Kimon, Ephialtes und Perikles. Beginn der Parteikämpfe

[530] Seit dem Ostrakismos des Themistokles war Kimon der erste Mann Athens. Daß, als bei den Dionysien im Frühjahr 468 der junge Sophokles zum ersten Male als tragischer Dichter auftrat und den Wettkampf mit Äschylos wagte, der Archon Apsephion gegen alles Herkommen die Entscheidung dem Kimon und seinen Kollegen in der Strategie übertrug, ist bezeichnend für die Stellung, die er in der öffentlichen Meinung einnahm596. Auch im übrigen Griechenland gab es seit Pausanias' Tod keinen, der ihm gleichkam. Mit Sparta stand er in engster Verbindung, auch die Elier und Thessaler vertrat er in Athen als Proxenos; Lakedaimonios, Eleios und Thessalos hat er danach seine drei Söhne erster Ehe genannt597. Aber trotz aller Popularität des gefeierten Feldherrn konnte die innere Unhaltbarkeit seiner Stellung auf die Dauer nicht verborgen bleiben. Er war Aristokrat vom Scheitel bis zur Sohle, der geborene Vertreter der konservativen Partei. Sein ganzes Streben ging auf Wahrung der alten Ordnung und Sitte, der Herrschaft der Grundbesitzer unter Führung des Adels. Seine äußere Politik war durchaus idealistisch. Aufrechterhaltung des hellenischen Bundes und Zusammengehen mit Sparta, Fortführung des Perserkriegs und Mäßigung gegenüber den Bundesgenossen waren seine Ziele. Und doch hatte gerade er von allen Lebenden am meisten dazugetan, daß sein Programm unhaltbar wurde. Das Schwergewicht der Verhältnisse hatte eine bundesgenössische Gemeinde nach der anderen zum Aufstand getrieben, und er hatte sie unterwerfen müssen; seine Siege hatten den gewaltigen Aufschwung Athens herbeigeführt, sie waren in erster Linie der Flotte, dem Handel, der demokratischen Partei zugute gekommen; und vor allem, sie hatten die Fortdauer der Allianz mit Sparta und den Peloponnesiern unmöglich gemacht. Für Kimon war ein Paktieren mit den Gegnern ausgeschlossen; wollte die radikale Partei zum Ziele gelangen und die äußere Politik in die Bahnen lenken, welche die Umstände gebieterisch forderten, so mußte zunächst sein Einfluß [531] gebrochen werden. So verbindet sich mit dem Prinzipienkampf aufs neue der persönliche Kampf um die Stellung des leitenden Staatsmanns. An die Spitze der Opposition treten die Männer, welche in Kimon den Gegner ihrer Ansprüche sehen und selbst seine Stellung einzunehmen trachten.

Der Koalition zwischen Kimon und den Alkmeoniden war Themistokles erlegen; mit der Erreichung des Ziels fiel der unnatürliche Bund auseinander. Die Alkmeoniden hatten sich Kimons bedient, um den gefährlichsten Gegner zu Fall zu bringen; die Herrschaft erstrebten sie für sich selbst. So kam es, trotz der Verschwägerung, alsbald zum vollen Bruch. Inzwischen war dem Haus in Xanthippos' Sohn Perikles ein Führer herangewachsen, der befähigt war, seine Ansprüche durchzusetzen. Perikles fühlte sich als den Erben seines mütterlichen Großoheims Kleisthenes; die Stellung, die dieser eingenommen hatte, wollte er sich erringen. Als sein politischer Erzieher wird Damonides aus dem Demos Oa genannt; er habe ihm die Wege gezeigt, durch die er die Bedürfnisse des Volks befriedigen und so sich in den Besitz der Macht setzen könne. Damonides war zugleich musikalischer und politischer Theoretiker; in den Anfängen der griechischen Spekulation, wo man die Welt als Einheit zu erfassen suchte und überall Beziehungen und Analogien fand, ist eine Verbindung beider Theorien nichts Ungewöhnliches. Er stand nicht hoch genug, um selbst politisch wirksam zu sein; aber er hat die Ansprüche der Demokratie ausgebildet und systematisiert598. Perikles hat das demokratische Programm rückhaltlos akzeptiert [532] und mit voller Energie vertreten. Ob er aus persönlichen Motiven oder aus innerster Überzeugung sich der Demokratie angeschlossen hat, ist eine Frage, die in dieser Fassung überhaupt nicht gestellt werden darf. Jedem großen Staatsmann, der den Beruf und die Kraft zu wirken in sich fühlt, stehen auch die Wege klar vor Augen, die allein zum Ziele führen können; und eben daraus erwächst ihm die Überzeugung von der inneren Berechtigung seiner Gedanken und die Kraft zu heilsamer Wirksamkeit; sonst müßte er an sich verzweifeln. So lenkt Perikles ein in die Bahnen des Themistokles; er wird der Erbe und Vollender der Politik des Mannes, den sein Haus bekämpft und in den Tod getrieben, an dessen Verfolgung er als junger Mann wahrscheinlich selbst mitgearbeitet hat. Er verbindet sich mit den Resten der The mistokleischen Partei. An der Spitze derselben stand Ephialtes, der Sohn des Sophonides599. Unter allen großen attischen Staatsmännern ist er derjenige, von dem wir am wenigsten wissen, trotz der außerordentlichen Bedeutung seiner Wirksamkeit; sein Andenken[533] ist durch Perikles in den Hintergrund gedrängt worden. Er wird als ein unbestechlicher, persönlich unbescholtener Mann gerühmt. Aber er war, so scheint es, ein leidenschaftlicher Charakter, der mit Fanatismus die demokratischen Ideen verfocht und die Gegner bitter bekämpfte, was diese ihm mit blutigem Haß vergalten. Ephialtes war der ältere und schon lange politisch tätig; so fiel ihm zunächst die führende Rolle zu. Im Anschluß an ihn und als Hauptförderer seiner Politik suchte Perikles in die Höhe zu kommen. Zahlreiche Genossen und Gehilfen standen ihnen zur Seite, die zum Teil zeitweilig große Bedeutung gehabt haben mögen; aber mit wenig Ausnahmen sind selbst ihre Namen für uns verschollen.

