Die wirtschaftliche Umwälzung und die neuen Parteien

[510] Die Geburtsstände, welche jedem Menschen seine Lebensstellung, seine bürgerlichen und sozialen Rechte und Pflichten und mit dem ererbten Beruf zugleich einen sicheren Erwerb unabänderlich zuwiesen, waren mit der mittelalterlichen Staatsordnung gefallen. Der attische Adel war in den Parteikämpfen des 6. Jahrhunderts seiner Privilegien beraubt, aber nicht vernichtet worden; die Ansprüche der Massen auf gleiches Recht und Anteil am politischen Leben, auf Bewegungsfreiheit und Erwerbsfähigkeit waren befriedigt, ihre weiteren Forderungen zurückgewiesen. Der Sieg war der Mittelpartei zugefallen: ihr Ideal hat, auf den von Solon geschaffenen Grundlagen fortbauend, die Verfassung des Kleisthenes durchzuführen gesucht. Alle Privilegien sind gefallen, ein Recht gilt für alle Bürger. Auch die landschaftlichen Gruppen,[510] deren Gegensätze bisher den Staat in Parteiungen zerrissen, wurden zersprengt: in den zehn neuen Phylen sind je ein Bezirk des Stadtgebiets mit einem des Binnenlandes und einem der Küste zu einem fiktiven Stammverbande verschmolzen, dessen durch das Los bestimmter Ausschuß, die Prytanen, 36 Tage lang die Geschäfte des Staates führt, der zu den Ämterkommissionen ein Mitglied stellt, dessen Aufgebot die taktische Einheit des Bürgerheeres bildet. Jeder Bürger gilt, solange er unbescholten ist, der Idee nach als gleichwertig mit jedem andern: seine Stimme wiegt in der Volksversammlung und im Volksgericht so viel wie die seines Nebenmanns, die Ratsstellen und die Ämter mit Ausnahme der militärischen, seit der Reform von 487 auch die Archontenstellen, werden durch das Los besetzt. Jeder Einfluß der Persönlichkeit und der Partei ist dadurch ausgeschlossen; irgendeine Befähigung für den betreffenden Posten wird nicht gefordert, ja prinzipiell abgelehnt, da niemand irgendeins dieser Losämter öfter als ein einziges Mal und die Stellung eines Ratsherrn öfter als zweimal in seinem Leben bekleiden darf: die Erfordernisse sind derart, daß ihnen jeder unbescholtene Bürger Genüge leisten kann. Nur ein Unterschied ist geblieben: der des Besitzes. Rechtlich steht der Erwerbstätigkeit des Armen kein Hindernis im Weg, ja der Staat verlangt, daß er arbeite, und bestraft den beschäftigungslosen Tagedieb. So mag jeder nach seinen Fähigkeiten suchen, zu Wohlstand zu gelangen und die Glücksfälle ausbeuten, die das Leben bietet. Aber solang er nichts hat, ist er eben dadurch behindert, politisch tätig zu sein. Die Proletarier (Theten), der vierte Stand, können keine Ämter bekleiden noch als Hopliten kämpfen, da sie von ihrer Hände Arbeit leben müssen: so steht ihnen nur die Teilnahme an Volksversammlung und Gericht zu. Aber auch im dritten Stand, der Bürgerwehr der Zeugiten, gibt es Leute genug, die von dem Rechte, sich in den Rat und die Ämter losen zu lassen, selten oder nie Gebrauch machen können, weil ihnen ihre Arbeit vollauf genug zu tun gibt; im wesentlichen sind es nur die Wohlhabenderen, die an der Regierung Anteil haben. An ihrer Spitze stehen die beiden oberen Klassen, denen allein die höchsten Ämter zugänglich sind; denn sie leisten dem Staat weit mehr als alle andern, nicht nur bei der [511] Erhebung außerordentlicher Vermögenssteuern, sondern vor allem durch die Liturgien, die alljährlich auf die Reichsten verteilt werden. So verlegt die Kleisthenische Staatsordnung, indem sie wie die Lasten so auch die politischen Rechte nach der Leistungsfähigkeit verteilt, das Schwergewicht in die Besitzenden. Da die Losung für Ämter und Rat auf die drei oberen Klassen beschränkt ist, kommt ihr Wille auch in der Leitung der Geschäfte zum vollen Ausdruck. Denn bei ihrer großen Zahl sind die Erlosten, beliebig herausgegriffene Individuen aus der Masse, in ganz anderer Weise Repräsentanten der Gesamtheit der Konstituierenden als unsere erwählten Volksvertreter: jede Parteiung, jedes Dominieren persönlicher Interessen ist hier ausgeschlossen, freilich, wie früher (o. S. 322) hervorgehoben, auch jede Möglichkeit einer wirklichen Führung der Regierung durch diesen Rat. Dieselbe war vielmehr zunächst dem jährlich gewählten Regenten, dem Archon, und bei den großen Entscheidungen der Volksversammlung zugewiesen. Aber den konservativen Charakter, der der Kleisthenischen Verfassung innewohnt, hat der athenische Staat auch noch bewahrt, als durch die Einführung des Loses für die Archonten 487 das Regentenamt tatsächlich beseitigt und damit das Gewicht der Volksversammlung gewaltig vermehrt wurde. Denn über allen anderen Organen des Staats stand kontrollierend der Areopag; und er blieb ein Vertreter der oberen Stände von bedeutender, auf der Lebenslänglichkeit seiner Mitglieder und auf seiner Funktion als Blutgericht beruhender Autorität, auch als die Archonten, die in ihn übergingen, nicht mehr erwählt, sondern erlost wurden.

