Die Befreiung Siziliens

[498] Der Versuch einer friedlichen Reform war gescheitert; so folgte der Versuch, sie mit den Waffen durchzusetzen. Schon bei der Olympienfeier 360936 erklärte Dion, daß er jetzt erzwingen wolle, was ihm verweigert werde; er begann mit seinem Bruder Megakles zusammen überall in Griechenland Anhänger zu werben. Die Akademie stellte ihm ihren ganzen Einfluß zur Verfügung. Plato selbst hielt sich zurück937; aber um so eifriger war Speusippos tätig – man kann es Dionys nicht verargen, daß er Plato darüber schwere Vorwürfe machte und schließlich völlig mit ihm brach. Außer zahlreichen Athenern – darunter Kallippos938, bei dem Dion gewohnt hatte, und sein Bruder Philostratos939 – wurden Eudemos von Kypros940, der Freund des jungen Aristoteles, Miltas, der thessalische Zeichendeuter, Timonides von Leukas gewonnen. Auch Heraklides941 und Theodotes (o. S. 496) verbanden sich mit Dion für die gemeinsame Sache; sie bereisten den Peloponnes942 und wurden überall mit hohen Ehren aufgenommen, ja Sparta erteilte Dion das Bürgerrecht943. Die übrigen Exulanten freilich hatten kein Zutrauen zu der Sache; nur 25 von etwa 1000 erklärten sich zur Teilnahme bereit. Nur um so deutlicher tritt der Grundcharakter der Bewegung hervor. Mochten auch persönliche Interessen mitspielen, in der Hauptsache handelt es sich um ein durchaus idealistisches Unternehmen. [499] Mit voller Begeisterung ging Dion in den Kampf: »er wolle mit Freuden sterben«, erklärte er, »wenn er bei einem solchen Werk auch nur den Fuß auf sizilischen Boden habe setzen können«944. Die geläuterte politische Theorie erhob sich gegen die entartete und unwürdige Gestaltung des Staats; sie machte den Versuch, den stärksten aller griechischen Staaten in ihre Hand zu bekommen, um hier, im Vollbesitze der Macht, durch eine systematische Umgestaltung von oben herab ihr Ideal in Wirklichkeit umzusetzen945.

Über den Vorbereitungen sind Jahre vergangen; im Sommer 357 waren die Rüstungen vollendet. Zum Sammelpunkt hatte Dion Zakynthos bestimmt. Freilich brach in seinem Anhang sofort Zwiespalt aus: Heraklides wollte von den Idealen der Akademie nichts wissen und sich Dion nicht unterordnen, sondern blieb im Peloponnes zurück, um das Befreiungswerk auf eigene Hand zu versuchen946. So hatte Dion noch nicht 800 Söldner bei sich; nur mit Mühe konnten er und der achäische Staatsmann Alkimenes, der das Unternehmen nach Kräften förderte, sie beschwichtigen und sie festhalten, als sie erfuhren, daß diese winzige Schar bestimmt [500] sei, das mächtigste Reich der griechischen Welt umzustürzen. Aber mit vollem Recht rechnete Dion, daß die Macht des Herrschers morsch und von ihm selbst unterwühlt sei; es bedürfe nur eines Anstoßes, so werde sie zusammenbrechen. Am 9. August 357947 brach er von Zakynthos auf mit zwei Kauffahrern und drei mit Rüstungen beladenen Booten. Die gewöhnliche Route längs der Küste konnte er nicht einschlagen, da Philistos ihm mit der Flotte am Japygischen Vorgebirge auflauerte; er mußte den Kurs über das offene Meer nehmen. Dabei erging es ihm ähnlich wie den Peloponnesiern im J. 413 (Bd. IV 2, 246); schon hatte er das Vorgebirge Pachynon erreicht, als er vom Sturm in das Syrtenmeer verschlagen wurde. Schließlich gelangte er aber doch nach Minoa, der Grenzstadt der karthagischen Provinz. Der Kommandant Synalos nahm ihn freundlich auf. Die Soldaten selbst drängten zum raschen Vormarsch; unter Zurücklassung der mitgeführten Rüstungen gingen sie sofort gegen Syrakus vor. Unterwegs erhielten sie Zuzug von Agrigent, Gela, Kamarina; in wenig Tagen war Dions Macht auf 5000 Mann angewachsen, die meist freilich nur schlecht bewaffnet waren. Dionys