Bald nach der Eurymedonschlacht wird der Kampf begonnen haben; die dreijährige Abwesenheit Kimons in dem thrakischthasischen Feldzug (465-463) gab seinen Gegnern die Bahn frei. Ephialtes begann mit persönlichen Angriffen gegen die Areopagiten, Prozessen und Hinrichtungen wegen Unterschleifs und Amtsmißbrauchs. Auch der Vorwurf, daß die vornehmen Herren im Rat gegen die Demokratie konspirierten, den eine Anekdote von Themistokles inszeniert werden läßt, hat gewiß nicht gefehlt. Daneben müssen die Anträge auf Verfassungsänderung, das Ringen in der Volksversammlung einhergegangen sein. Die Trübung des politischen Horizonts, die geheime Verbindung zwischen Sparta und Thasos konnte nicht verborgen bleiben. Als Kimon endlich sieggekrönt heimkehrte, fand er die Situation vollständig verändert; statt des Jubels der Massen erwartete ihn der Vorwurf, er habe sein Amt mißbraucht, die Forderung der Rechenschaftslegung. Die Volksversammlung stimmte den Beschuldigungen zu; wie es scheint, wurde Kimon vom Amte suspendiert. Zur Führung der Anklage wurden, dem attischen Recht entsprechend, Anwälte bestellt, unter ihnen Perikles. Man beschuldigte Kimon, er habe Athens Interessen preisgegeben, indem er, vom König Alexander bestochen, die Gelegenheit zur Bekriegung Makedoniens vorübergehen ließ. Aber man kam nicht zum Ziel. Elpinike verhandelte auch diesmal wieder mit Geschick, und wenigstens Perikles hatte nicht den Wunsch, die Sache zum äußersten zu treiben. Es kam hinzu, daß [534] der Vorwurf wenig geschickt und sachlich nicht zu begründen war – man sieht, daß die Gegner nach jedem Vorwand gegriffen hatten, der sich verwenden ließ. Vor allem aber war Kimons Ansehen noch zu tief gewurzelt, als daß man die Klage mit Erfolg hätte durchführen können. So hat Perikles sie nur lau vertreten; Kimon wurde freigesprochen und für das nächste Jahr aufs neue zum Strategen gewählt600. Er war noch immer der erste Feldherr und der leitende Staatsmann Athens.

Währenddessen hatten die Spartaner vergeblich versucht, der festen Stellung der Messenier auf dem Ithome Herr zu werden; in den Künsten regelrechter Belagerung waren sie ganz unbewandert. Daher wandten sie sich um Bundeshilfe wie an ihre übrigen Bundesgenossen so an Athen601. Die Athener hatten in letzter Zeit im Festungskrieg große Übung gewonnen; man durfte hoffen, mit ihrem Beistand die Bergfeste zu bezwingen. Durch das Hilfegesuch wurde der Streit der Parteien über die äußere Politik entfesselt. In der Tat schien es eine seltsame Zumutung, daß Athen den Staat, der soeben erst einen Einfall in Attika geplant hatte, aus seinen Nöten befreien solle. Man solle sich freuen, meinte Ephialtes, daß der anmaßende Rivale gedemütigt sei, aber ihm nicht aufhelfen. Dagegen trat Kimon mit aller Energie für die Hilfeleistung ein; das Gedeihen von Griechenland beruhe auf dem Zusammengehen der beiden Großmächte, die wie Stiere den Wagen von Hellas zögen; man dürfe nicht dulden, daß Hellas lahm werde und Athen allein am Joch ziehe602. Sein Einfluß war noch so groß, daß er seine Ansicht durchsetzte; mit starker Truppenmacht zog er im Sommer 462 den Spartanern zu Hilfe603.


Quelle:
Eduard Meyer: Geschichte des Altertums. Darmstadt 61965, Bd. 4/1, S. 530-535.
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