Durch die Schöpfung der Flotte war die arbeitende Bevölkerung zu den staatlichen Lasten herangezogen worden: sie hatte zum Siege und zur Gewinnung der Großmachtstellung ebensoviel beigetragen wie die Hopliten der oberen Stände. Dafür gewann auch sie einen reichen Anteil an den Vorteilen, die aus der wachsenden Herrscherstellung der Bürgerschaft zuflossen. Überall waren ihr die Wege geöffnet zu lohnendem Erwerb, zur Gewinnung von Wohlstand und Reichtum. So konnte es scheinen, als sei die Homogenität der Bürgerschaft, ihre innere Einheit in Denken und Zielen, welche die Verfassung voraussetzte, jetzt erst recht begründet. Aber [512] der Schein trog; tatsächlich hatte die neue Gestaltung der Verhältnisse, wie die Gegner der Flotte vorausgesehen hatten, eine Verschiebung des Schwergewichts in die unteren Klassen zur Folge. Alle Siege im Felde waren in erster Linie Erfolge der Flotte und des Proletariats: mochten die Hopliten vor Eion und am Eurymedon noch so tapfer gekämpft und den eigentlichen Sieg erfochten haben, daß sie überhaupt kämpfen und siegen konnten, war ausschließlich das Verdienst der Flotte und der Seemacht. Noch bedeutender waren die Folgen für das wirtschaftliche Leben: die Umwandlung der politischen und materiellen Lage des Staats führte zu einer völligen Verschiebung der inneren Struktur der attischen Bürgerschaft.

Attika ist kein ergiebiges Land; schon zu Solons Zeit hatte die einheimische Ernte zur Ernährung der Bevölkerung kaum noch ausgereicht. Seitdem hatte die Olivenkultur gewaltige Dimensionen angenommen; das Öl wurde ein Hauptartikel des attischen Exports. Dadurch wurde zwar mancher bisher wenig ertragfähige Boden der Binnenlandschaft (Mesogaia) kultiviert, dafür aber auch große Flächen Kulturlandes, namentlich in der fruchtbaren Kephisosebene, dem Ackerbau entzogen. Wir dürfen annehmen, daß im 5. Jahrhundert höchstens etwa ein Viertel der Bodenfläche Attikas dem Zerealienbau diente – davon wurde, da man mit Brache und Aussaat alljährlich wechselte, also nach dem Zweifeldersystem wirtschaftete, alljährlich die Hälfte (etwa 10-12% des Bodens) mit Getreide, und zwar fast ausschließlich mit Gerste bestellt. Der attische Getreidebau war eben dem billigen überseeischen Korn gegenüber bei den großen Produktionskosten und der geringen Ertragsfähigkeit des Bodens nicht mehr konkurrenzfähig. Lohnender war die Produktion von Gemüse, namentlich Zwiebeln, Knoblauch, Hülsenfrüchten; aber auch hier machten die Bauern von Megara und Böotien denen Attikas auf dem Markt der Hauptstadt starke Konkurrenz. Nicht wenige Produkte wurden aus weiter Ferne importiert, Käse aus Sizilien, Graupen aus Thessalien. Das Obst von Euböa und Rhodos, der vortreffliche Wein der ionischen und thrakischen Inseln drängten die attischen Erzeugnisse immer mehr in den Hintergrund. Nur einzelne Spezialitäten, wie der [513] Honig vom Hymettos oder die Kohlenbrennereien der Bauern des großen Dorfes Acharnä in der oberen Kephisosebene, behaupten ihre Stellung. Im allgemeinen haben offenbar die Grundbesitzer, Magnaten wie Bauern, an Getreide wie an Wein nur gebaut, was sie für den eigenen Haushalt brauchten; die zahlreiche übrige Bevölkerung, vor allem die Hauptstadt und der Hafen, waren ganz auf überseeisches Korn angewiesen. Bereits im 5. Jahrhundert wird Attika mindestens doppelt soviel Getreide importiert haben, als es selbst produzierte. Zum Teil wurde das Bedürfnis durch die eroberten und von Athen kolonisierten Gebiete gedeckt, die Inseln Salamis, Skyros, Imbros und vor allem Lemnos sowie die Besitzungen in Thrakien, zu denen später noch die auf Euböa hinzukamen. Mindestens ebensoviel mußte aus dem Ausland bezogen werden, vor allem aus der Krim (u. S. 727f.); darauf beruhte die außerordentliche Bedeutung, welche die Beherrschung der hellespontischen Meerstraße für Athen besaß586.

So verliert die Landwirtschaft in Attika immer mehr an Boden. Für die kleisthenische Staatsordnung und das Bürgerheer, das bei Marathon gesiegt hatte, galt sie als der eigentliche Lebensberuf des freien Mannes; jetzt beschäftigt und ernährt sie mit all ihren Nebenzweigen nicht mehr die Hälfte der Bevölkerung, geschweige denn, daß sie noch der volkswirtschaftlich wichtigste Erwerbszweig wäre. Dagegen für die neuen Berufe, die in Stadt und Hafen und auf der See ihren Nährboden haben und sich um Industrie und Handel gruppieren, ist jetzt der weiteste Raum geschaffen; sie werden ausschlaggebend im ökonomischen Leben und daher auch in der äußeren Erscheinung der Bürgerschaft. In Massen drängt die Bevölkerung vom Land in die Stadt. Die Wohlhabenderen mochten, während sie sich hier neuen, einträglicheren Geschäften zuwandten, ihr Ackergut draußen behalten und durch Knechte bewirtschaften lassen, auch zeitweilig selbst inspizieren587. Für die [514] Ärmeren, die Landarbeiter, Kleinpächter, Tagelöhner, gab es in der Stadt Beschäftigung und Erwerb in Fülle, teils als Arbeiter und Lastträger, Handlanger, Matrosen und Seeleute aller Art, Fuhrleute, Ausrufer (κήρυκες), die namentlich die staatlichen und privaten Auktionen besorgten, durch die ein großer Teil der Waren umgesetzt wurde, teils als selbständigere Geschäftsleute, Handwerker und Künstler, Krämer und Detaillisten aller Art – auch die fliegenden Verkaufsstände auf den Märkten und Gassen, z.B. der Wursthandel, fanden guten Absatz. Wer unternehmend oder vom Glück begünstigt war, konnte zu großem Wohlstand gelangen; mancher kleine Handwerker hat sich zum Fabrikanten, mancher Krämer (κάπηλος) zum Kaufmann (ἔμπορος), mancher Wechsler zum Bankier (τραπεζίτης) emporgearbeitet588. Außerdem beschäftigt der Staat fortwährend zahlreiche Arme für seine Arbeiten, den Schiffsbau und die Bemannung der Flotte, die öffentlichen Bauten. Ferner sind alljährlich Hunderte von Ämtern kommissarisch zu besetzen, und zu jedem Amt gehört ein ständiges Büro mit Berufsschreibern, Boten u.a., in denen zahlreiche Bürger dauernde Anstellung finden – nur für die dienenden Stellungen werden Staatssklaven verwertet. Die Bedürfnisse des Staats und des Verkehrs- und Geschäftslebens sind so groß, daß die bürgerliche Bevölkerung nicht ausreicht und für den ununterbrochenen Zuzug von Metöken Raum genug bleibt. – Aber die Anziehungskraft der Stadt geht noch viel weiter. Sie bietet Genüsse in Fülle, sie allein ermöglicht die ständige Teilnahme am öffentlichen Leben und an den Vorteilen, welche der Staat, die großen Feste, die Wohltätigkeit der Privaten gewähren; sie allein gestattet, mit den [515] materiellen wie mit den geistigen Fortschritten des Kulturlebens enge und ununterbrochene Fühlung zu gewinnen und an dem regen gesellschaftlichen Verkehr Anteil zu nehmen, der bei Gastmählern und Trinkgelagen alle Schichten der Bevölkerung vereinigt. Die Tyrannen hatten in Athen wie in Korinth und sonst versucht, diese Entwicklung zu unterbinden und die ärmere Bevölkerung aufs Land zu drängen: jetzt gelangt die Gegenströmung zu vollem Durchbruch. Noch immer gibt es Landwirte, die den größten Teil ihres Lebens draußen zubringen und sich vom politischen Leben fernhalten, auch wenn sie ein Stadthaus besitzen; und wer in den Dörfern vor der Stadt ein kleines Gut hat, das ihn und seine Familie notdürftig ernährt, bleibt wohl draußen wohnen und kommt frühmorgens in die Stadt und geht des Abends wieder hinaus, wie die kleinen Leute, die sich in der Komödie zu Volksversammlung und Gericht drängen. Aber auch diese gehören schon mehr zu den städtischen Elementen als zur Bauernschaft. Von den etwa 60000 erwachsenen Männern, welche die attische Bürgerschaft um 460 gezählt haben mag, hat weitaus die Mehrzahl in Athen und seiner nächsten Umgebung gewohnt589.

Schon bei der Sprengung der mittelalterlichen Verhältnisse hat die moderne Macht des Geldes eine entscheidende Rolle gespielt; jetzt wird sie zum dominierenden Faktor des wirtschaftlichen Lebens, und zwar in der Form des werbenden Kapitals590, das sich mehrt, indem es sich die menschliche Arbeitskraft nutzbar macht und sie wirtschaftlich in viel größere Abhängigkeit bringt als ehemals in den rechtlich gebundenen Formen der mittelalterlichen [516] Gesellschaft. Kein größeres Unternehmen ist ohne Anlagekapital möglich, die Reederei und das kaufmännische Import-und Exportgeschäft sowenig wie die Fabrik, wie das Bank- und Wechselgeschäft, die Pachtung der Einnahmen und Ausgaben des Staats oder die Pachtung einer Mine in den Bergwerken vom Laurion oder in Thrakien; aber das hineingesteckte Kapital verzinst sich reichlich – ist doch noch im folgenden Jahrhundert 12% jährlich der übliche Zinsfuß für sichere Darlehen, während man für Darlehen auf Seefahrten, dem größeren Risiko entsprechend, damals 20-331/3% Zinsen für die Fahrt erhielt591. Wie schon im 6. Jahrhundert in Ionien, Korinth, Ägina, so macht jetzt auch in Athen das selbständige Handwerk immer mehr dem Fabrikbetrieb Platz, der auf Vorrat arbeitet und die Bedürfnisse des ungeheuren und stets wachsenden Exports befriedigt. Für all seine großen, fortwährend sich vermehrenden Betriebe braucht derselbe Arbeitskräfte in großer Zahl. Zum Teil wird der Arbeitsmarkt durch den Verfall der Landwirtschaft und den ununterbrochenen Zudrang in die Stadt versorgt. Aber die Bürger fühlen sich, auch wenn sie ihre Arbeit einem anderen verdingen, als freie Männer, die politisch ihrem Brotherrn gleichberechtigt sind; sie fordern hohen Lohn – während des Peloponnesischen Kriegs beträgt der durchschnittliche Arbeitslohn, dem der Sold für die Soldaten und die bürgerlichen Matrosen entspricht, 1 Drachme (90 Pfennig) für den Tag. Überdies sind sie wehrpflichtig; sie können jederzeit zum Dienst auf der Flotte eingezogen werden. Daher kommt es, daß unter den freien Arbeitern, den Steinmetzen, Zimmerleuten, Handwerkern, den in den Vasenfabriken als Maler oder Former beschäftigten Meistern, den Kunstarbeitern in Metall und Elfenbein, die Metöken und Freigelassenen bald zahlreicher werden als die Bürger. Ebenso sind die Matrosen der Handelsflotte – [517] später auch der Kriegsmarine – größtenteils angeworbene Fremde, namentlich aus dem Bundesgebiet, wo sich Leute genug fanden, die für billiges Geld, die Hälfte des den Bürgern gezahlten Lohns, als Ruderer ihr Brot zu verdienen bereit waren. Aber für die schwereren Arbeiten und vor allem für den eigentlichen Fabrikbetrieb braucht man billigere Arbeitskräfte, die dem Unternehmer uneingeschränkt und willenlos zur Verfügung stehen und für eine bestimmte Arbeit sich abrichten und voll ausnutzen lassen. Derartige Arbeitskräfte konnte nur die Kaufsklaverei bieten. Wie früher in Ionien, Korinth, Ägina, wächst jetzt auch in Athen die Sklavenschaft zu gewaltigen Dimensionen. Einen Teil des Bedürfnisses befriedigen die großen Kriege; noch weit mehr aber der Handel mit allen fremden Ländern, mit den kleinasiatischen und syrischen Kulturländern nicht minder als mit den Barbaren Skythiens, Thrakiens, Illyriens, wo überall Menschenmaterial für billigen Preis zu haben war. Das Kapital, es aufzukaufen und zu verwerten, war vorhanden: Athen wird nächst Chios, wo die Sklaverei seit alters gewaltige Dimensionen angenommen hatte592, der sklavenreichste Staat von Hellas.

