Die neuen politischen Aufgaben und Gegensätze. Partikularismus und Großmacht. Sparta und Athen

[433] Das Ideal der alten Zeit und der Aristokratie war der Kleinstaat. Vielfach hatte die Entwicklung bereits über ihn hinausgeführt, teils durch Eroberung, teils durch das Bedürfnis kleinerer Gemeinden oder in ihrer Herrschaft bedrohter Parteien nach Anlehnung an eine stärkere Macht; in Attika dagegen hat sich die alte staatliche Einheit der Landschaft aus der mykenischen Epoche erhalten und erweitert. So sind die größeren Staaten entstanden, welche eine Landschaft zusammenfassen, ja noch darüber hinausgreifen, wie Sparta, Elis, zeitweilig auch Argos, ferner Athen, Theben, Thessalien, die Staaten der sizilischen Tyrannen. Einen Schritt weiter geht der Peloponnesische Bund unter Spartas Führung. Aber sofort werden diese Staaten eben durch ihre Existenz, dadurch, daß in ihnen eine Macht vorhanden ist, die, sei es als Freund oder als Feind für die politischen Kombinationen in Betracht kommt, in einen größeren Zusammenhang, in die allgemeine Politik hineingezogen. Sie müssen Stellung nehmen zu der Frage, die von Osten und Westen an die griechische Nation herantritt. Sparta, die stärkste griechische Macht, auf die sich daher die Blicke zuerst richteten, hat, sobald es die drohenden Gefahren erkannte, versucht, sich von ihnen fernzuhalten, und alle Lockungen abgewiesen,[433] während Athen sich unbesonnen und tollkühn hineinstürzte; doch weder der Versuch, ihr aus dem Weg zu gehen, noch der, ihr zuvorzukommen, hat die große Entscheidung aufzuhalten vermocht. Erst innerhalb der Krisis haben die führenden Staaten eine feste, auf klarerem Einblick beruhende politische Haltung gewonnen – und jetzt ließ die große Politik sie nicht wieder los. Der persische Angriff war abgewiesen; aber die Verteidigung führte sofort mit Notwendigkeit zum Eingriff in den persischen Machtbereich: die kleinasiatischen Griechen ließen sich von dem Verbande der siegreichen Nation nicht trennen. So wird die Stellung der Ionier noch einmal der Angelpunkt der Geschichte; auf ihr beruht die Verflechtung von Ost und West in einer die ganze Kulturwelt umspannenden Politik. Damit ist zugleich der Kleinstaaterei und dem bisherigen Staatsideal das Urteil gesprochen. Eine lockere Föderation wie der hellenische Bund hatte zwar die Perser besiegen können, aber die weiteren Aufgaben vermochte sie nicht zu lösen, sondern nur eine einheitliche, die gesamten Kräfte der Nation unter fester politischer Leitung zusammenfassende Großmacht. Gelang es, einen derartigen Staat zu schaffen und fest zu begründen, so war Freiheit und Macht der Nation auf die Dauer begründet; dann konnte sie zu neuen und stets größeren Aufgaben vorschreiten, Ost und West zu einer politischen Einheit zusammenfassen, die Herrschaft über die gesamte Mittelmeerwelt erringen. Scheiterte der Versuch, so mußte Hellas an der Aufgabe, die ihm gestellt war, verbluten und trotz aller Siege schließlich dem Übergewicht der feindlichen Mächte erliegen.

Den nächsten Anspruch auf die Führerschaft hatte Sparta. Es war zweifellos die erste Militärmacht der griechischen Welt und besaß von allen Staaten das größte Gebiet. Seit langem war es von allen Seiten als der berufene Führer anerkannt; aus dem Peloponnesischen Bunde war die Föderation erwachsen, welche die Perser besiegt hatte, und hier hatte es sich in der Führung des Kommandos militärisch wie politisch vortrefflich bewährt. Aber den neuen Aufgaben war es nicht gewachsen. Die Existenz des spartanischen Staats beruhte auf der energischen Durchführung der Idee der freien Wehrgemeinde. Es war einmal ein fortschrittlicher Staat [434] gewesen, der, wenn er auch aus einer Umwandlung uralter Institutionen hervorgegangen war, militärisch und politisch ein neues Element in die griechische Welt eingeführt hatte. Nirgends so früh wie hier war die volle demokratische Gleichheit der Bürgerschaft durchgeführt worden: nur dem Recht und dem Befehl der gesetzmäßigen Beamten hatte sie zu gehorchen, nur die Tüchtigkeit im Kriege und seine Unterordnung unter die feste Zucht, die für alle in gleicher Weise galt, bestimmte das Ansehen des Bürgers im Staate und seinen Zutritt zu den Ämtern und Offiziersstellen und ermöglichte, wenn mit dem sechzigsten Jahre seine Dienstpflicht zu Ende ging, seinen Eintritt in den Rat der Alten – es sei denn, daß er so völlig verarmte, daß er am gemeinsamen Mahle nicht mehr teilnehmen konnte und damit aus der Zahl der Vollbürger ausschied. Auch die Könige hatten sich der Staatsordnung fügen müssen; in den von der Gemeinde erwählten Ephoren war ihnen eine überlegene Gewalt zur Seite getreten. Tatsächlich war Sparta ein Rechtsstaat so gut wie Lokri oder Athen, auch wenn es kein geschriebenes Recht kannte; die Rechtsordnung war nur um so lebendiger in der gesamten Bürgerschaft. Dieser Entwicklung verdankte der Eurotasstaat seine Erfolge, die Eroberung eines ausgedehnten Gebiets, den Ruf der Unbesieglichkeit im Felde. Ein frisches Leben ging im 7. und 6. Jahrhundert durch das spartanische Volk. Mit Freuden gab man sich den heimischen Zuständen hin; auch gegen das, was die Fremde Gutes brachte an Poesie und Musik, verhielt man sich nicht ablehnend. In der Entfaltung von Wohlstand und Pracht, in gymnastischer Ausbildung, in der Rossezucht, in der Teilnahme an den Nationalspielen wetteiferte der spartanische Bürgersmann mit den adligen Herren der übrigen griechischen Welt, wenn auch die hier übliche Überschätzung des Sports und die übertriebene Verherrlichung des Siegers nicht Platz greifen konnten. Man wußte – schon Tyrtäos hat das ausgesprochen –, daß alle diese Dinge, so schön sie an sich waren, nichtig waren gegenüber der Bewährung im ernsten Kampf. So kennen wir denn auch kein einziges Siegeslied, das einen Spartaner verherrlicht.

