioden zu einem freiwilligen Verzicht auf die bisherige Alleinherrschaft werde bewegen lassen, kann sich auch der Schriftsteller selbst nicht hingegeben haben, so sehr er bereit ist, die Macht der Rede aufs gewaltigste zu überschätzen. Aber das Ziel ist nicht der Krieg, sondern nach demselben die Versöhnung und dann die Aufnahme des gemeinsamen Nationalkriegs gegen Persien. – Die Zeit, wo die Gelegenheit sich bot, war näher, als Isokrates und seine Gesinnungsgenossen ahnen mochten; die Probe stand bevor, ob es gelingen werde, mit dem neuen Programm Hellas aus seiner Notlage zu erlösen.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 352-364.
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