Durch diese Entwicklung wird der bürgerlichen Bevölkerung fortwährend Arbeitsgelegenheit entzogen. Zwar haben zu alten Zeiten nicht nur freie, sondern selbst bürgerliche Arbeiter auch in den niedrigsten Beschäftigungen, als Lastträger, Gartenarbeiter u.a. ihr Brot verdient; aber in manchen Betrieben, vor allem in der Fabrik und im Bergwerk, gewinnt die Sklaverei die Alleinherrschaft so gut wie seit alters in der häuslichen Bedienung, und in vielen anderen macht sie der freien Arbeit die schwerste Konkurrenz. Auch der Staat hält Sklaven nicht nur als Diener der Beamten, sondern ebenso ein zuverlässiges Polizeikorps von 300 skythischen Schützen. Dazu greift der Kapitalismus immer weiter um sich und dringt auflockernd auch in die alten Berufe ein. Von den scheinbar selbständigen Handwerkern haben offenbar nicht wenige tatsächlich für größere Unternehmer gearbeitet. Die Krämer und Ladeninhaber, die für den täglichen Bedarf ihre Waren feilhalten, werden von den großen Fabrikanten und Kaufleuten [518] wirtschaftlich ebenso abhängig wie etwa die Geschirrführer und Bootsleute. Es wird sehr gewöhnlich, daß, wer ein kleines Kapital hat, ein Geschäft kauft, in dem er einen oder ein paar Sklaven für seine Rechnung arbeiten oder verkaufen läßt (vgl. Pol. Ath. 1, 11. Xen. Memorab. II 7). Vornehme Leute legen ihr Geld in kaufmännischen Betrieben und in der Reederei oder in Bergwerken an. So hat Nikias, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts der reichste Mann Athens, eine Grube in Laurion gepachtet, deren Bewirtschaftung er einem Thraker übergab; die 1000 Sklaven, die er bei diesem einstellte, brachten ihm täglich einen Gewinn von einem Obolen auf den Kopf, also jährlich 10 Talente (54400 Mark). Ähnlich hatten vorher Kallias und sein Sohn Hipponikos aus dem Daduchenhause ihren Reichtum erworben und machten es wie viele andere (Xen. vect. 4, 14f.). Auch der Grundbesitzer beginnt Sklaven in weit erheblicherem Umfang als früher zu verwerten; größere Wirtschaften werden oft ganz einem Verwalter, meist einem tüchtigen Sklaven, überlassen, der Grundherr wird zum Kapitalisten, der in der Stadt von seinen Renten lebt. Auch Aufkauf kleinerer Güter durch Kapitalisten, die Grundbesitz erwerben wollten, wird nicht selten gewesen sein. Durch diese ganze Entwicklung wird die Lage der Landbevölkerung noch weiter herabgedrückt. Wir dürfen uns durch die vielen kleinen Bauern der Komödie nicht irremachen lassen: ihre Existenz war erträglich und selbst behaglich nur durch die fortwährenden Zuschüsse, die sie für ihre politischen Funktionen erhielten; ohne dieselben wäre ihre Lage längst unhaltbar geworden.

Alle diese Momente führen dazu, daß sich inmitten des rasch wachsenden allgemeinen Wohlstandes und der steigenden Prosperität zahlreicher einzelner Individuen durch die Wirkungen des Kapitalismus eine an Zahl stets zunehmende Bevölkerung entwickelt, der ihr Erwerb verkümmert ist oder die überhaupt eine auskömmliche Beschäftigung nicht finden kann. Nur der rasch fortschreitende politische und wirtschaftliche Aufschwung des Staats ist die Ursache, daß diese verhängnisvolle Kehrseite der modernen Entwicklung so leicht übersehen wird. Ihre verheerenden Konsequenzen kamen nicht sofort zu voller Geltung; erst als die [519] Macht des Staats zusammenbrach, trat klar zutage, wie verwüstend zwei Menschenalter kapitalistischer Entwicklung gewirkt hatten. Zunächst aber blendet die wachsende Prosperität, das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte, welches wie bei jeder ähnlichen ökonomischen Umwälzung eine Fülle von Talenten freimacht und zu voller Entfaltung ihrer Leistungsfähigkeit anreizt. Aber die ständige Erweiterung der Absatzgebiete und die immer wachsenden Bedürfnisse des Staats haben doch nicht ausgereicht, die aus ihren alten Lebensbedingungen gerissene Bevölkerung zu absorbieren, die sich überdies, wie immer in Zeiten, wo die Hoffnung auf Gewinn lockt, stark vermehrte; nur durch das unmittelbare Eingreifen des Staats, die Koloniegründungen und Ackeranweisungen und die Subventionen, welche er direkt und indirekt der Bürgerschaft zukommen ließ, ist es möglich gewesen, der Masse der Bürger eine auskömmliche Existenz zu schaffen und die latente Krisis zu verschleiern, so daß sie sich nicht in blutigen Revolutionen entlud, wie in so vielen griechischen Gemeinden in der Tyrannenzeit und dann wieder im 4. und 3. Jahrhundert. Wohl murren die Massen, daß sie sich abmühen und im Krieg das Beste tun müssen und doch von dem Gewinn nicht genug für sie abfällt; instinktiv empfinden sie den tiefen, im Wesen des Kapitalismus begründeten Widerspruch, daß er von jedem Bürger verlangt, daß er arbeite, und Müßiggang und Bettel bestraft, aber das Äquivalent dazu nicht bietet, das »Recht auf Arbeit«, die Möglichkeit eines gesicherten Erwerbs. Aber sie wenden sich nicht gegen die bestehende Rechtsordnung und die neue Gestaltung der Wirtschaft, sondern suchen innerhalb derselben Hilfe beim Staat. Er hat seine Aufgabe damit noch nicht erfüllt, daß er die Massen emanzipiert, ihnen politische Rechte verliehen, ihnen den Weg zu materiellem Gedeihen eröffnet hat: er soll ihnen auch persönlich Anteil geben am Gewinn der Gesamtheit, ihnen die Möglichkeit schaffen, ihre Rechte auch wirklich auszuüben, und so die allgemeine Gleichheit zur Wahrheit machen. Wie der Krieger und der Matrose, soll auch der Beamte, der Ratsherr, der Richter für seine dem Staat geleistete Tätigkeit einen Sold, eine Entschädigung für die dadurch seinem Erwerb entzogene Zeit erhalten; und im übrigen soll der Staat[520] die materiellen Interessen der Massen nach Kräften berücksichtigen und fördern. Das sind Forderungen, für die die Kapitalisten unbedenklich eintreten können. Sie können die abhängigen Massen so wenig entbehren wie der Staat; wenn sie ihre Ansprüche befriedigen, behalten sie die Bewegung in der Hand und können um so sicherer ihre eigenen Interessen durchsetzen und die Politik des Staats nach ihren Wünschen lenken. Sind sie doch selbst durch das Prinzip der freien Bewegung groß geworden: indem sie es bis in seine letzten Konsequenzen verfolgen, werfen sie die Gegner vollends zu Boden und bahnen sich den Weg zur Übernahme des Regiments. So gehen trotz aller Gegensätze von arm und reich alle auf dem Boden des modernen großstädtischen Lebens, des Handels und der Industrie erwachsenen Elemente Hand in Hand und bilden politisch nur eine einzige fortschrittliche Partei mit radikaldemokratischem Programm.