Aber an einem Grundzug des mittelalterlichen Staats hatte Sparta festgehalten: es war immer ein starrer Stadtstaat geblieben. [435] Nur die Bürgerschaft der fünf Dörfer, aus denen der Vorort bestand, besaß politische Rechte, das Landvolk, von dessen Arbeit die Bürger lebten, war leibeigen, die Bewohner der Küstenorte zinspflichtige Untertanen, denen spartanische Vögte geboten und Recht sprachen. So konnten sich Handel und Gewerbe in Sparta nicht entwickeln. Der Bürger lebte vom Ertrag seiner Güter; einen anderen Beruf als den des Kriegers kannte er nicht und durfte er nicht kennen. Bastarde von Helotenfrauen und Ziehkinder, die den Knaben als Kameraden beigegeben wurden (μόϑακες), hat man innerhalb der herrschenden Bürgerschaft geduldet, ja in einzelnen Fällen, vermutlich wenn der Vater oder die Phylenältesten sie legitimierten, ins volle Bürgerrecht aufgenommen: Lysander und angeblich auch Kallikratidas und Gylippos sind solche Halbschlächtige gewesen498. Im übrigen aber waren die Pforten des [436] Staats allen Untertanen verschlossen, und ebenso unerhört war die Aufnahme eines Fremden. Dadurch verwandelte sich, je mehr sich das Staatsgebiet erweiterte, desto mehr der spartanische Damos tatsächlich in eine Aristokratie, eine privilegierte Kaste, die eine weit zahlreichere, mit Gewalt in Abhängigkeit gehaltene Bevölkerung beherrschte und ausbeutete. Von Generation zu Generation wurde das Mißverhältnis größer, nicht nur durch die starken Verluste im Kriege, welche die Bürgerschaft trafen, sondern weit mehr noch durch die natürliche Verminderung, der jede geschlossene, nicht durch Zufluß von unten sich ergänzende Aristokratie erliegt. Das Streben, den Besitz zusammenzuhalten und zu mehren, dominierte durchaus, zumal der politische und militärische Ehrgeiz, das Streben, es den anderen zuvorzutun, von Jugend auf jedem Bürger eingeimpft wurde. Ein jeder suchte maßgebenden Einfluß zu erlangen und in die Ämter zu kommen, Rennpferde zu züchten, bei Festen daheim und in der Fremde um so mehr Gastlichkeit und Pracht zu entfalten, weil im bürgerlichen Leben dem behaglichen Genuß des Reichtums enge Schranken gesetzt waren. Das Gesetz befahl die Ehe und suchte die Kinderzahl zu vermehren; aber durch Erbteilung verarmten viele Familien und konnten nur mit Mühe ihre Bürgerstellung aufrechterhalten. So war es nicht selten, daß mehrere Brüder zusammen nur eine Frau nahmen. Die Töchter der Reichen wurden in angesehene Familien verheiratet und erhielten eine große Mitgift an Grundbesitz; viele Familien starben aus bis auf eine Erbtochter, und ihre Hand vergab der Erblasser oder der nächste Verwandte, oder in Streitfällen der König, nach seinen Interessen und daher vorwiegend an Wohlhabende. Ein großer Teil des Grundbesitzes kam dadurch in die Hände von Frauen499. Auch war es zwar nicht gestattet, das Erbgut zu verkaufen, wohl aber, es zu verschenken oder testamentarisch einem anderen zu vermachen. So kam es, daß fortwährend Spartiaten [437] aus der Zahl der Vollbürger, der »Gleichen« (ὅμοιοι)500 ausschieden, weil sie ihre Bürgerpflichten nicht mehr erfüllen, an den Syssitien nicht mehr teilnehmen konnten501. Wer sich in der Schlacht feige gezeigt hatte, verlor das Aktivbürgerrecht, bis er die Schande ausgemerzt hatte; wer dagegen verarmt war, war meist für alle Zukunft für den Staat verloren. Zwar werden die »Minderen« (ὑπομείονες)502 zu untergeordneten öffentlichen Aufträgen verwendet; sie konnten auch in den Krieg mitziehen503, aber in der Regel wenigstens konnten sie nicht heiraten und ihr Geschlecht nicht fortpflanzen. Vor allem durch diese früh beginnende Entwicklung, die im 5. Jahrhundert immer größere Dimensionen annahm, ist die Zahl der Bürger ständig zusammengeschrumpft. Dadurch waren der Expansion des Staats Grenzen gesetzt, über die er nicht hinausgehen konnte, ohne seine Grundlagen aufzugeben; schon um die Mitte des 6. Jahrhunderts ist Sparta wesentlich aus diesem Grunde von der Eroberung neuer Gebiete zur Föderativpolitik übergegangen504.

