Neuere Bearbeitungen

[272] Da ein Überblick der Entwicklung der modernen Forschung und Literatur über griechische Geschichte schon im vorigen Bande (S. 223ff.) gegeben ist, können wir uns hier auf wenige Bemerkungen beschränken. Die rastlos vorwärtsdringende, methodisch geschulte Forschung des 19. Jahrhunderts hat nach allen Seiten hin unser Wissen erweitert und vertieft; eine Fülle von Einsichten und Kenntnissen, welche die bahnbrechenden Forscher mühsam erobern mußten, sind jetzt Gemeingut aller geworden, die auf diesem Gebiete zu arbeiten sich anschicken. Das Material ist gewaltig erweitert vor allem durch die neugefundenen Denkmäler und Inschriften, daneben durch die Reste alter Literatur, welche uns die Papyri Ägyptens gebracht haben. Mindestens ebensoviel ist aber durch die Vertiefung des Verständnisses der Literatur und die kritische Durcharbeitung und Sichtung der Überlieferung neu erschlossen worden, sowohl negativ, indem unhaltbare Ansichten und unzuverlässige oder völlig [272] wertlose Angaben beseitigt wurden, wie positiv, indem es gelang, untergegangene Schriften aus der abgeleiteten Überlieferung zu rekonstruieren und verschollene oder unbeachtete Nachrichten richtig zu würdigen, auf dem Unterbau des neu gesichteten und auf seine Zuverlässigkeit sorgfältig geprüften Materials die zunächst isoliert dastehenden Tatsachen zu verbinden und so den Zusammenhang der Entwicklung wiederherzustellen. Bahnbrechend ist hier überall vor allem BOECKH gewesen. Das Ergebnis liegt jedem, der sich überhaupt wissenschaftlich mit der Geschichte der griechischen Zeit beschäftigt; hat, klar vor Augen: auf allen Gebieten, im Osten wie im Westen, ist unsere Erkenntnis in stetem Vorschreiten begriffen, auch die bedeutendsten Werke, die ihrer Zeit das Verständnis mächtig gefördert haben, sind nach wenigen Jahrzehnten nicht nur in zahlreichen Einzelheiten, sondern oft auch in fundamentalen Dingen inhaltlich veraltet. Um so seltsamer berührt es, wenn von Zeit zu Zeit immer aufs neue nicht nur von Dilettanten, sondern auch von Gelehrten, die sich auf anderen Gebieten als Historiker ersten Ranges erwiesen haben, der Versuch gemacht wird, unter Ignorierung dieser ganzen Arbeit eines vollen Jahrhunderts ein Bild der griechischen Entwicklung zu entwerfen, so vor zwanzig Jahren von RANKE in seiner »Weltgeschichte« und neuerdings von J. BURCKHARDT in der aus seinem Nachlaß herausgegebenen »Griechischen Kulturgeschichte«. Es ist, als wollte jemand ein Werk über Mathematik schreiben, ohne die wichtigsten Lehrsätze dieser Wissenschaft zu kennen. Der Forscher wird diese Werke unwillig beiseite werfen; aber daß sie überhaupt unternommen werden konnten und daß sie mit großem Beifall aufgenommen sind, ist ein sehr beherzigenswerter Hinweis darauf, wie wenig die Ergebnisse wissenschaftlicher, kritischer Geschichtsforschung in weitere Kreise auch nur der nächststehenden Gelehrtenwelt, geschweige denn in das größere Publikum eindringen, selbst wenn sie literarisch noch so glänzend vertreten sind.