Ihr gegenüber stehen alle diejenigen Elemente, deren Beruf in die ältere Gesellschaftsordnung hinaufragt. Auf dem Lande schwindet der alte Gegensatz zwischen dem Großgrundbesitzer und dem Bauern und Pächter. Zwar die Forderung einer indirekten staatlichen Unterstützung ist auch dem kleinen Landmann sehr willkommen und er ist bereit, für sie einzutreten; aber im übrigen empfindet er auf Schritt und Tritt, daß die Interessen der städtischen Bevölkerung andere sind als die seinen, daß er mit dem Großgrundbesitzer zusammengehen muß und wie dieser in dem Kapitalismus und der kapitalistischen Politik seinen gefährlichsten Gegner hat. Zu dieser agrarischen Partei gravitiert auch ein Teil der städtischen Bevölkerung, kleine Leute vom Zeugitenzensus etwa der Art wie später Sokrates, die ein Haus, ein Grundstück vor den Toren, ein kleines Kapital besitzen und mit dem zufrieden sind, was ihnen die alte Ordnung gewährt, während sie jede Neuerung mit Mißtrauen betrachten; vielleicht auch Handwerker und Krämer, die in der alten Weise ihr Geschäft fortbetreiben und sich durch die neuen Verkehrsformen in ihrer Existenz bedroht fühlen. Alle diese Kreise sehen ihr Ideal in der Vergangenheit; sie möchten die Ordnung festhalten, welche Solon und Kleisthenes begründet haben, sie sehen mit schweren Bedenken das Proletariat zu ausschlaggebender [521] Bedeutung in der Volksversammlung anwachsen und das Hoplitenheer, die eigentliche Wehrkraft eines gesunden Volks, aus seiner Stellung im Zentrum des Staatslebens verdrängen. Von einer Entschädigung für die Erfüllung der Bürgerpflichten wollen sie nichts wissen, und nun gar eine darüber hinausgehende Berücksichtigung der Massen und ihrer Begehrlichkeit erscheint ihnen als Rechtsbruch, als Willkürherrschaft und Anarchie. So klammern sie sich an alles, was der Durchführung der absoluten Volksherrschaft entgegensteht; wenn man die gesetzlichen Schranken nicht mehr verengen kann, sollen sie wenigstens nicht erweitert, der Anteil der Massen am politischen Leben nicht noch vermehrt, werden.

So geht der Riß, der die ganze griechische Welt und in ihr jede einzelne Bürgerschaft spaltet, auch durch das Volk von Athen. Auch hier stehen sich die konservative und die fortschrittliche Partei mit diametral entgegengesetzten Anschauungen und Forderungen gegenüber. Auch hier ist der Gegensatz durch die Lebensstellung des Einzelnen gegeben; aber er erscheint als freie Wahl, als Resultat einer richtigen Auffassung der Prinzipien des politischen und sozialen Lebens. Auch hier wirft jede Partei der anderen Befangenheit in verkehrten Anschauungen, Neuerungssucht oder verblendetes Festhalten an veralteten Ideen, vor allem aber schnöden Eigennutz vor, der sie wider besseres Wissen zu wilder Begehrlichkeit verführe. Das wahre Objekt des Kampfes ist die Herrschaft über den Staat. Den eigentlichen Kampfboden bildet daher der innerste Lebensnerv des Staates, die auswärtige Politik, sei es in der akuten Form von Krieg und Frieden, sei es in dem immerwährenden Ringen um die politische Richtung, die Beziehungen zu den fremden Mächten, die Mehrung des Einflusses, die Förderung der Handelspolitik. Die Schlagworte dagegen entlehnen beide Parteien der politischen Theorie, den Prinzipien der inneren Gestaltung des Staats. Hier vertritt jede Partei eine unerschütterliche Überzeugung, die ihr auf zwingender logischer Notwendigkeit zu beruhen scheint, während sie doch nur der Ausdruck ihrer vitalsten Interessen ist.

Wie im modernen Europa der Kampf der Parteien zunächst [522] um die Frage getobt hat, ob dem Monarchen oder der Majorität der Volksvertretung die Entscheidung zustehen soll, wie daher in England die Parteien sich nach der Frage scheiden, ob das legitime Herrscherhaus oder der vom Parlament eingesetzte König den Thron innehaben solle, so hat sich in Athen der Parteikampf auf die Frage nach der Stellung des Areopags zugespitzt593. Der Areopag war der Hemmschuh der fortschrittlichen Entwicklung; da er über der Aufrechterhaltung der Gesetze zu wachen hatte, konnte er jede Verfassungsänderung verhindern. So mußte er zunächst seiner politischen Macht entkleidet werden, wenn das demokratische Programm durchgeführt werden sollte. Was hatte es denn auch für eine innere Berechtigung, daß die Beschlüsse des souveränen Volks der Kontrolle einer Körperschaft reicher Männer unterlagen, die zwar das Herkommen ganz gut kannten und als Blutrichter tadellos funktionieren mochten, die aber politisch niemals das geringste bedeutet hatten, sondern beliebig durch das Los zusammengewürfelt waren? Gebe man doch dem Volk die Bahn frei; es weiß selbst am besten, was ihm und damit der Gesamtheit, dem Staat, nutzt. Nichts törichter als der Glaube, wer seine eigenen Angelegenheiten vernünftig besorgen kann, sei nicht imstande, über politische Fragen sich ein richtiges Urteil zu bilden oder wenigstens instinktiv das Richtige zu treffen. Und wozu wird denn in den Volksversammlungen debattiert, als um die Menge aufzuklären und die richtige Ansicht allen greifbar herauszuschälen? Daß der gemeine Mann seinen Geschäften nachgehen und sich um den Staat nicht kümmern solle, entspricht dem idealen Staatsbegriff so wenig, daß vielmehr wer so lebt als ein unbrauchbarer Mensch zu bezeichnen ist, der nicht verdient, Bürger zu sein. Besorgt man aber, daß, wenn die Furcht und die Kontrolle durch eine vom Volke unabhängige Körperschaft wegfällt, das Volk sich zu Ungerechtigkeiten [523] und Gesetzesverletzungen hinreißen läßt, so ist das ein ganz unberechtigtes Mißtrauen gegen den gesunden Sinn des Volks und die tief in seiner Brust wohnende Scheu vor dem Gesetz. Auch sind ja die Beamten und die Gerichte dazu da, über der Befolgung von Recht und Gesetz zu wachen, und das schönste aller Gesetze Solons, der eigentliche Grundpfeiler der bürgerlichen Gleichheit, gibt jedem Athener das Recht, sich des Mißhandelten, also auch der verletzten Gesetze, anzunehmen und für sie Klage zu erheben. Soll aber das Ideal der Demokratie, zu dem sich ganz Athen bekennt und durch das es alle Feinde besiegt hat, die rechtliche und soziale Gleichheit aller (ἰσονομία und ἰσηγορία)594, zur Wahrheit werden, so muß dem Ärmeren die Beteiligung an Ämtern und Gericht von Staats wegen ermöglicht werden; sonst bleibt trotz aller Verfassungsparagraphen die Regierung tatsächlich immer in den Händen der »Wenigen«, der Minorität der Besitzenden. Das ist nichts weniger als eine Bereicherung der Massen auf Kosten der Besitzenden oder der Untertanen: der Staat soll dem Ärmeren nur geben, was ihm als Bürger zukommt, der für das Vaterland sein Leben so gut in die Schanze schlagen muß wie der Reiche. Schon in älterer Zeit hat man dem gesamten Volk Anteil gegeben an den Opferschmäusen und den großen Festen und dadurch die höhere Bildung, ehemals ein Vorrecht der Adligen und Reichen, zum Gemeingut des gesamten freien Volks gemacht. Auf diesem Weg soll man fortfahren, die Feste vornehm und glänzend ausstatten, Turnhallen und Bäder der Masse zugänglich machen. Es ist nur billig, wenn diese an den Vorteilen, die aus der von ihr erkämpften Machtstellung Athens fließen, Anteil erhält, wenn die Reichen, die ihren Wohlstand den Erfolgen des Staats verdanken, und die abhängigen Gemeinden, denen Athen die Feinde abwehrt, dazu beisteuern. So wird dem gesamten Volk ein menschenwürdiges Dasein und eine homogene Bildung gewährt. Das wird jedem Bürger in seinem Beruf wie in seiner Tätigkeit für den Staat zugute kommen und damit die Leistungsfähigkeit des ganzen Staats heben. Dadurch wird wie im Geschäftsleben so auch in der [524] Politik an Stelle der vornehmen Geburt und des Cliquenwesens die Intelligenz freie Bahn und, was allein dem Staatswohl entspricht, der wirklich Einsichtige den entscheidenden Einfluß gewinnen, mag er reich oder arm, vornehm oder gering sein. Auf diese Weise werden alle Unterschiede der Stände aufgehoben und eine wirkliche Einheit des Volks geschaffen. Damit fällt auch der Vorwurf in sich zusammen, die radikale Demokratie sei eine Herrschaft der Masse, des Pöbels, über den Staat. Denn »in der Menge ist die Gesamtheit enthalten« (ἐν γὰρ τῷ πολλῷ ἔνι τὰ πάντα Herod. III 80, vgl. Thuk. II 37, 1). In Wahrheit ist die radikale Demokratie das Selbstregiment des gesamten freien Volks, und wenn die »Wenigen« das bestreiten und behaupten, vergewaltigt und unterdrückt zu werden, so sprechen sie, indem sie sich vom Volk ausschließen, sich selbst das Urteil595.

Durch die Erfolge der äußeren Politik ist die demokratische Partei emporgekommen. So fordert sie ein Fortschreiten auf der betretenen Bahn. Die Bundesgenossen soll man in voller Abhängigkeit halten, überseeische Besitzungen zu Landanweisungen an die ärmeren Bürger verteilen, den Machtbereich Athens erweitern, ihm neue Absatzgebiete erschließen. Daß eine derartige Politik notwendig zum hellenischen Krieg führen muß, kümmert sie wenig. Zur See können die Gegner Athen nichts anhaben; sollten sie einmal in Attika einfallen, so schadet das Handel und Industrie nicht viel, solange Athen und sein Hafen uneinnehmbar sind und die See offen haben. Bei der städtischen Bevölkerung ist der Krieg durchaus populär; er scheint wenig Gefahren zu bringen, wohl aber leichten Sieg und reiche Beute. Man fühlt sich des Sieges sicher, man glaubt sich allen Gegnern überlegen und imstande, ein [525] großes Reich über Hellas aufzurichten, ja womöglich die ganze Mittelmeerwelt Athen zu Füßen zu legen. Überall in der griechischen Aristokratie gibt es eine Partei, welche den Umsturz der bestehenden Verfassung erstrebt, in Athen den natürlichen Bundesgenossen sieht und nur darauf wartet, den attischen Demokraten die Hand zu bieten. Über die Grenzen der Einzelstaaten hinweg vollzieht sich die Allianz der großen Parteien, welche alle Gemeinden zerreißen; das Parteiinteresse macht dem Staatsinteresse energisch Konkurrenz. Es sind die Gedanken der Politik des Themistokles, welche die attische Demokratie in erweiterter Form wieder aufnimmt. Der Todfeind der Demokratie und des Aufschwungs Athens ist Sparta, der verknöcherte Staat, der von Unterdrückung und brutaler Gewalt lebt, nichts anderes kennt als Turnen und Exerzieren, jede freie Bewegung im Inneren wie draußen niedertritt, gegen alles Fremde und Moderne sich absperrt. Ohne allen Grund beansprucht es den Primat in Hellas; im Perserkrieg hat es Athen die Hauptleistung überlassen und dasselbe nur lau unterstützt, seitdem tritt es ihm überall hindernd in den Weg. Der natürliche Bundesgenosse der attischen Demokratie dagegen ist Argos, der alte Feind Spartas. Im Perserkrieg freilich stand es auf feindlicher Seite; aber es konnte nicht anders, weil es sich Spartas erwehren mußte, und der nationale Defekt wird durch seine demokratischen Institutionen mehr als aufgewogen. Überhaupt sind die Gegensätze der Perserzeit obsolet geworden: den Großkönig hat Athen so gründlich gedemütigt, daß von ihm keine Gefahren mehr drohen. So wird, was bei Themistokles das Resultat kühler politischer Erwägung war, jetzt Sache des Temperaments, der durch den Parteikampf leidenschaftlich erregten Stimmung.