Versuchen wir von den grundlegenden Verhältnissen, soweit [438] unsere außerordentlich mangelhafte Überlieferung es gestattet, ein Bild zu gewinnen. Das Gebiet von Sparta umfaßte die beiden Landschaften Lakonien (einschließlich der den Argivern entrissenen Abhänge des Parnon bis nach Thyrea hinauf) und Messenien, mehr als 8000 qkm, nahezu zwei Fünftel des Peloponnes. Von diesem Gebiet steht etwa ein Drittel im Besitz der spartiatischen Bürger und wird von Heloten bebaut: das alte Stadtgebiet (ἡ πολιτικὴ χώρα), d.i. das »hohle Lakedaimon«, das Eurotastal mit den wasserreichen und hoch hinauf bebauten Abhängen des Taygetos und Parnon von Pellana und Sellasia bis zum Meer, und der Hauptteil der messenischen Ebene. Es ist der weitaus fruchtbarste Teil des Gebiets, gut bebaut und verhältnismäßig dicht bevölkert. Das übrige Land gehört den Periökengemeinden, d.h. vor allem der rauhe Ostabhang des Parnon (mit der Thyreatis, jetzt Tzakonien, und Kythera) und die wilde Landzunge des Taygetos (die heutige Maina), ferner das messenische Küstenland und das den Arkadern abgenommene obere Eurotastal, die Skiritis, deren Bewohner eine Sonderstellung einnehmen und ein eigenes Regiment zum Heer stellen. Auch einzelne Orte im Innern Messeniens, wie Thuria, waren periökisch505. Dies ganze Gebiet ist nur sehr dünn bevölkert; nur [439] an wenigen Stellen enthält das Gebirge Ackerland; die Bewohner leben meist von Fischfang, Handel und Industrie, auch von Bergbau. Auch die Küsten Messeniens sind durch die Kriege und die politischen Verhältnisse verödet und haben oft auf Meilen kaum einen Bewohner gehabt, so in der Umgegend des völlig zerstörten Pylos, der von der Dichtung gefeierten Stadt des Nestor. So war die Periökenbevölkerung im Verhältnis zu der Größe ihres Gebiets sehr gering, immerhin aber beträchtlich stärker als die spartiatische. Denn in den Perserkriegen haben sie ebensoviel, seit dem Peloponnesischen Kriege weit mehr Truppen gestellt als die Spartiaten; und dabei konnten sie natürlich nur in viel geringerem Umfang zur Aushebung herangezogen werden als diese. Irgendwelche bestimmte Zahlen zu geben, ist so gut wie unmöglich, doch wird man nicht zweifeln dürfen, daß die Gesamtbevölkerung des lakonischen Staats im 5. Jahrhundert die Zahl von 250000-300000 Seelen erreicht, wenn nicht überstiegen hat, [440] und daß davon etwa zwei Drittel Heloten und über ein Viertel Periöken gewesen sind506.

Diesen Massen gegenüber kann sich die Zahl der herrschenden Bürgerschaft, der Spartiaten, zur Zeit der Perserkriege höchstens auf etwa 12000 Seelen, d.h. etwa 3800-4000 Männer über 20 Jahre belaufen haben. Denn wenn auch das Erdbeben von 464 und der Helotenaufstand der Bürgerschaft sehr starke Verluste gebracht hat, so zeigt doch die Tatsache, daß es im Jahr 418 kaum mehr als 2200 waffenfähige Spartiaten gab – im Jahr 371, vor der Schlacht bei Leuktra, war ihre Zahl auf etwa 1000 zusammengeschrumpft –, daß wir für den Anfang des Jahrhunderts höher nicht hinaufgehen dürfen, und daß Herodots Schätzung auf 8000 spartiatische Krieger, von denen er 5000 bei Platää mitkämpfen läßt (VII 234. IX 18), weit über den wirklichen Bestand hinausgeht507. Bei diesem Verhältnis, etwa ein Bürger auf 24 Leibeigene und Untertanen, konnte der spartanische Staat sich nur durch eiserne Disziplin und rücksichtsloses Durchgreifen bei jeder verdächtigen Regung behaupten. Ein peinliches Überwachungssystem der Untertanen war unentbehrlich. Die Beamten, Ephoren und Vögte, hatten gegen Heloten und Periöken unumschränkte Strafgewalt und machten kurzen Prozeß; Verhaftungen und Exekutionen waren an der Tagesordnung. Zuverlässige und gewandte [441] junge Männer wurden aufs Land geschickt, um insgeheim die Heloten zu beobachten und jeden Verdächtigen aus dem Weg zu räumen. Ja, die Ephoren proklamierten beim Amtsantritt geradezu Krieg gegen die Heloten, damit ihre Tötung nicht als Mord gelten könne und die Bürgerschaft beflecke508. Zu voller Ausbildung mag dies System erst nach dem Helotenaufstand von 464 gelangt sein; seine Anfänge aber gehen unzweifelhaft in weit frühere Zeit zurück. Es war ganz unmöglich, die Wehrkraft der abhängigen Bevölkerung auch nur annähernd im Verhältnis zu ihrer Zahl auszunutzen. Als Knechte nahm man Heloten in beträchtlicher Zahl mit ins Feld, aber Waffen gab man ihnen nicht in die Hand; und auch aus den Periöken hat man nur verhältnismäßig wenig ausgehoben, vor allem aus den besser Situierten, die von der Regierung protegiert wurden509. Bis zum Ende des Peloponnesischen Kriegs scheint die Zahl der eingestellten Periöken über die des spartiatischen Heerbanns nie wesentlich hinausgegangen zu sein; hinzu kamen etwa 600 leichter bewaffnete Skiriten (o. S. 439). Die Hauptsache aber war, daß die Bürgerschaft selbst jederzeit auf dem Posten war. Bei einem Staatswesen wie diesem mußte die militärische Durchbildung das ganze