Noch ein zweites Moment verdient Erwähnung. Die ältere, von den Anschauungen unserer Klassiker ausgehende idealistisch-ästhetisierende Auffassung des Griechentums, wie sie zuletzt in glänzender Darstellung E. CURTIUS vertreten hat, eine Auffassung,[273] welche für die realen Mächte des geschichtlichen Lebens weder Interesse noch Verständnis hatte und daher zu einer wahrhaft politischen Betrachtung nicht gelangen konnte noch wollte, ist seit der Mitte des Jahrhunderts der politisierenden Geschichtsschreibung erlegen. Dieselbe war ein Ausfluß der politischen Ideen, welche die erste, größere Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrschten. Der Gegensatz der liberalen, fortschrittlichen, konstitutionell-demokratischen, und der konservativ-reaktionären, autoritativen Weltanschauung stand ihr im Mittelpunkt aller Geschichtsentwicklung und beherrschte ihr historisches Urteil. Die Kämpfe, welche die Gegenwart bewegten, sah sie auch in der Vergangenheit und nicht am wenigsten in der griechischen Geschichte. Aus der Geschichte glaubte sie den Maßstab gewinnen zu können, nach dem die moderne Entwicklung zu messen sei, hier suchte sie die Prinzipien, deren Sieg allein der Gegenwart ein gedeihliches Fortschreiten sichern könne. Aber tatsächlich entnahm sie den Maßstab der Gegenwart selbst, und zwar nicht einer unparteiischen Auffassung, die in dem harten Ringen der Gegensätze überhaupt nicht zu gewinnen war, sondern, der eigenen Partei: die Berechtigung ihrer eigenen Anschauungen und Forderungen und die absolute Verwerflichkeit des gegnerischen Standpunktes wollte sie historisch erweisen, wenn sie den Kampf zwischen Athen und Sparta und den Kampf zwischen Demokraten und Aristokraten innerhalb der einzelnen Staaten darstellte. Eine wahrhaft unparteiische Geschichtsschreibung, die über den Gegensätzen stehend beiden Seiten gerecht zu werden sucht, war auf diesem Wege nicht zu erreichen. Der Entwicklung des Jahrhunderts entsprechend dominierte auch in der historischen Literatur durchaus der Liberalismus: und dieser ist, weil er in seinem Prinzip unhistorisch ist, vielmehr die Grundsätze und Grundforderungen des politischen Lebens aus Vernunftsätzen deduziert, am wenigsten imstande, ein freies historisches Urteil zu gewinnen. Sein Standpunkt ist überall und zu allen Zeiten der richtige, der der Gegner der verkehrte. So war es selbstverständlich, daß in allen entscheidenden Kämpfen die Spartaner und ihre Gesinnungsgenossen, die »Oligarchen« in Athen und weiter die Patrizier Roms und später der römische Senat im [274] Unrecht, Athen und die griechische Demokratie, die Plebejer und die Popularpartei im Recht waren. Ausgegangen ist diese Geschichtsbetrachtung auf griechischem Gebiet von G. GROTE, einem der Führer der englischen Radikalen; dann hat sie vor allem in Deutschland festen Boden und zahlreiche überzeugte Vertreter gefunden. Gegenüber der älteren Anschauung bezeichnete sie einen entschiedenen Fortschritt, indem sie zum ersten Male ernstlich die politischen Fragen in den Mittelpunkt stellte und das Verständnis für sie erschloß. Auch positiv hat sie die Erkenntnis gefördert; vieles, was sie über die athenische Demokratie gelehrt hat, wird immer bestehen bleiben. Aber ihre Einseitigkeiten und Mängel liegen jetzt klar zutage. GROTES Werk ist in weitem Umfang nicht eine Geschichte, sondern eine Apologie Athens. Mit der Wandlung der Anschauungen, dem Zurücktreten der alten und dem Emporkommen neuer Gegensätze seit 1870 ist auch auf diesem Gebiete eine neue Wendung eingetreten. Die Einseitigkeiten, die Abhängigkeit von ephemeren Erscheinungen der Gegenwart, die zweifellos auch unserer Auffassung anhaften, wird erst eine spätere Generation richtig zu erkennen vermögen; daß wir in politischen Fragen unparteiischer geworden und dadurch zu einem richtigeren und umfassenderen historischen Urteil gelangt sind, wird schwerlich in Abrede gestellt werden können. Sehr scharf tritt die neue Richtung vor allem in J. BELOCHS »Attischer Politik seit Perikles« (1884) hervor. Seitdem hat BELOCH in seiner »Griechischen Geschichte« (2 Bde. 1894. 97) auf Grund umfassender Durcharbeitung des Materials ein Gesamtbild der griechischen Entwicklung entworfen, dem das besondere Verdienst zukommt, daß er im Anschluß an die gegenwärtig herrschende politische und geschichtliche Auffassung vor allem die materiellen Grundlagen der Entwicklung betont und klar dargelegt hat. – Ein näheres Eingehen auf die umfangreiche sonstige Literatur ist an dieser Stelle nicht möglich. Eine auf sorgfältigen Einzeluntersuchungen beruhende Darstellung verdanken wir A. HOLM, ein umfassendes Repertorium des gesamten Materials mit eingehender kritischer Analyse G. BUSOLT, dessen »Griechische Geschichte« bis jetzt320 bis zum [275] Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs vorgedrungen ist. Vor allen aber muß hier V. WILAMOWITZ genannt werden, der mehr als irgendein anderer Lebender zur Erschließung eines tieferen und lebensvolleren Verständnisses der geistigen und literarischen Entwicklung Griechenlands beigetragen und vielfach auch die Lösung der historischen Probleme selbst da, wo eine einseitige Auffassung bei ihm kaum zu verkennen ist, intensiv gefördert hat321.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 272-277.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gustav Adolfs Page

Gustav Adolfs Page

Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.

42 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon