Die Perserkriege

[221] Da die Grundzüge der Entwicklung der griechischen historischen Literatur schon in der Quellenkunde zum dritten Band dargestellt sind, können wir uns sofort der Überlieferung über die einzelnen Epochen zuwenden. Wirkliche Geschichtsschreibung im höheren Sinne hat bei den Griechen erst die Perikleische Zeit und der große Entscheidungskampf zwischen Athen und Sparta geschaffen; die älteren Geschichtswerke der sog. Logographen behandeln nur Sagengeschichte und Völkerkunde und kommen daher an dieser Stelle nicht mehr in Betracht, abgesehen vielleicht von einzelnen Schriften über das Perserreich, wie der des Dionysios von Milet (o. S. 5). Doch waren in vielen Städten bereits Annalen (ὧροι) mehr oder weniger offiziellen Charakters entstanden, die im Anschluß an die Beamtenliste die wichtigsten äußeren und inneren Ereignisse kurz verzeichneten. Erhalten sind uns dar aus für die Zeit der Perserkriege nur wenige Notizen, und zwar fast allein über Athen in den Resten der atthidographischen Literatur, namentlich bei Aristoteles. Viel urkundliches Material konnte die Kriegszeit nicht hinterlassen. Die Siegesdenkmäler, Gräber, Weihgeschenke mit ihren Aufschriften in Versen und Prosa hat bereits Herodot eingehend ausgenutzt. Einige sind uns noch erhalten, vor allem der delphische Dreifuß aus der Beute von Platää mit dem Verzeichnis der zum Freiheitskrieg verbündeten Gemeinden (u. S. 349, 1), ferner in späterer Erneuerung das Epigramm auf alle im Kriege gefallenen Megarer (IG. VII 53, vgl. WILHELM MAI. XXIII 168), ein Bruchstück des Epigramms der Korinther (DRAGUMES MAI. [221] XXII 53ff. Taf. IX; IG. I2 927) u.a. Was sich sonst von Urkunden, Volksbeschlüssen und ähnlichem fand, haben die Gelehrten der hellenistischen Zeit gesammelt und zur Ergänzung der Überlieferung verwertet; der Niederschlag ihrer Arbeiten liegt vor allem in Plutarchs Biographien und seiner kritischen Abhandlung über Herodot (u. S. 229, 1) vor.

Wenn der Gedanke, die gewaltigen Begebenheiten des Freiheitskriegs in einem erzählenden Geschichtswerk zur Darstellung zu bringen, den Kämpfern selbst und auch der unter ihrem Eindruck heranwachsenden Generation zunächst noch völlig fernlag, so haben sie doch unmittelbar nach den Ereignissen in der Literatur vielfachen Widerhall gefunden. Die Lyrik, wie sie Simonides und Pindar pflegten, konnte in den Siegesgedichten und den Trauerliedern auf die Gefallenen nur einzelne Episoden fixieren, oder in die zum Preise agonistischer Sieger verfaßten Gesänge kurze Anspielungen auf den großen Kampf einflechten. Dagegen hat das Drama Athens in dieser Zeit die nationalen Kämpfe der Gegenwart ebenso unbedenklich zur Darstellung gebracht wie die der Vergangenheit. Denn es entnimmt seinen Stoff der gesamten Geschichte; den Unterschied zwischen der Sage und der historischen Überlieferung, den die Wissenschaft macht, kennt das Volk zu keiner Zeit, und auch den Dichtern und Forschern lag er damals noch fern. Nicht prinzipielle Erwägungen, sondern die fortschreitende politische Entwicklung, welche es unmöglich machte, die inneren und äußeren Gegensätze der Folgezeit auf die Bühne zu bringen, hat für die späteren Dramatiker die Beschränkung auf den mythischen Stoff zur Notwendigkeit gemacht. Wir wissen von Phrynichos' Μιλήτου ἅλωσις (493?) und seinen »Phönissen« (476?), welche die Schlacht bei Salamis behandelten; erhalten sind uns Äschylos' »Perser« (472), die Xerxes' Kriegszug und den Kampf von Salamis erzählen und den von Platää vorausverkünden; Äschylos' »Perser« sind für die Überlieferung von maßgebendem Einfluß geworden: der Verlauf der Schlacht von Salamis und die Stärke der Perserflotte sind durch sie festgelegt (u. S. 353f. 368f.). Ergänzend trat dem Drama die bildende Kunst zur Seite: wie die zahlreichen Weihdenkmäler, namentlich in Delphi [222] und Athen, die Erinnerung an die große Zeit lebendig erhielten, so hat das Gemälde des Mikon und Panainos in der Stoa Poikile den Gang der Schlacht von Marathon fixiert (u. S. 311, 2).