öffentliche und private Leben der herrschenden Klasse absorbieren. Wir wissen, wie die alte Sitte der gemeinsamen Mahlzeiten diesem Zwecke dienstbar gemacht wurde, wie die Erziehung für den Krieg, die Abhärtung und Gewöhnung an Ertragung aller Strapazen, die strengste Unterordnung unter die Disziplin und das Kommando der Vorgesetzten und Älteren, ununterbrochenes Turnen und Exerzieren von Jugend auf das Leben des Spartiaten beherrschten. Dienstpflichtig war er vom 20. bis zum 60. Jahre510; für den Krieg ausgehoben wurden so viel Jahrgänge [442] und Regimenter, als man jedesmal brauchte, die Jahrgänge über 50, die für den Krieg außer Landes kaum noch leistungsfähig sein konnten, allerdings wohl erst in den Notlagen des 4. Jahrhunderts, die über 55 zuerst nach der Schlacht bei Leuktra (Xen. Hell. VI 4, 17). Die militärische Organisation hat im einzelnen vielfach geschwankt; bei unserem über die Maßen dürftigen Material sind wir nicht imstande, sie für die verschiedenen Epochen mit Sicherheit festzustellen. Der elementarste taktische Verband war die »Eidgenossenschaft«, die Enomotie; ihrer vier wurden zu einer »Fünfzigschaft«, Pentekostys, zusammengefaßt. Die höchste Einheit bildeten die »Regimenter« (λόχοι), die von »Generälen« (πολέμαρχοι) und »Obersten« (λοχαγοί) kommandiert wurden511. Ob sie zur Zeit der Perserkriege ebenso wie später aus vier Pentekostyen bestanden, wissen wir nicht; dagegen scheint sicher zu sein, daß es damals fünf Regimenter gegeben hat, die nach den Bezirken der Hauptstadt, nach denen vermutlich auch der Grundbesitz eingeteilt war, ausgehoben wurden512. In dieser Zeit haben die Periöken noch in besonderen Abteilungen gekämpft513. Seit der Mitte des Jahrhunderts, vermutlich nach der Katastrophe von 464, ist das geändert, wahrscheinlich weil die Zahl der Vollbürger zu gering geworden war. Fortan dienen die Periöken mit den Bürgern zusammen in denselben Verbänden, und das Prinzip der lokalen Aushebung ist aufgegeben. Damit mag zusammenhängen, daß die Pentekostys, wenn auch ihre Stärke nach der Zahl der aufgebotenen Jahrgänge schwankt, jetzt viel stärker ist, als ihr Name besagt; in der Schlacht bei Mantinea, 418 v. Chr. bestand sie aus durchschnittlich 128 Mann. Das Gesamtheer, abgesehen von den Skiriten und den aus den Heloten[443] neu gebildeten Truppen, bestand damals aus sieben Regimentern (λόχοι)514. Weitere Reformen werden später zu besprechen sein.

Bei diesen Verhältnissen war der spartanische Staat völlig außerstande, die neuen großen Aufgaben zu lösen. Weder seine Wehrkraft reichte aus, um wirklich die Leitung Griechenlands zu übernehmen, noch seine politische Organisation, noch seine Finanzen515. Ein paar Schiffe, die von den Periökengemeinden gestellt wurden, besaß der Staat; an die Bildung einer größeren Seemacht konnte er nicht denken. Das Finanzwesen war gänzlich unentwickelt; bedurfte der Staat Geld, so mußte er versuchen, eine Besitzsteuer zu erheben, bei der wenig genug einkam, da die Bürger sich meist viel zu niedrig einschätzten, oder bei den Bürgern und den Bundesgenossen freiwillige Beiträge einsammeln. Nur ein Mittel gab es, das zum Ziele führen konnte: den völligen Umsturz der bestehenden Ordnung, die Emanzipation [444] des Landvolks und die Gleichstellung der Untertanen mit den Bürgern. Wenn das geschah, so wurde Sparta der weitaus mächtigste Staat Griechenlands. Man hat, wie Aristoteles angibt, berechnet, daß Lakonien allein bei rationeller Verteilung des Grundbesitzes 30000 Hopliten und 1500 Reiter würde ins Feld stellen können; nicht viel weniger Mannschaften hätte das zwar beträchtlich kleinere, aber viel fruchtbarere Messenien ernähren können516. Einer derartigen Macht wäre in den damaligen Verhältnissen kein Ziel unerreichbar gewesen; nicht nur den Peloponnes, sondern ganz Griechenland hätte sie in einen Einheitsstaat umwandeln, auch eine starke Flotte schaffen und neben dem Festland die See beherrschen können. Die Könige des Agiadenhauses, wie vorher Kleomenes, so jetzt der Regent Pausanias, schreckten vor einer derartigen Maßregel durchaus nicht zurück, die sie zugleich von den drückenden Fesseln des Ephorats befreit und zu Herrschern über ganz Hellas gemacht hätte. Aber es ist begreiflich, daß die Bürgerschaft jetzt, nach allen Erfolgen, weniger als je bereit war, die Grundlagen aufzugeben, auf denen Spartas Größe erwachsen war. Alle materiellen und egoistischen wie alle idealen Interessen sträubten sich dagegen und machten jeden Reformversuch unmöglich. Konservativ war eine Bürgerschaft von grundbesitzenden Kriegern ihrer Natur nach; jetzt aber kannte sie keine andere Aufgabe mehr als die Konservierung alles Bestehenden, auch wo es brüchig genug war, weil jede Änderung zu unabsehbaren Konsequenzen führen mußte517. Prinzipiell hielt man an allem fest, was von den Altvordern überliefert war, im größten wie im kleinsten: man zog die fünf offenen