Die Geschichte des Westens

[267] Bei den Westgriechen hat sich die historische Literatur nicht anders entwickelt als im Mutterlande. Zu Anfang stehen lokale Chroniken, von denen das fast verschollene Werk des Hippys von Rhegion als die älteste genannt wird. Wenigstens in kurzen Umrissen hat auch Herodot die Geschichte des Westens bis auf die Perserkriege berücksichtigt, vor allem die sizilischen Tyrannen; ebenso natürlich Hellanikos. Der erste Historiker von größerer Bedeutung war sein Zeitgenosse Antiochos von Syrakus, dem Hellanikos, wie es scheint, auch in der Darstellung verwandt; er hat die Geschichte des Westens in zwei Werken zusammengefaßt, den Ἰταλικά und den Σικελικά. Letztere reichten bis auf den allgemeinen Frieden von Gela 424 hinab. Thukydides hat ihn benutzt; größere Bruchstücke besitzen wir nur aus der Geschichte der Urzeit und der Koloniegründungen. – Für die Zeit der athenischen Interventionen auf Sizilien ist Thukydides die Hauptquelle und zugleich die einzige erhaltene Darstellung sizilischer Dinge, welche Zuverlässigkeit beanspruchen kann. Von Thukydides aufs stärkste angeregt und beeinflußt, hat dann in der nächsten Generation Philistos von Syrakus die Geschichte seiner Heimatinsel dargestellt, zunächst die ältere Zeit bis 406 in sieben Büchern, dann die Geschichte des ersten Dionysios in vier, schließlich die ersten fünf Jahre seines Sohnes (367-363) in zwei Büchern. Philistos war einer der bedeutendsten griechischen Historiker und wird mit Herodot, Thukydides und Theopomp immer zu den eigentlichen [267] Klassikern gerechnet (unter die Ephoros und Xenophon nur bei einigen Aufnahme gefunden haben); dem Theopomp wie dem Ephoros war er in der geschichtlichen Auffassung und wohl auch in dem echten historischen Stil weitaus überlegen. Noch Cicero hat ihn mit großem Vergnügen gelesen. Aber er war ein energischer und unerschütterlicher Verteidiger nicht sowohl des Tyrannen – mit Dionys I. war er persönlich zerfallen und von ihm verbannt –, als vielmehr der Tyrannis, um deren willen er Dion und Plato bekämpft und schließlich 356 den Tod gefunden hat. Daher sagte seine Auffassung dem griechischen Durchschnittspublikum so wenig zu wie den späteren Bearbeitern der älteren Geschichte, die an dem republikanischen Ideal festhielten. So ist er als Quelle von ihnen nicht benutzt worden, sondern nur von den Biographen (namentlich im »Leben des Nikias« bei Plutarch). Auch werden manche der geläufigen Anekdoten über Dionysios I. auf ihn zurückgehen. Aber nicht einmal größere Fragmente besitzen wir von ihm; die meisten erhaltenen Zitate sind Ortsnamen bei Stephanus von Byzanz. Der vollständige Untergang des Philistos ist einer der empfindlichsten Verluste, der die antike historische Literatur betroffen hat.