Neben diesen Werken der Kunst stand der lebendige Strom der Überlieferung. In der Regel entschwinden die Begebenheiten des Augenblicks, auch wenn sie von der größten historischen Bedeutung sind und die Zeitgenossen und vor allem die unmittelbar von ihnen Betroffenen aufs tiefste erregt haben, in kürzester Frist dem Bewußtsein. Sie werden durch neue Ereignisse verdrängt, höchstens ein nebelhaft verschwommenes Bild erhält sich im Gedächtnis der Nachwelt, aus dem hier und da in vergröberten und verzerrten Umrissen eine Persönlichkeit oder ein Ereignis aufragt – oft genug ein Vorfall ohne jede größere Bedeutung, der durch irgend einen Zufall in der Erinnerung haften geblieben ist. Aber die Begebenheiten der Perserkriege waren so gewaltig und so umwälzend nicht nur für die politische Lage, sondern auch für das gesamte Denken und Empfinden des Volks, daß sie nicht so rasch vergessen werden konnten. Überall erzählte man von den wunderbaren Sie gen, die man nur durch unmittelbares Eingreifen der Götter glaubte erklären zu können. Feste Traditionen bildeten sich in den einzelnen Gemeinwesen, in den vom Kriege betroffenen Ortschaften, in den leitenden Familien. Im Detail wichen sie oft stark genug voneinander ab; jeder Mithandelnde, Staaten wie Individuen, suchte seine Beteiligung und seine Verdienste ins hellste Licht zu setzen, die der Genossen, die zugleich seine Rivalen waren, herabzudrücken; auch die Gegensätze der folgenden Zeit machten sich geltend. Den gemeinsamen Grundstock bildete die Folge der Ereignisse selbst und, soweit eine solche vorlag, ihre Fixierung durch die gleichzeitigen literarischen oder künstlerischen Zeugnisse. Durchweg aber tragen diese Überlieferungen die charakteristischen Züge der populären Tradition, deren Eigenart sich kaum irgendwo so gut studieren läßt wie hier285. Die großen Entscheidungen [223] sind festgehalten, der Eindruck der maßgebenden Persönlichkeiten und einzelner ausschlaggebender Momente hat sich tief eingeprägt; aber das, was für die geschichtliche Erkenntnis das Wesentlichste ist, die politischen und militärischen Zusammenhänge, die entscheidenden Erwägungen treten völlig zurück; durchaus dominiert das anekdotische Moment. Da die Massen überhaupt unfähig sind, einen historischen Prozeß, von dem sie immer nur ein ganz beschränktes Bruchstück übersehen, wirklich zu er fassen, erscheint die ganze Entwicklung als das Werk entweder des Zufalls oder höherer Mächte, die zugunsten der nationalen Sache eingreifen oder auch mit den Menschen ihr Spiel treiben und z.B. den Xerxes, um ihn zu demütigen, zu einem Kampf zwingen, vor dem er selbst zurückscheute. Das Bild einzelner taktischer Vorgänge während der Schlacht bleibt lebendig vor Augen, von dem strategischen Gedanken, auf dem sie beruht, haben schon die kämpfenden Truppen selbst keine Vorstellung, geschweige denn die Erzähler. Für die realen Vorbedingungen und Möglichkeiten einer militärischen Operation fehlt nicht nur dem Laien, sondern auch dem gewöhnlichen Soldaten jeder Sinn und jedes Verständnis. Unbedenklich lassen sie ungeheure Massen auf engstem Raum sich bewegen und physisch unmögliche Operationen ausführen; die Zahlen der Perserheere werden ins Gigantische, ja ins Groteske gesteigert. Durch diese Dinge sind die späteren Bearbeiter im Altertum wie in der Neuzeit in die Irre geführt worden, so daß sie die entscheidenden Gesichtspunkte meist nicht zu finden vermochten. Aber wenigstens die grundlegenden Ereignisse stehen unverrückbar fest; und so ist es einer unbefangenen Betrachtung, welche, unbekümmert um die Trübungen der Tradition, die Tatsachen selbst zugrunde legt und ihren Zusammenhang aufsucht, um von hier aus ein Bild der werdenden Ereignisse zu gewinnen, auch jetzt noch möglich, zu einem wirklichen Verständnis zu gelangen. Es kommt hinzu, daß die echte Tradition, wie sie Herodot aufgezeichnet hat, so sehr sie vom Ausgang beeinflußt ist, dennoch die Stimmung des Moments in wunderbarer Weise festgehalten hat und noch ganz frei ist von nationaler Überhebung und von dem Wahn, als sei der Ausgang etwas Selbstverständliches und [224] brauche eine freiheitliebende Nation nur zu den Waffen zu greifen, um das gewaltigste Heer eines despotischen Staats niederzuwerfen. Die spätere Zeit dagegen, deren Auffassung uns namentlich bei den attischen Rednern und bei den Historikern von Ephoros an entgegentritt, ist ganz von dieser Idee beherrscht und hat daher an Stelle der Herodotischen Tradition ein Zerrbild gesetzt, das, indem es die Taten der Griechen ins Übermenschliche steigert und die Perser mit geringschätziger Verachtung behandelt, die wirkliche Leistung des griechischen Volks und seiner Führer vollständig vernichtet. Das hat dann auf der anderen Seite, z.B. bei Theopomp, dem erbitterten Gegner Athens, zu einer ebenso unberechtigten, aber allerdings sehr erklärlichen Kritik geführt, welche die Taten der Griechen und namentlich die Verdienste Athens nach Kräften herabdrückt. Nicht viel anders, nur weniger konsequent ist es, wenn GROTE und überhaupt die moderne populäre Anschauung trotz aller Begeisterung für die griechische Sache ihren Erfolg nur dadurch zu erklären weiß, daß die Gegner noch größere Fehler begangen hätten als die Griechen286.