Dörfer Spartas nicht zu einer Stadt zusammen und baute keine Mauern, man führte kein geschriebenes Recht ein und hielt an einem veralteten Blutrecht fest, man münzte kein Gold und Silber, sondern [445] behalf sich mit Eisenstücken, man duldete beim Hausbau nur Deckbalken und Türpfosten von Holz, man saß nur auf Holzbänken, man verbot das Schnurrbarttragen, man aß schlecht aus Prinzip. Wenn Sparta früher fremde Einflüsse vielfach in sich aufgenommen hatte, so sperrte man sich jetzt systematisch ab gegen jede Infektion von außen: man perhorreszierte jede Neuerung in Musik und Poesie, man wies von Zeit zu Zeit alle Fremden aus, man verbot den Spartiaten, ohne Erlaubnis der Regierung ins Ausland zu gehen. So wird der Staat aus einem naturwüchsigen mehr und mehr ein künstliches, nur noch durch künstliche Mittel aufrechtzuer haltendes Gebilde. Bei diesen Tendenzen war es vollberechtigt, wenn die Regierung alle weitergehenden Anforderungen, die die Politik stellte, konsequent ablehnte und der Großmachtspolitik der Agiaden energisch entgegentrat. In den Perserkrieg war man, als kein anderer Ausweg blieb, eingetreten und hatte ihn mit Einsetzung aller Kraft ruhmvoll durchgeführt. Die dadurch gewonnene Ehrenstellung wollte man behaupten; aber was für einen Gewinn konnte es Sparta bringen, weiter zu gehen, seine eigene Existenz aufs Spiel zu setzen, um die Ionier und Kyprier zu schützen und Thrakien den Persern zu entreißen? So ist es gekommen, daß der spartanische Staat, der kein höheres Ideal kennt als den Krieg, in der Politik so kriegsscheu wird, wie in aller Geschichte kaum je irgendein Staat von gleicher Bedeutung gewesen ist, es sei denn England in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Man weiß, daß jede größere kriegerische Verwicklung die Existenz des Staats in Frage stellt, im Fall eines Sieges fast noch mehr als in dem einer Niederlage, weil der Sieg ihn zwingen mußte, Aufgaben zu übernehmen, denen er ohne Änderung seines ganzen Wesens nicht gewachsen war. Die spartanische Politik kennt kein positives Ziel mehr; sie ist nach außen ebenso negativ wie nach innen. So ist Sparta der Hort aller konservativen Interessen, der Verteidiger alles Bestehenden und der Hemmschuh für die aufwärtsstrebende Entwicklung Griechenlands geworden. Der Staat, der auf das Prinzip der Gleichheit aller Bürger gegründet ist, erscheint als das Prototyp wenn nicht einer Adelsherrschaft, so doch einer Oligarchie, als ein festes, [446] gegen die verheerenden Ideen der neuen Zeit und den ruchlosen demokratischen Umsturz aufgerichtetes Bollwerk.

Sparta gegenüber steht Athen. Seit einem Jahrhundert war es hinausgewachsen über die engen Verhältnisse des Stadtstaats, seine Bürgerschaft umfaßte die gesamte freie Bevölkerung einer Landschaft von etwa 2400 qkm, etwa 50000 Bürger über 18 Jahre oder 150000 Seelen. Das Kleisthenische Phylenheer konnte aus den Grundbesitzern mindestens 10000 Hopliten ins Feld stellen518. Aber dabei blieb man nicht stehen; Schritt für Schritt wurde das Kriegswesen weiter entwickelt, auch die ärmere Bevölkerung zum Dienst herangezogen und damit die Wehrkraft der gesamten Bürgerschaft dem Staate nutzbar gemacht. Von der von Themistokles geschaffenen Flotte sind im Jahr 480 180 Schiffe bemannt gewesen, was, wenn wir auf die Trieren dieser Zeit etwa 150 Ruderer rechnen, 27000 Ruderer erfordert, die aus den Theten (vielleicht zum Teil auch schon aus den Metöken) genommen waren. Das nach den Erfahrungen von Marathon aus den Theten ausgehobene Schützenkorps wurde allmählich auf 1600 Mann gebracht. Bald nach den Perserkriegen wurde aus den Mannschaften der beiden oberen Klassen ein Reiterkorps, zunächst von 300 Mann, formiert519. So beginnt die Taktik der verbundenen Waffen sich zu entwickeln. Nach außen hatte der Staat seit Solon und Pisistratos sein Gebiet erweitert, Salamis annektiert und unter attische Grundbesitzer verteilt, das böotische Grenzgebiet, vor allem die Graerstadt Oropos, unterworfen, auf Euböa Grundbesitz gewonnen, am Hellespont, auf Imbros und Lemnos, an der thrakischen Küste im Pangaiongebiet festen Fuß gefaßt, mit der Böoterstadt Platää eine feste Allianz geschlossen520. Das Landgebiet auf Euböa hatte man allerdings 490 aufgeben müssen und nachher nicht wieder besetzt, sondern offenbar den [447] jetzt eng verbündeten Gemeinden Chalkis und Eretria überlassen521; die überseeischen Besitzungen dagegen fielen nach dem Sieg über die Perser an Athen zurück. Die Finanzen waren in gutem Stande, die Einnahmen des Staats aus Zöllen und Pachtgeldern, namentlich von den Laurischen Silberminen, sehr beträchtlich. In Notfällen konnte man eine auf Grund der Solonischen Klassenordnung abgestufte Vermögenssteuer erheben, und außerdem bildete der reiche, viele tausend Talente enthaltende Schatz der Athena auf der Burg einen Reservefonds, bei dem der Staat Anleihen aufnehmen konnte522.