hatte einen Angriff von dieser Seite nicht erwartet; er selbst war kurz zuvor mit 80 Schiffen nach Italien gefahren, und die erste Depesche, die ihm nachgesandt wurde, ging unterwegs verloren. Der Stadtkommandant Timokrates, jetzt mit Dions Gemahlin Arete vermählt, erwies sich unfähig, die Verteidigung zu organisieren, zumal auch in der Stadt der Aufstand ausbrach; er flüchtete zu Dionys, und Dion konnte [501] ohne Kampf in Syrakus einziehen, während der Pöbel über die Spione des Tyrannen herfiel und die Habe seiner Anhänger plünderte. Dion berief eine Volksversammlung und verkündete den Syrakusanern, daß nach 48jähriger Knechtschaft der Tag der Freiheit gekommen sei. Er selbst und sein Bruder Megakles wurden zu Strategen mit unumschränkter Macht erwählt und ihnen auf ihren Wunsch 20 Beamte, 10 aus den Exulanten und 10 aus der Stadt, zur Seite gestellt. Alsbald trafen auch die Rüstungen aus Minoa ein und ermöglichten die Bewaffnung eines Teils der Bürger, während die anderen sich rüsteten, so gut es gehen mochte.

Die schwerste Aufgabe stand freilich noch bevor. Zwar war fast die ganze Insel (auch die Militärkolonie Leontini) in den Händen der Aufständischen, und Dionys' Truppen hatten die weit ausgedehnte Neustadt von Syrakus geräumt; aber die feste Burg und die Altstadt auf der Insel wurden von ihnen gehalten. Jetzt kehrte auch Dionys mit der Flotte aus Italien heim. Er bot zunächst Konzessionen; als das abgewiesen wurde, lockte er durch das Anerbieten, über die Bedingungen, unter denen er seine Gewalt niederlegen wolle, zu verhandeln, syrakusanische Gesandte zu sich und ließ dann seine Söldner einen plötzlichen Ausfall unternehmen. Sie durchbrachen die von den Syrakusanern aufgeführte Mauer und drangen in die sorglose Stadt ein. Fast wäre das Unternehmen geglückt; nur durch die Tapferkeit Dions und die Standhaftigkeit der kriegserfahrenen Truppen, die er mitgebracht hatte, wurde das Gefecht wiederhergestellt und die Barbaren schließlich zurückgeschlagen948. Dionys entließ die Gesandten; zugleich aber suchte er durch gefälschte Briefe an Dion unter dem Namen seines Sohnes Hipparinos, deren Verlesung die Volksversammlung verlangte, Mißtrauen zwischen die Gegner zu säen. Er erreichte seinen Zweck um so leichter, da Dion gar kein Hehl machte, daß seine Absicht sei, das Regiment fest in der Hand zu behalten wie Lykurg und Kyros, die Plato ihm als Muster vorhielt (ep. 4, vgl. die ‹Gesetze›), und keineswegs die Pöbelherrschaft herzustellen, [502] sondern die echte Aristokratie. Er hielt sich Leibwächter wie die Tyrannen; und durch stolzes und selbstbewußtes Auftreten entfremdete er sich viele, die sich einer gewinnenderen Persönlichkeit gefügt hätten. Als jetzt Heraklides mit 7 Schiffen in Syrakus eintraf, kam der Konflikt zum Ausbruch; er trat an die Spitze der Volkspartei und wurde zum Admiral bestellt. Darin sah Dion einen Eingriff in die ihm übertragenen Rechte; und da er die Macht noch in Händen hatte, mußten die Syrakusaner Heraklides wieder absetzen. Dion versuchte den Rivalen zu gewinnen: er übertrug ihm selbst das Kommando zur See und gestattete ihm, sich gleichfalls Leibwächter zu halten. Aber Heraklides fuhr fort, die Opposition zu schüren. In der Volksversammlung wurden Stimmen laut, man habe nur den trunkenen Tyrannen gegen einen weit gefährlicheren nüchternen vertauscht; ein gewisser Sosis erhob Klage, er sei von den fremden Soldaten mißhandelt und verwundet worden. Ihn vermochte Dion freilich als Betrüger zu entlarven; aber es war klar, daß er schon jetzt seiner Macht wäre entkleidet worden, hätte er nicht in den Söldnern eine feste Stütze besessen, an die die Gegner sich noch nicht heranwagten949.

Inzwischen war der Krieg ins Stocken geraten. Dionys suchte sich durch Piraterie950 zu verproviantieren; die Syrakusaner begannen, eine Flotte zu bauen. Philistos war aus Italien zurückgekehrt und hatte neue Truppen mitgebracht, mit denen er vergeblich Leontini wiederzuerobern versuchte. Im J. 356 kam es zu einer Seeschlacht zwischen Heraklides und Philistos; die Schiffe des Tyrannen wurden geschlagen, und Philistos selbst fiel in die Hände seiner Gegner, die ihn auf das schmählichste mißhandelten und noch an dem Leichnam ihre Wut ausließen. – Der Verlust der Seeschlacht und der Tod seines treuesten und begabtesten Anhängers zeigten Dionys, daß er seine Stellung in der Festung, der die Zufuhr unterbunden war, in der bisherigen Weise [503] nicht mehr aufrechterhalten könne; er bot Dion noch einmal ein Abkommen auf billige Bedingungen, und als das abgewiesen wurde, übergab er das Kommando der Burg mit den besten Truppen seinem jungen Sohn Apollokrates und begab sich selbst mit seinen Schätzen in den italischen Teil seines Reichs, den feindlichen Wachtschiffen glücklich entgehend. Die Hoffnung auf einen schließlichen Sieg gab er noch nicht auf; noch verfügte er über reiche Mittel, und zugleich erwartete er Unterstützung von seinen alten Bundesgenossen, den Spartanern. – In Syrakus brachte der Seesieg den inneren Gegensatz zu offenem Ausbruch. Heraklides' Ansehen wuchs, Dions und der Landtruppen glaubte man jetzt nicht mehr zu bedürfen. Auf Heraklides' Betreiben brachte Hippon den Antrag auf eine neue Landaufteilung ein. Als Dion sich widersetzte, wurde ihm das Kommando aberkannt und seinen Truppen der Sold entzogen; zugleich aber bot man ihnen insgeheim das Bürgerrecht und Anteil am Land, wenn sie Dion verlassen wollten. Sie blieben treu; mit Dion zusammen räumten sie die Stadt, die zu befreien sie gekommen waren. Auf dem Abmarsch wurden sie von der Bürgermiliz zweimal angegriffen; aber als sie sich formierten und einen Vorstoß machten, stob dieselbe auseinander. Weiteres Bürgerblut wollte Dion nicht vergießen; er zog mit seiner Schar nach Leontini, wo sie mit offenen Armen aufgenommen wurden. Auch die übrigen Städte Siziliens traten auf ihre Seite; der alte Gegensatz gegen Syrakus trat aufs neue ins Leben951.