Die Geschichte der beiden Dionyse, des Dion und der anschließenden Wirren bis auf Timoleon ist natürlich auch von den Universalhistorikern behandelt worden, namentlich von Ephoros, aus dem auch hier nicht wenig bei Diodor erhalten ist; ebenso von Theopompos, der im 21. Buch der »Philippika« von Dionys' Herrschaft am Adriatischen Meer und den Verhältnissen Italiens und dabei wahrscheinlich von dem Keltenzug gehandelt und die Bücher 39-41 ganz der Geschichte der beiden Dionyse und des Dion gewidmet hat. Ferner kommen die Verfassungsgeschichten des Aristoteles auch hier in Betracht. Daneben stehen Spezialgeschichten, wie die fast völlig verschollene des Hermias von Methymna in zehn oder nach anderer Einteilung zwölf Büchern, die mit dem Jahr 376 abschloß (Diod. XV 37). Über Dion hat sein Begleiter Timonides von Leukas einen Bericht an Speusippos aufgesetzt, der in Plutarchs »Dion« stark benutzt ist. Vom entgegengesetzten Standpunkt scheint Athanis von Syrakus, der 356 als [268] Genosse des Herakleides erscheint, die Begebenheiten dargestellt zu haben. Er hat in dreizehn Büchern Philistos fortgesetzt und die Erzählung wahrscheinlich bis auf Timoleons Tod herab geführt. Erhalten ist aus ihm nichts, und irgendwelche Einwirkung seiner Darstellung können wir nicht nachweisen. Dagegen besitzen wir für die Zeit Dions eine Quelle ersten Ranges in Platos Briefen, namentlich dem siebten und achten, die sein Verhalten bei der Bewegung, die zum Sturz der Tyrannis führte, vor der Welt rechtfertigen und nach Dions Tode seinen Anhängern Ratschläge geben wollen. Natürlich sind sie, da sie Briefe sind, von den Neueren für gefälscht erklärt worden; den Alten haben sie immer als platonisch gegolten und von der Biographie sind sie mit vollem Rechte aufs stärkste benutzt worden, wie denn auch kein neuerer Historiker den Wert ihrer Nachrichten hat verkennen können, auch wenn er sie zur Salvierung seines Gewissens als »Pseudoplato« zitiert. In Wirklichkeit sind sie Dokumente von unschätzbarem Wert nicht nur für die Kenntnis der sizilischen Geschichte, sondern für das Verständnis der gesamten Entwicklung Griechenlands.

Alle älteren Werke über den Westen sind für die Historiker vollständig in den Hintergrund gedrängt durch Timäos, den Sohn eines ehemaligen Herrschers von Tauromenion und späteren Anhängers Timoleons Andromachos. Timäos hat 317 vor Agathokles fliehen müssen und in Athen, wohin er sich zurückzog und wo er fern vom politischen Leben über 50 Jahre, ja vermutlich bis an seinen Tod (nach 264) gelebt hat, ein großes Werk über die Geschichte der gesamten westlichen Welt ausgearbeitet, das in 38 Büchern die Zeit bis zum Tode des Agathokles behandelte319. Später hat er noch eine Geschichte des Pyrrhos und der folgenden Begebenheiten bis an den Ausbruch des ersten punischen Kriegs daran angefügt. Die Art des Verfassers ist früher bereits charakterisiert worden (Bd. III2, S. 454); was dort über die Behandlung der älteren Zeit gesagt ist, gilt für das ganze Werk. Trotz aller Gelehrsamkeit [269] und alles Fleißes ist es nur ein Zerrbild geschichtlicher Forschung und Darstellung. Durchaus ist es das Produkt einer weltfremd gewordenen Stubengelehrsamkeit, die aufdringlich ihre Mühewaltung zur Schau trägt und sich in Kleinigkeitskrämerei und Nörgelei an allen Vorgängern mit Behagen ergeht. Abstruse Gläubigkeit und Frömmelei, die sich mit wüsten rationalistischen Deutungen sehr wohl verträgt, ein blinder Tyrannenhaß und eine schale und innerlich durchaus unwahre Rhetorik beherrschen die Darstellung und bestimmen das historische Urteil, dessen elementarste Voraussetzungen, ein Einblick in die realen Mächte des ökonomischen und politischen Lebens, dem Verfasser vollkommen unbekannt sind. In Timäos' Schlachtschilderungen tritt seine Unfähigkeit einem jeden greifbar entgegen; aber seine Darstellung der Politik ist nicht minder absurd. Alle Versuche der Neueren, doch noch eine gute Seite an ihm herauszufinden und ihn gegen die Vorwürfe z.B. des Polybios in Schutz zu nehmen, haben das Bild nicht ändern können, auch wenn sie erwiesen, daß im einzelnen einmal ein Angriff über das Ziel hinausschoß. Als Historiker steht Timäos tief selbst unter Ephoros. Aber gewirkt hat er wie wenig andere. Sein Werk war ein unerschöpfliches Repertorium für die gelehrte und gelehrt sein wollende Forschung der hellenistischen Zeit und vor allem der Römer, und seine Manier sagte der sentimentalen, dem historischen Verständnis völlig entfremdeten Betrachtungsweise der Schriftsteller zu, die in augusteischer Zeit Weltgeschichte zu schreiben unternahmen. Daher hat ihn Trogus Pompeius für die Geschichte der westlichen Staaten ausschließlich benutzt – hier ist er durch den elenden Auszug Justins noch weiter verballhornt worden –; und Diodor legte ihn für diese Partien als Hauptquelle zugrunde. Daneben hat er Ephoros herangezogen, und in der Geschichte seiner Heimatinsel, wo er genauer informiert war, die späteren Zustände und Anschauungen mehrfach berücksichtigt.