So hatte Athen eine Macht in den Kampf werfen können wie kein anderer griechischer Staat. Die Führung hatte es Sparta überlassen, da dies allein die erforderliche Autorität besaß; aber die politische Direktive für die Feldzüge von 480 und 479 hatte Athen gegeben, und nur durch seine Flotte war der Widerstand möglich gewesen. Noch ganz anders aber fiel dieselbe ins Gewicht, sobald man zur Offensive überging. Gleich nach dem Siege von Mykale war der Gegensatz hervorgetreten: die Spartaner hatten den kleinasiatischen Griechen den Bundesschutz verweigert und die Eroberung von Sestos den Athenern allein überlassen. Damit hatte Athen die Leitung übernommen: sowenig es dabei an eine Auflehnung gegen den spartanischen Oberbefehl oder gar an einen Bundesbruch gedacht hatte, binnen kurzem mußte die rechtliche Ordnung den Tatsachen folgen. Der Perserkrieg hatte erwiesen, daß Athen imstande war, die ihm dadurch gestellten Aufgaben zu erfüllen. Mit heroischem Entschluß hatte es alles an alles gesetzt, den Heimatboden zweimal dem Feinde preisgegeben, ohne auch nur einen Augenblick zu verzagen. Eine gewaltige Kraft strömte daraus immer aufs neue seinen Bürgern zu; ein Staat, der das gewagt hatte, konnte nicht wieder an sich irre werden. [448] So haben die Perserkriege in Athen nachgewirkt wie in Preußen die Erhebung von 1813. Zugleich aber war dadurch der Bruch mit der Vergangenheit auch äußerlich vollzogen. Trotz der Demokratie, ja trotz der Schöpfung der Flotte, trotz der Beschränkung der Beamtengewalt und der Übertragung der politischen Leitung auf das souveräne Volk in seiner Gesamtheit war die athenische Bürgerschaft weit mehr konservativ als radikal gesinnt. Die attische Kultur, wie sie sich auf der von Solon geschaffenen Grundlage in der Pisistratidenzeit entwickelt hatte, hatte zwar den modernen Staatsbegriff in sich aufgenommen und an Stelle der Privilegierten das gesamte Volk gesetzt, aber im übrigen an den alten Idealen energisch festgehalten. Daher blieben hier die adligen Geschlechter, soweit sie nicht durch den Anschluß an die Tyrannen und Isagoras den Untergang gefunden hatten oder verjagt waren, in hohem Ansehen und behielten noch auf lange Zeit den entscheidenden Einfluß auf die Staatsleitung. Streng hielt man auf ehrbare Sitten, auf straffe Zucht der Jugend; man forderte die Hingabe jedes Bürgers an den Staat; man hatte zwar die neuen Formen der Dichtung und Kunst aufgenommen, aber von der radikalen Strömung und den weichlichen Formen, die aus Ionien kamen, wollte man nichts wissen. Vor allem aber stand man noch völlig auf dem Boden des Gottesglaubens und betrachtete jeden Angriff auf die Landesreligion als das schwerste, nur durch den Tod sühnbare Verbrechen gegen die Existenz des Staats. Durch den heimischen Kult des Dionysos und der Göttinnen von Eleusis, welche der Verbreitung orphischer und mystischer Anschauungen den Weg bahnten, ist die Religiosität noch gesteigert worden; sie erhält geradezu einen pietistischen Zug. Mit Recht rühmt sich Athen, die gottesfürchtigste Stadt von Hellas zu sein. Trotz dem allem wird Athen in die Bahnen der modernen Entwicklung hineingedrängt. Es kann nicht mehr zurück, weder politisch noch kulturell; es muß die fortschrittlichen Ideen und schließlich auch den geistigen Radikalismus in sich aufnehmen, und wenn es sich noch so sehr dagegen sträubt. Wenn man auch die alten Tempel wieder aufbaut und überall an das Alte anzuknüpfen sucht, so ist doch das neue Athen, welches [449] aus den Schutthaufen der Perserzeit erstand, von der Königsstadt des Erechtheus und der Pisistratiden äußerlich und innerlich so verschieden wie die Flotte von Salamis von der, mit der Miltiades gegen Paros auszog. Die Göttin Athena, der man den Sieg verdankt, die schirmend ihre Hände über ihrer Stadt hält und ihr die Gnade des Zeus sichert, ist die Verkörperung des modernen Staats; aus ihrem Mund verkünden die Tragiker die sittlichen Ideale, welche seine Bürgerschaft bewegen. So war Athen berufen, den ganzen Gewinn der neuen Weltlage in sich aufzunehmen. Die Befähigung ist zugleich eine Verpflichtung und ein Zwang. Mochte Athen wollen oder nicht, es mußte danach streben, die Suprematie über Hellas zu gewinnen und der griechische Großstaat zu werden, den die Weltlage gebieterisch forderte.