Zum zweitenmal war der Reformversuch gescheitert, diesmal [504] an dem Widerstand der Masse, die sich nicht zum Objekt staatswissenschaftlicher Experimente hergeben wollte. Die neue Regierung von 25 Strategen952 – man sieht, wie sich die Demokratie im Mißtrauen gegen die Amtsgewalt gar nicht genug tun konnte – mit Heraklides an der Spitze sollte bald in die Lage kommen zu zeigen, was sie leisten könne. Dionys schickte von Lokri aus den Neapolitaner Nypsios mit Schiffen und Proviant nach der Inselstadt, die durch den Mangel an Zufuhr in arge Not geraten war. Diesem gelang es zu landen und die Lebensmittel auszuschiffen; dabei wurde er allerdings von den Feinden angegriffen und verlor einen Teil seiner Schiffe. Das ausgelassene Siegesfest, das man in der Stadt feierte, benutzte Nypsios zu einem nächtlichen Ausfall. Auch diesmal wurden die Posten überrumpelt, die Sperrmauer überstiegen; die Söldner ergossen sich mordend und raubend durch die Unterstadt und drangen bereits gegen die Höhen von Achradina vor. Der einzige, der Rettung bringen konnte, war Dion; seine Anhänger eilten nach Leontini, ihn herbeizurufen. Dion versagte sich der Heimat nicht, und auch seine peloponnesischen Söldner vergaßen, was man ihnen angetan hatte; in eilendem Marsch traten sie in der nächsten Nacht den Rückweg nach Syrakus an. Hier hatten sich die Söldner doch zu schwach gefühlt, die ausgedehnte Oberstadt zu erobern, und sich gegen Abend in die Burg zurückgezogen; so faßten Heraklides und die Demokraten neuen Mut und beschlossen bereits, Dion nicht einzulassen. Da brach Nypsios von neuem los und trug zum zweiten Male Mord und Brand in die wehrlose Stadt. Jetzt blieb auch den Verstocktesten keine Wahl mehr; Heraklides sandte seinen Oheim Theodotes und seinen eigenen Bruder, Dion um Hilfe anzuflehen. Die Truppen beschleunigten ihren Marsch nach Kräften; noch im Laufe des zweiten Kampftages trafen sie ein, und nach hartem Straßenkampf, langsam vordringend unter Flammen und Trümmern, gelang es ihnen, die Feinde in die Burg zurückzuwerfen. Dann wurde der Brand [505] gelöscht und die Verschanzung, welche die Feinde absperrte, in stärkerer Gestalt wiederhergestellt953.

Dion hatte es in der Hand, seine Gegner zu vernichten. Aber er hat ein Strafgericht verschmäht; er gab die Hoffnung nicht auf, Heraklides und seinen Anhang durch Nachsicht und Ermahnungen für die richtige Erkenntnis zu gewinnen. Heraklides fügte sich einstweilen; er selbst beantragte die Wiedereinsetzung Dions in sein unumschränktes Feldherrnamt. Als dann freilich die Menge grollte, daß dadurch Heraklides seine Nauarchie verliere, willigte Dion ein, daß auch diese bestätigt wurde. Dagegen bestand er auf der Aufhebung des Gesetzes über die Landaufteilung. Binnen kurzem begann der Hader von neuem. Dionys hatte inzwischen von Sparta Hilfstruppen erhalten unter Führung des Pharax954; und dieser setzte sich im Gebiet von Agrigent fest. Zugleich aber erschien ein Spartaner Gaisylos, um die Dinge auf Sizilien zu ordnen wie ehemals Gylippos. Mit beiden trat Heraklides von Messana aus, wo er mit der Flotte gegen Dionys operierte, in Verbindung: er hatte schon vorher zu Sparta Beziehungen angeknüpft (o. S. 499, 6) und erklärte jetzt Gaisylos für den Bringer der wahren Ordnung im Gegensatz zu dem neuen Tyrannen Dion. Während dieser gegen Pharax ins Feld gerückt war, machte er den Versuch, mit der Flotte in Syrakus einzudringen und sich der Herrschaft zu bemächtigen. Aber Dion erhielt davon Kunde; eiligst zog er nach Syrakus und kam seinem Rivalen um wenige Stunden zuvor. Schließlich vermittelte Gaisylos eine neue Versöhnung der beiden Gegner; er selbst gab seine Rolle auf und trat auf Dions Seite über. Damit hatte Dion das Regiment aufs neue fest in der Hand. Er löste die Flotte auf als den ärgsten Nährboden der Demokratie – ganz nach Platos Lehren – und beschränkte sich [506] auf den Kampf zu Lande. Endlich gelangte er ans Ziel. Apollokrates, der sich nicht mehr halten konnte, kapitulierte auf freien Abzug und übergab die Burg an Dion (354?)955.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 51965, Bd. 5, S. 498-507.
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