[225] Die erste geschichtliche Darstellung der Perserkriege hat (geraume Zeit nach 464) Charon von Lampsakos in seiner »Persischen Geschichte« gegeben. Die wenigen erhaltenen Bruchstücke scheinen zu zeigen, daß seine Erzählung weit kürzer war als die Herodots und im Interesse der Griechen manches verschwieg, was dieser mitteilte. Seine Arbeit ist vollkommen in den Hintergrund gedrängt durch das Werk Herodots. Herodot von Halikarnaß, ein eifriger Anhänger Athens und seiner Politik und Kultur, der daher wie so viele andere im Jahr 444 in Perikles' panhellenischer Schöpfung Thurii eine neue Heimat zu finden hoffte, aber die Stadt, wie es scheint, schon sehr bald (vor 440) als ausgesprochener Anhänger Athens wieder verlassen mußte, hat jahrelang die Traditionen der Hellenen und Barbaren gesammelt, ihre Länder, Sitten und Denkmäler auf umfassenden Reisen kennengelernt und die Ergebnisse seiner Forschungen und Erkundungen in Vorträgen nach Art der Fabel- und Märchenerzähler (λογοποιοί) dem unterhaltungsbedürftigen und wißbegierigen Publikum vorgetragen. Der Ausbruch des großen Entscheidungskampfes zwischen Athen und den Peloponnesiern, der allgemeine Sturm auf Athens Stellung, der dazu führte, seine Verdienste um Hellas nach Kräften zu verkleinern und womöglich ganz zu leugnen (vgl. VII 139), gab ihm den Anlaß, alles, was er erkundet hatte – mit Ausschluß der Geschichte Assyriens, die er einer besonderen Schrift vorbehielt – zu einem einheitlichen Werk zu verarbeiten, das in die Verherrlichung der Großtaten Athens ausklang, in dessen Händen in den Jahren 480 und 479 allein die Entscheidung gelegen hatte. Damit war zugleich die führende Stellung gerechtfertigt, welche Athen seitdem eingenommen hatte und zu deren Verteidigung es unter der Leitung seines großen Staatsmanns den ihm hingeworfenen Fehdehandschuh unbedenklich aufnahm. So ist gleich das erste [226] große, von einer universellen, weit über die nationalen Schranken hinausgreifenden Auffassung getragene Geschichtswerk, welches die Weltliteratur kennt, recht eigentlich ein Erzeugnis des aufs höchste gesteigerten politischen Kampfes und von einer politischen Tendenz beherrscht so gut wie die Geschichtswerke des 19. Jahrhunderts: die Erkenntnis der Vergangenheit gibt den maßgebenden Gesichtspunkt für die Beurteilung der Parteiungen und der Aufgaben der Gegenwart. Überall tritt die Tendenz deutlich hervor und hat der Darstellung und dem Urteil des Schriftstellers die Färbung gegeben: in der Beurteilung des Verhaltens der griechischen Staaten in der Perserzeit, der Gehässigkeit, mit der Theben und Korinth, der leichten Ironie, mit der Sparta behandelt, der Entschuldigung, die Thessalien und namentlich Argos für ihr Verhalten zugebilligt wird, und nicht minder in der ausführlichen Apologie der dunklen Punkte in der Geschichte des Alkmeonidenhauses beim Kylonischen Frevel und zur Zeit der Schlacht bei Marathon, in der Anerkennung des Kleisthenes, in der Erwähnung der Geburt des Perikles »des Löwen«, und in der argen Gehässigkeit, mit der das Andenken des Themistokles, des Gegners der Alkmeoniden, durchweg verfolgt, seine Verdienste nach Möglichkeit herabgesetzt werden.287