So ist im Moment des Siegs der neue Gegensatz geschaffen, der fortan die politische Lage beherrscht. Trotz aller versöhnlichen Tendenzen, trotz aller Versuche, die Erinnerung an die glorreiche Zeit der Waffenbrüderschaft ungetrübt lebendig zu erhalten, mußte er binnen kurzem zum offenen Konflikt führen. Ganz Griechenland wird in diesen Gegensatz, in den Dualismus der beiden Großmächte hineingezwängt. An der Realität der Tatsachen zerschellt auch hier das Ideal der alten Zeit. All die kleinen Gemeinden glaubten mehr noch für ihre Autonomie gekämpft zu haben als für die Wahrung ihrer, wie es schien, durch die Perser kaum gefährdeten Nationalität; von dem Siege erwarteten sie die Wiederkehr der goldenen Zeit des behaglichen Stillebens, wo jeder kleine Staat tun und lassen konnte, was ihm beliebte. Ihnen hatte der große Kampf keine neuen Bahnen eröffnet. Gleich nach dem Siege von Salamis soll sich der Sondergeist in voller Nacktheit enthüllt haben, indem bei der Preisverteilung am Isthmos jeder Heerführer sich selbst den ersten Preis zuerkannte. Als die Siegesstimmung verrauscht war, lebten all die kleinen Tagesfragen und Streitigkeiten wieder auf, in denen vorher ihr Dasein aufgegangen war. Aber überall war ihnen der Spielraum und die freie Bewegung genommen; der Reihe nach mußten sie alle zu dem großen Gegensatz Stellung nehmen, einer der beiden Großmächte sich [450] unterordnen und ihren Geboten weit pünktlicheren Gehorsam leisten als je den Geboten des Perserkönigs. Mit dem doppelten politischen Gegensatz der Kleinstaaten gegen die Großmächte und der Großmächte gegeneinander verschlingen sich alle anderen, die materiellen, sozialen, kulturellen, der Hader jeder Gemeinde mit ihren Nachbarn, die Rivalität der älteren Handelsmächte gegen den ständig wachsenden attischen Handel, der Kampf der Parteien, des Adels und der Bürgerschaft, der Konservativen und der Fortschrittler, der Besitzenden und der Besitzlosen innerhalb der einzelnen Staaten, der Gegensatz der alten und der neuen Ideen. Wenn jeder einzelne Staat in dem einen oder in dem anderen Lager seine Stellung nehmen muß, so innerhalb jedes Staats wieder die sich bekämpfenden Parteien. Ganz Griechenland und innerhalb desselben wieder jedes einzelne Gemeinwesen ist in zwei Teile zerrissen, von denen der eine nach Athen, der andere nach Sparta gravitiert. Alle modernen und vorwärtsstrebenden Elemente, alle demokratischen Parteien schauen nach Athen, alle konservativen, alles was den bestehenden Zustand erhalten oder die Vergangenheit wiederherstellen will, nach Sparta, vor allem aber die Vertreter der partikularistischen Ideen. Als Staatsform ist der Partikularismus für alle Zukunft unmöglich geworden; aber als Idee, und darum als geistige und politische Macht, führt er ein zähes Leben, ja er wird nur um so mächtiger, je mehr die fortschreitende Entwicklung ihm tatsächlich die Luft nimmt. Weil er das Alte vertritt, sieht er seinen Vorkämpfer in Sparta, während Athen zum Vertreter des Einheitsgedankens wird. So wird Sparta im Glauben der Massen zum Schirmer der Freiheit der Einzelstaaten im Gegensatz zu dem herrschgierigen, tyrannischen Athen, während doch in Wirklichkeit beide Staaten genau dasselbe erstreben, nämlich die Aufrichtung ihrer eigenen Herrschaft innerhalb der für sie erreichbaren Grenzen.