In allen diesen Fragen, im Inneren wie nach außen, steht die konservative Partei auf dem entgegengesetzten Standpunkt. Sie will das Bestehende erhalten: durch die alten Einrichtungen ist Athen groß geworden, welcher Frevel wäre es, sie jetzt anzutasten. Daß eine Autorität im Staat vorhanden ist, welche nur der Gottheit und ihrem Gewissen verantwortlich über den Gesetzen wacht, erscheint ihr als gebieterische Notwendigkeit: wer [526] vermöchte sonst die blinden, ewig begehrlichen Massen im Zaum zu halten? Mit dem Bestand der Flotte hat man sich versöhnt; aber sie soll das Landheer nicht in den Hintergrund drängen, die Besitzenden, die Hopliten, sollen der Schwerpunkt Athens bleiben. Daß auch die ärmeren Bürger in Heer und Flotte dienen, ist ihre Pflicht gegen den Staat, der sie beschützt und ihnen unzählige Wohltaten erweist; daß sie Zutritt zu den Ämtern und Entschädigung dafür verlangen, ist eine unerhörte Anmaßung, die Besoldung der Ämter eine Umkehr jeder gesunden Staatsordnung. Die Besitzenden leisten dem Staat noch weit mehr; sie üben sich ihr Leben lang für den Krieg, sie setzen im Handgemenge ihr Leben ganz anders ein als die Ruderer, und überdies liegt auf ihnen der ganze Druck der Liturgien und der Vermögenssteuer. Mit Freuden erfüllen sie ihre Pflicht gegen den Staat, aber dafür haben sie auch Anspruch auf die leitende Stellung. Gerade hier tritt die wirtschaftliche Grundlage des Parteikampfes deutlich hervor: die Kapitalisten wollen die Massen und den Staat ebensogut beherrschen wie die Agrarier, aber sie treten für die Forderungen der Menge ein, weil die demokratische Gestaltung des Staats ihnen am meisten zugute kommt; der agrarischen Partei dagegen scheint es ein schweres Unrecht, eine Fütterung des Pöbels auf ihre Kosten, wenn seine Ansprüche erfüllt werden. Die allgemeine Gleichheit ist in ihren Augen eine Theorie, welche der Begehrlichkeit der Menge schmeichelt, aber die tatsächlich vorhandenen Unterschiede nicht aus der Welt schafft; es ist nicht wahr, daß jeder Bürger ohne weiteres befähigt ist, über politische Fragen mitzureden und am Regiment teilzunehmen. Wie kann der Handwerker oder gar der Matrose und Tagelöhner, der sein ganzes Leben in sklavischer Beschäftigung verbringt, über die Aufgaben des Staats und überhaupt über geistige und sittliche Dinge ein Urteil haben? Für jede andere Tätigkeit fordert man Befähigung und Vorbildung, jede Arbeit läßt man nur von dem ausführen, der sie gelernt und sich als geschult erwiesen hat; wie sollte es in der Politik anders sein? Daß sie das empfinden, zeigen ja die Massen selbst, sobald es sich um militärische Dinge handelt. Niemals ist jemand auf den Gedanken gekommen, auch die Offiziersstellen durch das Los zu [527] besetzen; sein Leben will jeder Bürger nur dem anvertrauen, der sich als tüchtig bewährt hat. So gebührt auch die politische Leitung nur denen, die durch freiere Lebensstellung und auskömmlichen Besitz, durch Geburt und Erziehung zu politischer Tätigkeit berufen sind, den »Besten« und »Tüchtigen«, die ihren Intellekt geschult, ihren Körper gestählt, ihre Leidenschaften durch Vernunft und Erfahrung gebändigt haben. Wollen die Massen selbst regieren, so entsteht die Pöbelherrschaft, die Umkehrung der natürlichen Ordnung, die Herrschaft der »Schlechten« und des »Gesindels« über die »Guten«. Nach wie vor ist die Landwirtschaft der wichtigste, einzig des wahren Bürgers würdige Beruf, auf dem die Lebenskraft des Staats beruht; ihre Interessen müssen daher allen anderen vorangehen. Wenn es sein muß, werden auch die Konservativen einen Kampf mit den kontinentalen Staaten nicht scheuen; dann wird sich zeigen, daß das Hoplitenheer noch immer den Kern der attischen Wehrmacht bildet. Die Böoter oder Megara und Ägina wird man ganz gern noch weiter demütigen, das Landgebiet Attikas erweitern; das haben die Vorfahren auch getan. Die Bundesgenossen soll man beschirmen, wie man verheißen hat, und darauf halten, daß sie ihre Leistungen an Athen erfüllen; aber man soll sie nicht drücken, vielmehr ihnen alle Freiheit lassen, die sich damit verträgt. Von einer radikalen Expansionspolitik wollen die Konservativen nichts wissen. Die eigentliche Aufgabe Athens ist nach wie vor der Krieg gegen Persien; noch ist die Zerstörung Athens, die Verbrennung seiner Tempel nicht gerächt, noch die Wiederkehr der Gefahr nicht ausgeschlossen. Ein Paktieren mit dem Landesfeind wäre der schwerste Schlag für die Ehre Athens. Deshalb soll man festhalten am hellenischen Bund und an der Freundschaft mit Sparta. Hat sie doch herrliche Früchte getragen; ist doch Sparta das Vorbild althellenischer Manneszucht und Bürgertugend gegenüber der in Athen immer stärker einreißenden Zuchtlosigkeit und Wankelmütigkeit. »Da sind die Spartaner doch ganz andere Leute« (ἀλλ᾽ οὐ Λακεδαιμόνιοί γε τοιοῦτοι, Stesimbrotos bei Plut. Cim. 16) hat Kimon den Athenern oft genug vorgehalten. Zugleich ist Sparta der Hort der konservativen Interessen; je kecker die Gegenpartei ihr Haupt erhebt, desto mehr [528] richten die Konservativen ihre Augen dorthin und hoffen im Bunde mit ihm ihre Herrschaft zu behaupten und zu stärken.