Im allgemeinen gibt Herodot die Traditionen, wie er sie gehört hat. Bewußte Entstellung ist nirgends nachweisbar; vielmehr folgt er dem Grundsatz, daß seine Aufgabe sei, mitzuteilen, was erzählt ward, auch wenn er die Erzählung nicht für richtig halte [227] (VII 152: ἐγὼ δὲ ὀφείλω λέγειν τὰ λεγόμενα, πείϑεσϑαί γε μὲν οὐ παντάπασι ὀφείλω καί μοι τοῦτο τὸ ἔπος ἐχέτω ἐς πάντα λόγον). Wiederholt wird eine kritische Bemerkung oder ein Urteil ausgesprochen, meist aber ergibt sich der Eindruck, den der Autor erzielen will, aus der von ihm geschaffenen Verknüpfung der Überlieferung von selbst. Die attische Tradition dominiert überall; daneben hat er aufgenommen, was ihm von Berichten zugänglich wurde, namentlich auch aus in Sparta und Delphi eingezogenen Erkundungen; auch hat er noch einzelne Männer gesprochen, die den Krieg selbst erlebt hatten, so Thersandros von Orchomenos IX 16. Für die Vorgänge auf persischer Seite konnte er von Persern nur Vereinzeltes erfahren, z.B., wie es scheint, von dem im 5. Jahrhundert mit der Satrapie von Daskylion belehnten Hause des Artabazos. Seine Hauptquellen waren hier die an Artemisia anknüpfende Halikarnassische Tradition und die Überlieferung im Hause Demarats, das in Teuthrania regierte (o. S. 57), daneben einzelne Erzählungen attischer Exulanten (Dikaios VIII 65, vgl. 54). Außerdem hat er für den Zug des Xerxes von Phrygien bis nach Therme eine schriftliche Vorlage benutzt (vgl. o. S. 5), in die er viele Zusätze, namentlich auch über die Abstammung der Völkerschaften in Xerxes' Heer, eingefügt hat. Sonst sind schriftliche Quellen nicht nachzuweisen, vielmehr ist die Verknüpfung und Anordnung der Überlieferung, wie die äußerst geschickte, bis ins kleinste durchgearbeitete Disposition lehrt, durchaus sein Eigentum288. Nur sehr dürftig und lediglich episodisch sind die Vorgänge auf Sizilien behandelt, so daß wir, da uns eine andere brauchbare Überlieferung hier nicht zu Gebote steht – wir haben neben Herodot einzig die völlig verzerrte Darstellung des Timäos im Auszug bei Diodor –, über dieselben nur ganz unzulänglich unterrichtet sind. – Die Aufgabe der Kritik ist, das von Herodot durch die Verknüpfung der Traditionen geschaffene Mosaikgemälde wieder in seine Bestandteile aufzulösen und, soweit [228] es möglich ist, die Überlieferung so wieder herzustellen, wie er sie gehört hat. Nicht selten zeigt sich dann, daß Herodot falsch kombiniert und z.B. bei der chronologischen Einreihung der Tatsachen Irrtümer begangen hat.289

Mit den Fragen des menschlichen Lebens und Schicksals, dem Verhältnis des handelnden Individuums zu den allgemeinen Faktoren, welche überall in die Absichten des Einzelnen eingreifen und seine Pläne fördern oder durchkreuzen, hat sich Herodot vielfach beschäftigt. Oft versucht er, die Erwägungen, welche die Situation bietet, auszuführen, die Auffassung der Handelnden darzulegen. Diesen Aufgaben dienen vor allem die zahlreichen Reden und Gespräche seines Werks. Auch wo die Überlieferung einen Anhalt bot, sind sie seine freie Schöpfung. Vielfach hat er sie ganz frei komponiert, so die Reden über die Ansprüche auf die Hegemonie, VII 159ff., IX 26ff., bei denen die attischen Leichenreden, speziell die des Perikles im Samischen Krieg, benutzt sind, ebenso z.B. die Gespräche zwischen Xerxes und Artabanos über das Menschenlos, oder das gleichartige Gespräch zwischen Solon und Krösos. Zu einer tieferen Auffassung des historischen Prozesses, zu einer Geschichtsbetrachtung, welche die wirkenden Kräfte aufzusuchen und herauszuarbeiten vermag, ist er freilich nicht gelangt. Vielmehr scheint ihm überall, sowenig es auch möglich ist, zu einer wirklichen Erkenntnis der Götter und ihres Wesens zu gelangen, das menschliche und geschichtliche Leben abhängig von dem Eingreifen übernatürlicher Mächte290. Sie lenken die Dinge, wie sie wollen. Sie verkünden die Zukunft durch Orakel und Weissagungen und bewirken, daß ihr Wort sich erfüllt. Vor allem aber wachen sie eifersüchtig über ihrer Machtsphäre und