Nicht nur den Massen, sondern auch den führenden Männern in Athen und Sparta ist der Gegensatz erst ganz allmählich ins Bewußtsein getreten; und auch da noch haben sie sich lange genug gesträubt, ihn als tatsächlich und unüberbrückbar anzuerkennen. Daß Sparta Athen in Schranken halten wollte, ist begreiflich [451] genug; aber von da bis zu offener Feindseligkeit war ein weiter Schritt, zu dem man sich auch im letzten Momente nur mit äußerstem Widerstreben entschloß, nicht nur aus idealen Motiven, sondern vor allem, weil man deutlich empfand, welchen Gefahren man im Falle eines Bruchs entgegenging. Viel besser schien es, wie im Perserkrieg sich mit Athen zu vertragen und die Leitung Griechenlands tatsächlich zu teilen, wenn irgend möglich unter Wahrung des Ehrenvorrangs, auf den Sparta Anspruch erhob. Um diesen Preis war Sparta jederzeit bereit, die Interessen der kleinen Staaten, die sich unter seinen Schutz drängten und die es Athen gegenüber vertreten mußte, zu opfern und, auf Athen gestützt, Griechenland zu beherrschen. Auch in Athen waren diese Gedanken lebendig; noch als der Gegensatz schon akut geworden war, hat man in achtungswerter, aber notwendig erfolgloser Bemühung versucht, an dem Zusammengehen der beiden Mächte festzuhalten. Aber dem Mann, der Griechenland zum Sieg geführt hatte, lag auch jetzt, wie zur Zeit, da der persische Angriff herannahte, die Zukunft klar und durchsichtig vor den Blicken. Der wahre Staatsmann kennt keine Empfindsamkeit und keine sentimentalen Rücksichten. Wie Themistokles damals die Schöpfung der attischen Flotte gefordert und nicht geruht hatte, bis er ans Ziel gelangt war, so erkannte er jetzt, daß Athen die Herrschaft in Griechenland erringen mußte, wenn es bestehen und Hellas als politische Macht sich behaupten sollte. Das athenische und das nationale Interesse flossen auch hier ineinander. Um das Ziel zu erreichen, war der Bruch mit Sparta und ein griechischer Krieg unvermeidlich. So galt es, ihm entgegenzugehen und ihn vorzubereiten, da es noch Zeit war, ehe die Gegner ihre Kräfte gesammelt hatten. Auf dies Ziel hin hat Themistokles fortan gearbeitet. Daß Sparta ihn geehrt hatte wie nie zuvor einen Sterblichen, daß er Hand in Hand mit Sparta den Nationalkrieg geführt hatte, konnte ihn keinen Augenblick beirren. Die Möglichkeit einer politischen Wirksamkeit, die ihm im Feldzug von 479 genommen war, war jetzt wiedergekehrt. Denn so scharf sich damals die Anschauungen entgegengetreten waren, jetzt nach dem Sieg zeigte es sich, daß alle doch demselben Ziel gedient, daß Aristides und Xanthippos [452] das Werk des Themistokles nur fortgeführt und vollendet hatten. Äschylos, im politischen Leben schwerlich der Richtung des Themistokles zugetan, spricht nur aus, was alle empfanden, wenn er ihn im Jahr 472 als den Mann preist, dem man den Sieg von Salamis verdankte. So war zeitweilig sogar ein Zusammenwirken des Themistokles mit seinen alten Gegnern ermöglicht: während Themistokles daheim den Staat leitete, übernahm Aristides die Führung im Kriege523.

Gleich bei der ersten Maßregel, die Athen ergreifen mußte, [453] trat der neue Gegensatz in scharfer Beleuchtung hervor. Unmittelbar nach dem Sieg von Platää ging man daran, die Stadt wieder aufzubauen. Themistokles entwarf den Plan dazu. Das neue Athen sollte eine Großstadt werden, von weit größerem Umfang als die alte Stadt. Vor allem aber mußte es eine starke Festung sein, die jedem feindlichen Angriff trotzen konnte; dann war es möglich, einen Landkrieg defensiv zu führen und alle Kräfte auf die See zu werfen. Den Spartanern und ihren Verbündeten konnte der Mauerbau, der ihnen jede Einmischung und Bevormundung unmöglich machte, nur höchst unerwünscht sein; mit Recht erblickten sie darin den ersten entscheidenden Schritt zur Aufrichtung des Dualismus in Hellas. Bis Athen in verteidigungsfähigem Zustande war, konnte eine Intervention der Spartaner die Ausführung hindern. So wurden Themistokles, Aristides und Habronichos als Gesandte nach Sparta geschickt. Themistokles ging allein voraus und wußte durch geschicktes Verhandeln und Ableugnen die Sache so lange hinzuhalten, bis die Mauern hoch genug waren und man zugleich durch eine nach Athen gelockte spartanische Gesandtschaft ein Unterpfand für die unbehelligte Entlassung der eigenen Gesandten gewonnen hatte. Den Spartanern blieb nichts übrig, als sich in die vollendete Tatsache zu fügen524. – So war die Grundlage für die Selbständigkeit Athens [454] gewonnen. Die Ergänzung der Stadtanlage bildete der Ausbau des Piräeus nach Themistokles' Plänen. Die Hafenstadt sollte zugleich eine zweite große Festung werden. Während aber die Mauern Athens rasch nach alter Weise aus Ziegeln auf polygonalem Untergrund errichtet waren, in den man in der Eile hineinbaute, was an Steinen und Bautrümmern zur Hand war, wurden die Piräeusmauern das Muster eines modernen Festungsbaus, auf breiter Grundlage von gewaltiger Stärke und Höhe, flankiert von zahlreichen Türmen. Sie wurden ganz aus sorgfältig gefugten Quadern aufgeführt, die durch Metallklammern zusammengehalten wurden525. So war der Piräeus uneinnehmbar, solange die Athener die See freizuhalten vermochten. Die Bedeutung der Flotte war jetzt auch dem blödesten Auge klar geworden, so daß aller Widerspruch dagegen wohl oder übel verstummte. Immer von neuem ermahnte Themistokles die Athener, alle Kraft auf die See zu werfen und die Flotte stets im Stande zu halten und zu vermehren; wenn ein übermächtiger Angriff zu Lande sie bedrohe, solle man wie im Jahr 480 die Hauptstadt aufgeben und sich ganz in den Piräeus zurückziehen – am liebsten hätte er offenbar die Altstadt gar nicht wieder hergestellt, wenn Tradition und Religion das zugelassen hätten –; dann werde man, gestützt auf die Flotte, allen Feinden widerstehen können.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 433-456.
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