Inschriftliches Material von historischer Bedeutung besitzen wir aus dem Westen so gut wie gar nicht; nur die Münzen gewähren gelegentlich einiges Licht. Die umfangreiche Literatur der Westhellenen ist fast völlig untergegangen. Bei dieser Beschaffenheit [270] der Quellen ist unsere geschichtliche Kenntnis nur äußerst lückenhaft und verworren, und mit der Kenntnis der Geschichte des Mutterlandes selbst da nicht zu vergleichen, wo die Vorgänge, die sich im Westen abspielten, an weltgeschichtlicher Bedeutung die Ereignisse in jenem weitaus übertrafen. Von dem Detail der Hergänge und zumal der militärischen Operationen können wir, abgesehen von den Zeiten, die Thukydides behandelt, fast nirgends ein klares Bild gewinnen; es wäre ein arger Fehler, wollten wir das verschleiern und für Wissen ausgeben, was keines ist, sondern nur ein Wust verschobener und verzeichneter Notizen. Immerhin sind wir für Sizilien noch am besten informiert. Für Karthago sind wir, abgesehen von den Kriegen mit den Griechen, fast allein auf Justins flüchtigen und lückenhaften Abriß und auf die wenigen zum Teil fast unverständlichen Angaben angewiesen, die Aristoteles (Pol. II) in seiner Kritik der karthagischen Verfassung gibt. Die zahlreichen, aber ganz monotonen und inhaltsarmen karthagischen Weih- und Grabinschriften sind für die Geschichte, ja selbst für die Erkenntnis der kulturellen und religiösen Zustände fast wertlos. Von karthagischer Literatur sind uns nur der »Periplus« des Hanno und einige Notizen aus dem Periplus des Himilko und dem landwirtschaftlichen Werk Magos erhalten (u. S. 670f. 643); wenn sich eine karthagische Geschichtsschreibung entwickelt haben sollte, ist sie für uns völlig verschollen. – Noch dürftiger fast ist unsere Kunde über Italien, sowohl über die Geschichte der Griechenstädte wie über die der einheimischen Völker und Staaten. Selbst von so entscheidenden Vorgängen wie den Kämpfen der Griechen und Etrusker, dem Einbruch der Kelten und dem Niedergang der Etruskermacht haben wir nur ganz unzureichende Nachrichten, die über nackte Chronikennotizen inhaltlich kaum hinausgehen. Aus Rom liegen gleichzeitige geschichtliche Aufzeichnungen (in späterer Überarbeitung) erst seit der Zeit der Samniterkriege vor; die wenigen geschichtlichen Erinnerungen, die man aus der früheren Zeit in die Annalen eintragen konnte und die dann in den Überarbeitungen aus dem letzten Jahrhundert der Republik breit ausgemalt und durch pseudohistorische Kombinationen zu gewaltigem Umfang angeschwellt sind, bieten für die allgemeine Geschichte[271] wenig von Bedeutung. Eingehender kann von der Entwicklung der römischen Historiographie erst im nächsten Bande im Zusammenhang mit der Darstellung der römischen Lokalgeschichte gehandelt werden. – Das erhaltene Material ist für Sizilien von A. HOLM, für Karthago von O. MELTZER sorgfältig gesammelt und auf Grund kritischer Sichtung verarbeitet worden; im einzelnen wird wohl die Kritik mehrfach noch etwas weiter gelangen können. FREEMANS umfassendes Werk über die Geschichte Siziliens, das der Verfasser nicht hat vollenden können, hat sich über eine erneute Diskussion der vielbehandelten Fragen zu einer wirklich die Erkenntnis fördernden Darstellung kaum zu erheben vermocht. Das groß angelegte Werk von E. PAIS, Storia d'Italia dai tempi più antichi alle fine delle guerre puniche, ist in dem ersten Teil (Storia della Sicilia e della magna Grecia, vol. I 1894) über den Anfang des 5. Jahrhunderts noch nicht hinausgelangt, während der zweite (Storia di Roma vol. I p. I 1898; p. II 1899) eine Kritik der römischen Geschichtsüberlieferung bis auf Pyrrhos gibt.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 267-272.
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