Die griechische Welt nach dem Siege

[395] Das Ungeheure war geschehen: an dem Widerstand eines Bruchteils der griechischen Nation war der Angriff des weltbeherrschenden Königs und seiner karthagischen Bundesgenossen zerschellt. Der Heldenmut der freien Bürgerschaften, die Einsicht ihrer Staatsmänner und Feldherren hatten sich glänzend bewährt. Das stolze Gefühl, Taten vollbracht zu haben, wie sie seit den Zeiten der Heroen die Welt nicht gesehen hatte, beseelte alle Teilnehmer am Kampf und verklärte das Andenken derer, die, »als das Geschick von Hellas auf des Messers Schneide stand«, durch einen Heldentod unvergänglichen Nachruhm erlangt hatten. In den kurzen Sprüchen auf den Gräbern der Gefallenen, die kaum je mehr enthalten als den schlichten Hinweis auf den ruhmvollen Kampf, hat die gehobene Stimmung der Zeit einen ergreifenden Ausdruck gefunden. In kostbaren Weihgeschenken aus dem Ertrag der Beute wurde den Göttern der Dank des durch ihr sichtbares Eingreifen befreiten Volkes dargebracht, vor allem dem Zeus von Olympia und, trotz seiner problematischen Haltung, die man jetzt nach dem Ausgang umzudeuten versuchte, dem Apollo von Delphi. Dann ging man daran, die Wunden des Krieges zu heilen, die Beschäftigung des täglichen Lebens wieder aufzunehmen. Man mochte glauben, in die alten Verhältnisse zurückkehren zu können, gestärkt durch die Zuversicht, jetzt jedem Feinde gewachsen zu sein, und gehoben durch das Gefühl hellenischer Waffenbrüderschaft, die alle Rivalität siegreich überwunden hatte. Nicht wenige der Mitkämpfer mochten hoffen, daß die Zeit der hellenischen Kriege überhaupt vorbei und eine dauernde Vereinigung der Staaten, ein friedlicher Ausgleich des alten Haders erreichbar sei. Bestand [395] doch der 480 gegründete Waffenbund weiter493, war doch die Befreiung aller Hellenen mit dem Zuge nach Mykale zwar in Angriff genommen, aber noch keineswegs vollendet. An eine Wiederaufnahme der Fehde zwischen Athen und Ägina z.B. konnte jetzt, wo beide Staaten bei Salamis mit gleicher Tapferkeit gekämpft und Weiber und Kinder der Athener auf der Insel Zuflucht gefunden hatten, kein Mensch denken. Der Zwist zwischen Sparta und Tegea schien in dem festen Zusammenhalt ihrer Truppen bei Platää begraben. Vor allem aber der Bund zwischen Sparta und Athen schien unerschütterlich begründet, seit beide gemeinsam den Krieg durchgeführt hatten, Athen durch Sparta befreit und Sparta durch Athens Hingebung an die Spitze von Hellas geführt war. Wie sollte man nicht auch die weiteren Aufgaben in derselben Gemeinschaft lösen? Die persisch gesinnten Staaten waren zur Ohnmacht verurteilt; daß keiner von ihnen der Vernichtung anheimgefallen war, die man ihnen in der Erbitterung des Kampfes gelobt hatte, war jetzt, wo die Gefahr für alle Zukunft beseitigt schien, nur ein weiterer Gewinn für Hellas. Selbst die Pyläische Amphiktionenversammlung war jetzt eifrig national gesinnt; sie schmückte die Gräber der Helden von Thermopylä mit Grabsteinen und Sprüchen und setzte einen Preis auf den Kopf des Maliers Ephialtes, der die Perser den Weg durchs Gebirge geführt haben sollte. Den Schmerz über das Schicksal seiner Heimat empfand Pindar tief genug; aber er konnte doch aufatmen, »da ein Gott die wie Tantalos' Stein über unseren Häuptern schwebende unbezwingbare Last für Hellas abgewandt hat« (Isthm. 8, 478 v. Chr.). Bald findet er die Stimmung wieder, wie ehemals Thebens Ruhm in der Sagenzeit zu künden und Spartas Zucht und Tapferkeit zu verherrlichen. Aber zugleich hat er in begeisterten Worten das Lob des »glänzenden, veilchenbekränzten, ruhmreichen Athens, der Stütze von Hellas, der göttlichen Stadt« [396] gesungen und im Wetteifer mit Simonides von Keos494, dem Sänger der nationalen Partei, den Tag von Artemision gefeiert, »wo die Söhne Athens den leuchtenden Grund der Freiheit legten«.

Die Wirklichkeit jedoch entsprach diesen Stimmungen nur zum Teil. Die Lage der Nation war von Grund aus umgewandelt. Aus kleinen Anlässen und untergeordneten Konflikten war der Krieg mit Persien zu einem Kampfe erwachsen, bei dem selbst die Frage der politischen Existenz der hellenischen Nation noch nicht das Wichtigste war. Um die ganze zukünftige Gestaltung der Weltgeschicke hatte es sich gehandelt: ob im Bereich der Mittelmeervölker die orientalische Kultur und Sitte herrschen solle oder die griechische, darüber war, mochte auch keiner der Kämpfenden sich dessen bewußt sein, auf den Schlachtfeldern von Salamis, Himera und Platää die Entscheidung gefallen. Das ist das Wesen der großen weltgeschichtlichen Momente, daß ihre Tragweite weit hinausgreift über das, was die Gegenwart bewegt, daß, wie ihre Wirkungen den Verlauf von Jahrtausenden bestimmen, so auch ihre Bedeutung erst von der Nachwelt ganz ermessen werden kann. Durch den Sieg war die hellenische Nation die erste der Welt geworden; von den griechischen Waffen und der griechischen Politik hing fortan der Gang der Weltgeschichte ab. Es galt, das Gewonnene zu behaupten, den Siegespreis zu ergreifen und festzuhalten. Unermeßlich lag die Zukunft vor dem Hellenenvolke, den herrlichsten Gewinn verheißend, aber voll Klippen und Gefahren. Da war eine Rückkehr in die alten Verhältnisse ganz unmöglich. Der enge Gesichtskreis, in dem man aufgewachsen war, war mit einem Schlag gesprengt; schon die Zeitgenossen empfanden, wie scharf die zwei Jahre des »Mederkriegs« Vergangenheit und Zukunft schieden, und der heranwachsenden Generation klang alles, was vor dem Xerxeszug lag, wie eine alte, längst verschollene Sage. Man mochte wähnen, am Ziel zu sein; tatsächlich stand man am Anfang.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 395-397.
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