Unter den beiden Parteien waren die Anhänger des Alten numerisch vielleicht noch die stärkeren. Aber sie sind schlecht organisiert, sie wohnen weit durch das Land zerstreut und können sich vollständig nie, in großer Zahl nur bei besonders wichtigen Anlässen in der Volksversammlung zusammenfinden; überdies haben sie den Nachteil der Defensive. Die Fortschrittler dagegen haben ihren Anhang in der Hauptstadt beisammen; sie können geschlossen vorgehen. Sie haben den Vorteil des Angriffs und der Kritik. Sie bekämpfen das Bestehende, sie scharen alle Mißvergnügten und Unzufriedenen um sich und stellen ihnen eine Besserung ihrer Lage in Aussicht. Sie fühlen sich getragen von den Idealen der neuen Zeit, die sie der Verwirklichung entgegenführen wollen. So gewinnen sie die Herzen der Jugend, während die Alten mürrisch abseits stehen. In glänzenden Farben können sie ihr Programm ausmalen; die materiellen Interessen, die dahinter stehen, treten zurück, während die Gegner nicht nur als Verteidiger eines verlorenen Postens, sondern auch als herzlose, jeder höheren Auffassung bare Egoisten erscheinen. Und doch sind die Gegner den Demokraten in einem Punkte überlegen. So blendend die Idee der bürgerlichen Gleichheit erscheint, den Tatsachen entspricht sie nicht. Die Unterschiede der Stände sind nun einmal vorhanden und erzeugen sich immer aufs neue. Mag tatsächlich die Macht des Kapitalismus noch so bedeutend sein, gesellschaftlich hat er doch nicht dieselbe Geltung wie die alten Stände. Die Landwirtschaft gilt nun einmal zu allen Zeiten als der höchste Beruf, der Stand der Grundbesitzer als der erste. Ihm zunächst steht der Kaufmann; schon Hesiod hat trotz alles Sträubens neben dem Ackerbau den Handel als berechtigten Erwerb anerkennen müssen. Der reich gewordene Fabrikant dagegen kann auch in entwickelten Industriestaaten nur schwer das gleiche Ansehen gewinnen – ein so demokratisch gesinnter Schriftsteller wie Herodot bezeichnet es als Besonderheit von Korinth, daß hier die Fabrikanten nicht geringgeschätzt werden. Im allgemeinen gelten erst die Söhne der reichen Industriellen, wie z.B. Sophokles, als vollberechtigt. Das reine Geldgeschäft[529] vollends, so unentbehrlich es geworden ist und so wenig sich auch die vornehmen Stände ganz von ihm fernhalten können, gilt immer als anrüchig. Zinsen nimmt jeder; aber trotzdem ist er überzeugt, daß der Zins eigentlich nicht besser ist als Erpressung und Wucher, daß es widernatürlich ist, wenn das Geld sich vermehren soll wie Pflanzen und Tiere – wieviel ehrbare Geschäfte im letzten Grund von Darlehensgeschäften nicht verschieden sind, kommt nicht zum Bewußtsein. Es ist eine seltsame Befangenheit, wenn nicht wenige moderne Schriftsteller glauben, daß unsere Zeit anders darüber dächte. In einer Übergangsepoche, wo die neuen Verhältnisse sich erst durchsetzen wollen, in einem Staat, in dem jahrhundertelang ausschließlich der Adel das Regiment geführt hat, treten diese Anschauungen nur um so schärfer hervor; sie lassen sich nicht mit einem Schlag beseitigen wie ein Gesetz. Die Masse folgt wohl dem Rat eines Emporkömmlings, wenn sie meint, daß es ihr vorteilhaft ist; aber ihren Führer sieht sie nicht in ihm, und wenn er noch so begabt und scharfsichtig ist. So scheitert die Gleichheitstheorie in der Praxis an der gesellschaftlichen Ordnung und an dem Instinkt der Menge. Wer das Volk dauernd leiten will, muß über ihm stehen. Trotz alles Geredes von dem Eigennutz der vornehmen Herrn betrachtet das Volk sie ebensogut als die geborenen und berufenen Staatsmänner, wie sie sich selbst. Daher behält der Adel noch lange seinen Einfluß, auch als alle seine Vorrechte beseitigt sind. Versteht der vornehme Mann nur einigermaßen, den dringendsten Anforderungen der demokratischen Partei Rechnung zu tragen, so kommt er zu Ämtern und Ehren und gilt als unentbehrlich, auch wenn er ihr nicht angehört. Um so gewaltiger ist die Wirkung, wenn ein Mann aus vornehmem Hause von bedeutender politischer Begabung, mit klarem Einblick in die Aufgaben der Zeit, an die Spitze der demokratischen Partei tritt und seine Ziele mit den ihren identifiziert. Dann ist er der wahre Führer des Volks, gegen den jeder andere in den Schatten tritt; dann kann er eine Macht und einen Einfluß gewinnen, der weit über die Parteien hinausgreift, selbständig und übermächtig zwischen sie tritt und die Geschicke des Staats mit seiner Person unaufhörlich verbindet.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 510-530.
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