sorgen dafür, daß der Mensch nicht ihresgleichen werde, sie haben ihre Lust daran, ihn zu demütigen und von seiner Höhe herabzustürzen, [229] seine hochfahrenden Pläne zu vereiteln. Es ist derselbe Standpunkt eines entschlossenen Realismus, der es wagt, den harten Tatsachen des Lebens ins Auge zu schauen, den die attische Kultur diesen Problemen gegenüber einnimmt und den in derselben Weise Sophokles vertritt (vgl. u. S. 768.). Dieser Empirismus beherrscht auch sonst Herodots Weltanschauung, namentlich in der Geographie. Mit ihm verbindet sich in der Kritik der Traditionen der alte, auch in der Überlieferung selbst schon vielfach durchgedrungene Rationalismus, dessen Ergebnisse, wie sie Hekatäos und seine Nachfolger gefunden hatten, für Herodot feststehende Erkenntnisse sind. Die wahre historische Kritik dagegen liegt ihm noch ganz fern: der aus Empirismus und Rationalismus erwachsende Zweifel an den Einzelheiten der Überlieferung vermag sich über die Tradition nicht zu erheben, noch von ihr zu den Tatsachen aufzusteigen, aus denen sie erwachsen ist, sondern nimmt sie, von den einzelnen Anstößen abgesehen, hin wie sie ist. Am stärksten tritt das bei Herodot auf militärischem Gebiet hervor: hier steht er ganz im Banne der populären Auffassung, und ist daher völlig außerstande, ein reales Bild von einer Operation oder einer Schlacht zu entwerfen. So ist es ihm denn auch nicht möglich, sich zu einer einheitlichen Auffassung der Vorgänge oder gar einer Persönlichkeit durchzuarbeiten: seine Darstellung behält, trotz alles dessen, was er aus eigenem Ermessen hinzugetan hat, den Charakter des Mosaiks. Seine Stärke liegt in dem glänzenden Erzählertalent, in der Freude an all den reichen und interessanten Geschichten, die er gesammelt hat und reizvoll wiedergibt. Daher hat sein Werk immer einen unwiderstehlichen Zauber ausgeübt, selbst auf Zeiten, in denen ein flacher rhetorischer Rationalismus die Geschichtsschreibung beherrschte und man, wie von Isokrates an durch die ganze hellenistische Zeit, auf Inhalt und Charakter seiner Erzählungen geringschätzig herabsah. Gelesen hat man ihn auch damals trotzdem immer von neuem291.

Von Hellanikos' Geschichte der Perser ist uns kein Fragment von Bedeutung erhalten. Die Auszüge aus Ktesias lassen auch hier [230] erkennen, wie rasch die Tradition sich verschlechtert: er knüpft die Schlacht bei Marathon an den Skythenfeldzug an und setzt die Schlacht von Platää vor Salamis. Die abgeleiteten Darstellungen der Späteren schließen durchweg an Herodot an, so gleich das Epos des Chörilos von Samos (um 400), dann Ephoros (erhalten bei Diodor und Justin), der nur einige populäre Ausschmückungen hinzufügt, so bei Thermopylä. Im übrigen hat er Herodot modernisiert und einen besseren Pragmatismus durchzuführen versucht. Daraus sind manche scheinbare, aber grundfalsche Konstruktionen hervorgegangen, z.B. die Ansicht, daß während des Kriegs ein hellenisches Synedrion in Korinth die Leitung gehabt und auch nachher noch als Bundesorgan funktioniert habe. Außerdem herrscht bei ihm eine starke, wenngleich unbewußte Parteilichkeit zugunsten Athens, in der ihm alle Neueren getreulich gefolgt sind; gelegentlich, so bei Mykale, tritt auch die Tendenz hervor, die Verdienste der Griechen Kleinasiens zu steigern (vgl. auch o. S. 225). Für die Geschichte sind seine und alle späteren Darstellungen ohne Wert, abgesehen von ein paar Angaben aus Urkunden, Stadtchroniken und ähnlichem bei Plutarch (o. S. 222).


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 221-231.
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